Augustin Souchy über Volins “Die unbekannte Revolution”

Wollin hat in den letzten Jahren seines Lebens ein Geschichtswerk über die russische Revolution geschrieben. Seine Schilderung stützt sich nicht nur auf Bücher und Zeitungen. Er hat selbst an den revolutionären Ereignissen, sowohl 1905 als auch 1917, teilgenommen und schöpfte aus der ersten Quelle. Wollin starb 1945 in Frankreich im Alter von 62 Jahren an Entkräftigung. Sein in französischer Sprache geschriebenes 890 Seiten umfassendes Werk wurde zwei Jahre nach seinem Tode von seinen Freunden in Paris herausgegeben. Zur Zeit wird eine englische, italienische und spanische Ausgabe seiner Revolutionsgeschichte vorbereitet. Das Werk sollte in allen Kultursprachen der Welt erscheinen, vor allem in russisch.

Die von unsern Zeitgenossen über die russische Revolution geschriebenen Bücher haben meist einen rein subjektiven Wert. Sie bringen die Meinung ihrer Verfasser zum Ausdruck, die kleinbürgerlich oder reaktionär, demokratisch, sozialistisch oder bolschewistisch ist. Jeder zeigt sich selbst und seine Partei in einem guten und seine Gegner in einem schlechten Lichte. Kerenski verurteilt den Bolschewismus, Trotzky bezichtigt Stalin der Perfidie, und der gegenwärtige Diktator Rußlands stellt seine ehemaligen Parteigenossen als Verräter an der Revolution hin. Die Sieger passen das Recht ihrer Macht an und die Besiegten werden verfolgt und verleumdet oder auch ignoriert, wenn sie keine Gefahr mehr für die herrschende Partei darstellen.

Kropotkin hat in seinem Werke über die französische Revolution die Bedeutung des Eingreifens der Massen für die revolutionären Ereignisse nachgewiesen. Wollins Verdienst ist es, in seinem Buche denselben Nachweis in Bezug auf die russische Revolution geführt zu haben. Daher kommt beiden Büchern eine besondere Bedeutung zu. Was Wollin an historischen Begebenheiten, authentischen Dokumenten, persönlichen Remiszenen, eigenen Erlebnissen, Hinweisen auf die inneren Ursachen von äußeren Ereignissen und theoretischen Auseinandersetzungen mit den verschiedenen Richtungen der revolutionären Bewegung bietet, ist eine außerordentlich wertvolle Bereicherung unserer Kenntnisse und füllt eine Lücke in der Literatur über den tatsächlichen Einfluß des Anarchismus in der russischen Revolution.

In Rußland ist die soziale Bewegung der Arbeiter und Bauern jünger als in den Westländern. Der Marxismus trat im Zarenreich erst zu Beginn unseres Jahrhunderts in Erscheinung, und der Anarchismus machte sich als organisierte Kraft erst während der Revolution geltend. Wollin weist darauf hin, daß weder Bakunin noch Kropotkin, die man oft als die Väter des russischen Anarchismus bezeichnet hat, als die Begründer der freiheitlichen Bewegung in Rußland angesehen werden können. Diese beiden großen Revolutionäre haben sich ihre antiautoritäre Auffassung im Ausland geformt und keiner von beiden hat in seinem Geburtslande direkten organisatorischen Einfluß ausgeübt. Bei Ausbruch der Revolution hat es in Rußland keine Gewerkschaftsbewegung gegeben. Die russischen Arbeiter hatten daher keine praktischen Organisationserfahrungen. Dieser Umstand hat dazu beigetragen, daß es den Bolschewisten verhältnismäßig leicht fiel, die revolutionären Kräfte des Volkes ihrer politischen Machteroberung dienstbar zu machen.

Von besonderem Interesse ist Wollins Darstellung über die Entstehung der Sowjets. Seine Schilderung darüber wirft Licht auf gewisse Zusammenhänge, über die in der gesamten einschlägigen Literatur größte Dunkelheit herrscht.

Wollin weist nach, daß die Sowjets nicht eine Schöpfung der Bolschewisten sind. Der erste Sowjet wurde im Januar 1905 in Wollins eigenem Studentenzimmer zu St. Petersburg gegründet. Um diese Zeit war die Bevölkerung der Hauptstadt des Zarenreichs revolutionär, doch nur wenige gehörten einer Partei an. Wollin selbst und die in seinem Zimmer versammelten Vertreter der Belegschaften zahlreicher Betriebe waren parteilos. Man war zusammengekommen, um zu beraten, wie man sich am besten gegen die Reaktion und den zaristischen Despotismus wehren könne. Man einigte sich darauf, einen permanenten Ausschuß zu gründen, dem die Vertreter der Arbeiter aller Betriebe angehören sollten. Das war der erste Sowjet. Zum Vorsitzenden wurde der parteilose Notariatsschreiber Krustaleff-Nossar gewählt. Ein halbes Jahr später wurde Nossar im Zusammenhang mit den Oktoberereignissen verhaftet. Inzwischen war es den Sozialdemokraten gelungen, ihre Parteigenossen in den Arbeiterrat zu schicken, und einer der ihren, Leo Trotzky, wurde Vorsitzender des Petersburger Sowjets.

