Jean Grave - Dogmen des Anarchismus
Der Anarchist sollte sich nur dann eine Meinung über eine Frage bilden, wenn er dieselbe nach Möglichkeit von allen Seiten untersucht hat. Wenn man blos gedankenlos einige Formeln nachspricht, ohne die tatsächlichen Umstände in Betracht zu ziehen und jeden, der nicht auf diese Formeln schwört, als Unwissenden oder Verräter behandelt, trägt man nur zur Entstehung neuer Dogmen bei, welche in ihrer Art kaum weniger verderblich sind als die alten.
Bei Vielen springt dieser Hang zum Dogmatisieren aus dem an und für sich vorzüglichen Bestreben, alle ihre Handlungen mit ihrer Überzeugung konsequent in Einklang zu bringen. Es ist freilich selbstverständlich, daß, wenn man Anarchist ist, man versucht, als Anarchist zu leben, sonst bliebe der Anarchismus immer nur eine unausführbare Theorie. Wir können aber nicht allgemein gültige Regeln darüber aufstellen, was ein Anarchist tun darf oder nicht tun darf. Es handelt sich darum, wie weit ein jeder, seinen besonderen Lebensumständen und Naturanlagen gemäß, handeln kann. Wenn ein Anarchist ganz konsequent sein wollte, so dürfte er sich keinem Gesetze fügen, keine Steuern und keine Miete zahlen u.s.w., was doch vorläufig, solange die kapitalistische und staatliche Herrschaft noch in voller Macht besteht, für den einzelnen Menschen nicht durchführbar ist. Jener, der versuchen würde, so zu handeln, würde keine vierundzwanzig Stunden in Freiheit bleiben und wahrscheinlich nie aus dem Gefängnis herauskommen. Es wäre unsinnig, dies von irgend einem Menschen verlangen zu wollen. Das Verhalten eines jeden wird vor allem durch seinen Trieb zur Selbsterhaltung bestimmt (dieser Trieb tritt nur in den seltensten, ganz außergewöhnlichen Fällen in den Hintergrund) und im allgemeinen pflegen wir, was immer unsere Überzeugung sei, uns gewissen Gewalten zu fügen, wenn es zu gefährlich wäre, denselben den Gehorsam zu verweigern. Worauf wir hinarbeiten müssen, das ist, dass die Anarchisten durch die Massenverbreitung ihrer Ideen so stark werden, dass diese Gefahr für sie nicht mehr besteht.
Indem wir uns Rechenschaft geben, wie weit wir noch gezwungen sind, in der heutigen Gesellschaftsordnung Zugeständnisse zu machen, bereiten wir uns viel besser zur vollständigen Befreiung vor, als wie wenn wir versuchen, uns den Anschein von vollständiger Unnachgiebigkeit zu geben, welcher oft nur ein Deckmantel für größere, selbstsüchtigere Inkonsequenzen ist.
So gibt es z.B., Leute, die mit weiser Miene erklären, daß ein Anarchist seine Menschenwürde aufgibt, wenn er für einen Kapitalisten arbeitet. "Der einzige Gelderwerb, der eines Anarchisten würdig ist," — sagen sie — "ist der ungesetzliche Weg: Der Einbruchdiebstahl, die Falschmünzerei u.s.w. So greifen wir das Eigentum in seinen Grundlagen an und nehmen von unseren Ausbeutern zurück, was sie uns genommen haben!"
Aber diese Verächter der Gesellschaftsordnung vergessen, daß sie zum Gelingen ihrer Pläne mit jedem Schritt vor, während und nach Ausführung derselben, die Leute durch Lügen und falsche Vorspiegelungen irreführen und betrügen müssen, was keineswegs zur Veredelung ihres Charakters oder des allgemeinen Gesellschaftszustandes beiträgt. Um den Folgen ihrer Taten zu entgehen, müssen sie sich falsche Legitimationspapiere verschaffen und ihre ganze Gesetzlosigkeit besteht darin, soweit wie nur möglich einem vollkommenen "gesetzlichen" Staatsbürger ähnlich zu sehen. Endlich, da man nicht immer einen Bourgeois zum Ausplündern findet, "expropriiert" man, wo es eben am leichtesten geht — bei irgend einem armen Teufel, — man nimmt ihm die paar Kleidungsstücke, die er zum wechseln, oder die paar Geldstücke, die er sich für einen Notfall zusammengespart hat.
Und wenn es einem dieser angeblichen "Revolutionäre" auch glückt, einen Bourgeois auszurauben, haben sie damit keineswegs das Eigentum selbst angegriffen. Das Eigentum hat nur seinen Besitzer gewechselt, der allgemeine Wohlstand hat sich nicht im geringsten gebessert. Nach der sogenannten "Expropriation" lebt nun jener, der sie verübt hat, das Leben eines Schmarotzers, und er ist dabei oft ärger, als der "Expropriierte".
Neben diesen Dogmen haben wir, sie bestärkend, die Legenden von der anarchistischen "Expropriation". Legenden, wie jene über Duval, Pini und andere, die mit dem erbeuteten Geld angeblich die anarchistische Propaganda unterstützt haben.