Nach der Niederlage der revolutionären Erhebung von 1905 wurde der Petersburger Sowjet von der Zarenregierung verboten. Damit hatte die Sowjetbewegung ihr vorläufiges Ende gefunden. Erst während der Februarrevolution 1917 traten neue Sowjets ins Leben. Sie wurden in allen Orten spontan von den Arbeitern gegründet. Lenin erkannte bald die Wichtigkeit der Sowjets für die Befestigung der Herrschaft seiner Partei. Der Weg der Bolschewisten zur Macht führte über die Sowjets. Diese dienten ihnen als Steigbügel für die Besitzergreifung des Staates und Ausübung der Diktatur.

Nicht weniger aufschlußreich ist die Darstellung Wollins über die Entartung der Sowjets. Aus wahrhaften Arbeiterräten wurden sie unter dem Einfluß der Bolschewisten bald Werkzeuge zur Unterdrückung des arbeitenden Volkes. Diese Abwärtsbewegung setzte bereits 1917 ein. Wollin erinnert an die Diskussion über die von den Bolschewisten herausgegebene Parole: „Alle Macht den Sowjets!“ Ein Zitat aus „Golos Truda“ vom 20. Oktober 1917, dem Organ der Petersburger Anarchosyndikalisten, zeigt den Unterschied zwischen der bolschewistischen und der freiheitlichen Auffassung über die Sowjets:

„Wenn Macht bedeuten soll – schrieb „Golos Truda“ – daß die Organisation der schöpferischen Arbeit und jede organisatorische Tätigkeit im ganzen Lande in die Hände der sich auf die bewaffneten Massen stützenden Arbeiter- und Bauernorgane übergehen soll, die den wirtschaftlichen und sozialen Neuaufbau durchführen und die Revolution neuen Horizonten des Friedens, der wirtschaftlichen Gleichheit und Freiheit entgegenführen, dann kann diese Krise der Anfang einer neuen Ära sein. Wenn man aber unter der Parole ‚Alle Macht den Sowjets‛ die Errichtung einer politischen Zentralgewalt der Partei und des Staates versteht, die das gesamte wirtschaftliche und soziale Leben des Landes kontrolliert und leitet, dann können die Massen nicht zufriedengestellt werden, die russische Revolution wird eine neue und dritte Etappe durchmachen müssen und eine neue Auseinandersetzung zwischen den schöpferischen Kräften der Massen auf der einen und der vom zentralistischen Geiste inspirierten sozialdemokratischen (bzw. bolschewistischen) Partei auf der andern Seite wird unvermeidlich sein“.

Diese 1917 geschriebenen Worte waren prophetisch. Die Bolschewisten haben ihr Ziel erreicht. Die Sowjets wurden von der Partei erobert. In ihrem Namen wird das schändliche Terrorregime der kommunistischen Partei ausgeübt. Wollin charakterisiert die bolschewistische Staatsgewalt in anschaulicher Weise auf Seite 826 seines Buches:

„Die kommunistische Partei schuf einen gewaltigen bürokratischen Apparat. Sie bildete eine zahlreiche und mächtige Bürokratenkaste aus, die „Verantwortlichen“, die heute durch eine gehobene Privilegiertenschicht von zwei Millionen Menschen repräsentiert wird. Diese sind die wirklichen Herrscher über das ganze Land, die Armee und die Polizei. Sie sind es, die ihr Idol und ihrem Zaren Stalin, den einzigen Mann, der fähig ist, die ‚Ordnung‛ aufrechtzuerhalten, unterstützen, ihn schützen und ihm schmeicheln. Die Bolschewisten haben nach und nach alles verstaatlicht, monopolisiert und totalisiert: das gesamte Verwaltungswesen, die Arbeiter- und Bauernorganisationen, die Finanzen, das Verkehrswesen, die Gruben, den Außenhandel und den Großhandel des Inlands, die Großindustrie, die Landwirtschaft, die Kultur, das Unterrichtswesen, die Presse und Literatur, die Kunst, die Wissenschaft und den Sport, die Vergnügungen und alle Äußerungen des Geisteslebens.“

Die Auswirkungen dieses Systems hat Wollin klar vorausgesehen. Zu einer Zeit als Köster, Victor Serge, Sperber und viele andere noch mit den bolschewistischen Wölfen geheult haben und Romain Rolland die Existenz einer administrativen Justiz in der UdSSR geleugnet hatte, hat Wollin die Schandtaten des bolschewistischen Terrorregimes bereits schonungslos gebrandmarkt. Auf Seite 319 seines Buches schreibt er:

„Die Tscheka vollstreckt selbst die von ihr gefällten Urteile. Ist es ein Todesurteil, dann wird der Gefangene aus seiner Zelle geholt. Die Exekution erfolgt gewöhnlich in der Weise, daß man ihn mit einem Schuß in den Nacken niederstreckt, wenn er die letzten Stufen einer Treppe hinabsteigt, die in den Keller führt. Sein Leichnam wird in aller Heimlichkeit verscharrt. Die Verwandten erfahren davon meist nur auf indirekte Weise, in dem die Gefängnisverwaltung keine Lebensmittel mehr für den Gefangenen in Empfang nimmt. Der klassische Bescheid ist verblüffend einfach: ‚Der Name der Person befindet sich nicht mehr in den Listen des Gefängnisses.‛ Das kann die Überführung in ein anderes Gefängnis oder ins Exil bedeuten. Die Formel ist die gleiche, wenn es den Tod bedeutet. Man gibt keine weitere Auskunft. Die Verwandten müssen versuchen, sich auf andere Art Gewißheit zu verschaffen.“

Die Lektüre des Wollin’schen Buches bringt uns gewisse Dinge in Erinnerung, die wert sind, der Vergessenheit entrissen zu werden. Es gab eine Zeit, in der die Sowjetregierung noch einen gewissen Wert auf die Meinung der Arbeiterbewegung in den Westländern über das „Vaterland des Proletariats“ legte. Daher hatte sie die Verfolgung politischer Gegner abgeleugnet. Das Hilfskomitee für verfolgte Anarchisten und Anarchosyndikalisten in Sowjetrußland hatte die Zulassung einer freien und unabhängigen Untersuchungskommission aus dem Ausland gefordert, der das Recht zugestanden werden sollte, in den Gefängnissen, Konzentrationslagern und Exilen die Lage der aus politischen Gründen verfolgten Personen zu untersuchen. Gegenwärtig wird eine ähnliche Forderung von vielen Kreisen Frankreichs gestellt, die sich unter Führung des Schriftstellers Rousset die Abschaffung der Konzentrationslager in allen Ländern zum Ziel gesetzt haben. Vor zwanzig Jahren hat die Sowjetregierung sich dieser Forderung gegenüber taub gestellt. Heute, da sie eine viel stärkere Position in der Welt einnimmt, wird sie noch viel weniger geneigt sein, Auslandskommissionen die Möglichkeit zu geben, die Schande ihrer Konzentrationslager und ihrer administrativen Justiz zu enthüllen.

Der Titel des Wollin’schen Werkes ist „Die unbekannte Revolution“. Er hat es in drei in einem Bande erschienenen Bücher eingeteilt. Das erste Buch enthält eine Darstellung über die „Geburt, das Wachstum und den Triumph der Revolution“. Das zweite Buch ist eine Gegenüberstellung von „Bolschewismus und Anarchismus“. Der Autor zeigt, wie die kommunistische Partei im Namen der Revolution das russische Volk in Knechtschaft geschlagen hat. Nicht die konservativen und reaktionären Mächte organisierten die Konterrevolution: die ehemaligen Revolutionäre haben dieses traurige Werk selbst vollbracht.

Das dritte Buch beschreibt die Kämpfe des Volkes für die Ideale der wahren sozialen Revolution: die Erhebung von Kronstadt (März 1921) und die freiheitliche Bauernbewegung der Ukraine unter Machno. Beide Bewegungen waren von der anarchistischen Ideologie inspiriert. Sie setzten sich das Ziel, die bolschewistische Diktatur zu beseitigen und einer freiheitlichen Entwicklung den Weg zu ebnen. Beide Bewegungen wurden niedergeschlagen. Das durch Krieg und Revolutionskämpfe geschwächte russische Volk hatte nicht mehr die Kraft aufbringen können, die Revolution weiter zu treiben. Die revolutionäre Avantgarde war erschöpft. So kam es, daß die Revolution bei der bolschewistischen Parteiherrschaft stehen geblieben und seitdem nicht mehr weiter gekommen ist. Die kommunistische Partei hat die Revolution in Fesseln geschlagen. Sie hat den Weg zur Freiheit versperrt. Sie ist zu einem konservativen und stark reaktionären Faktor geworden, ungeachtet dessen, daß ihre Führer einstmals Revolutionäre gewesen sind.

Die russische Revolution verlief in zwei Etappen. Die erste war die Erhebung des ganzen Volkes gegen die Zarenherrschaft; die zweite die bolschewistische Machtergreifung. In der ersten finden wir alle revolutionären Kräfte des russischen Volkes vereint, in der zweiten nur noch die machthungrigen Terroristen. Ihr Schreckensregime hat sich bis auf den heutigen Tag an der Macht gehalten.

Wollin hat eine dritte Etappe in Auge gefaßt: die Beseitigung der bolschewistischen Gewaltherrschaft und die Schaffung freiheitlicher Bünde des werktätigen Volkes. Diese Etappe hat sich noch nicht vollzogen. Sie soll erst kommen. Es ist die Etappe der Zukunft, die „unbekannte Revolution“ in des Wortes doppelter Bedeutung. Ihr hat Wollin in einem Werke ein wertvolles Denkmal gesetzt.

Zum Buch

Aus: „Die freie Gesellschaft“ Nr. 12 (1950)

Originaltext: http://hoodbooks.wordpress.com/2013/11/15/historische-buchbesprechung-von-augustin-souchy-die-unbekannte-revolution-volin/


Creative Commons - Infos zu den hier veröffentlichten Texten / Diese Seite ausdrucken: Drucken



Email