Tatsächlich habe ich selbst zu jener Zeit — nicht so lange her — die Idee verteidigt, daß es ganz richtig und natürlich ist, dem Bourgeois etwas von seinem erpreßten Reichtum zurückzunehmen, um mit dem Gelde der sozialen Revolution, die wir als unmittelbar bevorstehend glaubten, unter die Arme zu greifen. Als dann der Genosse Duval von der Theorie zur Praxis überging und die ganze Sozialdemokratie über ihn und die Anarchisten herfiel, verteidigten die Kameraden, die seine Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit kannten, ihn und auch seine Tat. Duval wurde beinahe sofort verhaftet, das Ergebnis seiner Expropriation kam der Propaganda in keiner Weise zu Gute, er aber nahm mutig die Konsequenzen seiner Handlungen auf sich selbst und verteidigte sich gegen die Polizisten, die ihn verhafteten.
Später kam der Fall Pini's; bei diesem beliefen sich die "expropriierten" Summen auf mehrere hunderttausend Francs; angeblich hatte er zu einer ganzen Menge von Propagandaarbeiten beigetragen. Schon damals hatte ich einige Zweifel über den Wert seiner Tat, doch seine mutige Haltung und die Legenden über ihn bewogen mich, ihn in der "Revolte" verteidigen zu lassen. Seitdem habe ich mich aber überzeugt, daß die ganze Propagandaarbeit, zu der Pini angeblich beigetragen, in zwei oder drei geheimen Plakaten bestand, deren Hauptzweck es war, auf jene, die nicht seiner Meinung waren, zu schimpfen. Ich glaube, daß er in gutem Glauben gehandelt hat, doch war er mit anderen verbündet, für die die "Expropriation" nur ein Mittel zum persönlichen Genuss war, und es wäre für die Propaganda viel besser gewesen, wenn er seine Kräfte in anderer Art betätigt hätte.
Und seitdem habe ich mich immer mehr davon überzeugt, daß diese Theorie der "Expropriation" meistens nur jenen als Deckmantel dient, die andere dazu treiben, aber sich selbst hüten, ihre Theorie in Praxis umzusetzen. Und was jene betrifft, die ohne jede Theorie von Diebstahl und Raub leben und die Früchte dieser Operationen genießen, damit fügen sie dem Privateigentum keinen Schaden zu. Das ist nur eine schmarotzerische Anpassung an die bestehende Gesellschaftsordnung, ein einfacher Besitzwechsel des Kapitals.
Das Unrecht von all dem ist nicht so sehr das Bestreben jener, die aus der Gesellschaft das größte Maß von persönlichem Genuß ziehen möchten, welche ihnen dieselbe bieten kann. Das Leben ist kurz, und es ist schließlich begreiflich, daß gewisse Naturen mit dem Genießen des Lebens nicht warten können, oder besser gesagt, wollen, bis sich die große Masse befreit hat. Ob das richtig ist, darüber kann man diskutieren; jedenfalls ist das die persönliche Sache eines jeden.
Was wir aber bekämpfen müssen, das ist, daß diese Menschen ihre persönliche Ansicht und Naturanlage als allgemein gültige Regeln und Dogmen des Anarchismus aufstellen und als einzige Wahrheit dieser Lehre verkünden. Wir müssen uns klar sein, daß die gesellschaftliche Befreiung durch solche Taten nicht im geringsten gefördert wird, denn ein jeder, der am gedeckten Tisch der Gesellschaftsordnung Platz nimmt, kann dies nur auf Kosten anderer tun; er ist ein Schmarotzer und muss als solcher handeln. Sein eigenes Lebensglück durch das Erkämpfen des Wohlstandes und der Freiheit für Alle zu verwirklichen, ist ganz etwas anderes — das ist Kampf und Lebensideal des Anarchisten.
Soll damit gesagt werden, daß der Anarchist sich in dieser Gesellschaftsordnung den Verpflichtungen, die ihm dieselbe auferlegt, unbedingt unterwerfen muss? Keineswegs. An den Versuchen, die ein jeder macht, sich diesem Drucke zu entziehen, wird man Tiefe und Kraft seiner Überzeugung erkennen können.
Nur glaube ich nicht, daß sich unveränderliche Regeln aufstellen lassen, daß sich dieser Widerstand nur an gewissen festgesetzten Punkten vollziehen soll. Die Umstände, die Gefühle sind bei verschiedenen Menschen nicht dieselben. Dieselbe Handlung kann bei einem eine Heldentat, beim anderen eine bloße Selbstsucht sein, denn vielleicht hat sie für den ersteren nur unangenehme Folgen, während sie dem zweiten gar nichts schadet — um nicht mehr zu sagen.
Ein jedes Mal, wo es ihm möglich ist, soll sich der Anarchist den Verpflichtungen, die ihm der Staat auferlegt, entziehen; aber wir können es keinem als Verbrechen anrechnen, wenn er sich dieser oder jener Knechtschaft beugt, dieweil wir selbst ein anderes Mal gezwungen sind, uns dieser oder einer anderen Knechtschaft zu beugen.
Der Anarchist muss nicht nur in seinen Beziehungen zum Staate anders handeln als andere, sondern auch in seinen täglichen Beziehungen zu allen übrigen Menschen. Aber dieses Verhalten muss ein Ergebnis des inneren Zustandes des Menschen sein und nicht eine Folge von äußerlichen Dogmen. Der Mensch muss sich selber seinen Weg vorzeichnen, nicht sich denselben vorzeichnen lassen.
Aus: "Wohlstand für Alle", 2. Jahrgang, Nr. 18 (1909). Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ae zu ä, That zu Tat usw.) von www.anarchismus.at.