Manifest und Organisationsentwurf der ungarländischen Anarchisten

An die Bewohner Ungarns!
Menschen, Brüder!
Arbeiter, Freunde!

An jene richten wir untere Worte, die Herz und Hirn haben, die fühlen und sehen das Elend, die Ungerechtigkeit, unter welcher die Mehrheit unseres Volkes leidet; an jene richten wir unsere Worte, die denkend den Weg suchen, der herausführt aus der Welt des Entlehens und der Schande.

Die höllischen Einrichtungen der bestehenden Gefellschaft find die Folgen einer unmenschlichen und wahnsinnigen Herrschaft; auf einer Seite des Lebensweges häufen sich unermeßliche Reichtümer, auf der anderen Seite hungern tatenlos die Massen oder seufzen im Sklavenjoch der harten Arbeit. Auf jener Seite Herrschaft, Glanz, Pomp, Verschwendung bis zum Wahnsinn, auf dieser Sklaverei, Elend, Leiden bis zum Hungertod. Zwei gegensätzliche, zwei feindliche Lager; bewaffnet, zum Kampf bereit — eine blutige, alles vernichtende Verzweiflungsrevolution zeigt ihre grinsende Fratze!

Das bedenket, ihr Menschen. — Wer denken kann und will, wer Anhänger des Friedens und der Kultur, wer Mitgefühl besitzt für seine Menschengenossen, der — komme zu uns. Bei uns ist Wahrheit, Gerechtigkeit, bei uns ist das Leben. Die Befreiung der großen Masse bedeutet Fortschritt, Entwicklung, bedeutet gesellschaftliche Neugeburt, bedeutet Friede.

Der einzige Weg, der aus dem gesellschaftlichen Elend herausführt, der herausführt aus dem wirtschaftlichen Joch, ist die Befreiung des Proletariats. Hinein leuchten wollen wir, mit der leuchtenden Fackel der Wissenschaft, in die Finsternis der zentralisierten Herrschaft, des Dogmas, der Autorität und aufnehmen mit diesen den Kampf. Die Grundquelle aller gesellschaftlichen Übel ist die Herrschaft, die mit den Dogmen der Kirche und mit den Gesetzen der zentralisierten Macht sich ewiges Leben sichern will. Die Autorität ist es, die die sklavische Unterwerfung unter das Gesetz sichert, die Zentralisation hingegen sichert die Durchführung des Gesetzes. Diese Kräfte sind die Ursache, sind die Erhalter des Elends der Menschen. Wer mit uns eintreten will für den Fortschritt der Kultur, der muß den Frieden, den Fortschritt, die Entwicklung lieben, der muß aber auch kämpfen gegen das Massenelend, der muß aus ganzer Kraft wollen, daß die Ursachen des Elends zerstört werden, der muß wollen die Befreiung des Proletariats, den Kampf gegen Herrschaft, Dogma, Autorität und Zentralisation. Diesen Kampf beginnen heißt soviel, als das Verkünden der Herrschaftslosigkeit, heißt entfalten die Fahne der Anarchie!

Was ist Anarchie? Anarchie ist Weltanschauung, ist eine freie Gesellschaftsform, ist ein gerechtes Wirtschaftssystem. Anarchie umfaßt alles Schöne, Gute, Beglückende. Als Weltanschauung ruht die Anarchie auf der Naturwissenschaft. Ihre Lehre baut sich auf zwei mächtigen Säulen der physischen und biologischen Wissenschaft: Karl Darwin und Peter Kropotkin. Ersterer stellt den "Kampf ums Dasein" fest, letzterer ergänzte dieses Naturgesetz durch jenes der "gegenseitigen Hilfe" — beide liefern uns die wissenschaftliche Grundlage des Anarchismus. Wir Menschen müssen kämpfen, aber nicht gegeneinander, sondern für einander, die Natur und ihre Kräfte in den Dienst der Menschen zwingen; nur die siegen im Kampfe, die sich gegenseitig Hilfe bieten. Alle sind wir Kinder der Natur, sind Teile des Natürlich-Ganzen. Gleichmäßig pflegt oder trifft uns Natur, davor schützt weder Gott noch Wunder, nur eines hilft hier: Naturerkenntnis und "gegenseitige Hilfe". Ob König oder Landstreicher, wir sind gleich. In gleicher Weise erblicken wir die Sonne, alle müssen wir uns nähren, alle leiden wir im Schmerz, alle erfreut das Gute, alle frieren wir in der Kälte, alle müssen wir sterben. Der Papst so wie der Bettler, zu Staub und Afsche werden wir alle. So gibt uns die Natur den Begriff der Gleichheit. Die Gleichheit der Menschen ist das erste Gesetz der Natur. Gleichheit ist nur dort möglich, wo keine Herrschaft. Herr und Diener sind nicht gleich; der Herr befiehlt, der Diener gehorcht. Der Herr gibt dem Diener ein Stück von dem Brot, das dieser im Schweisse seines Angesichtes dem Boden abgerungen. Dieses Verhältnis ist nicht nur unmenschlich, es ist unnatürlich, und darum stellen wir fest als erste Forderung der Anarchie: Wirtschaftliche Gleichheit.

Die Anarchie ist eine Gesellschaftsform, in welcher die Menschen frei, ohne Zwang, auf Grundlage freier Vereinigung leben. Weder Gefetze, noch auf Autorität beruhende Machtinstitutionen beschränken das Glück des Menschen, dessen erste Bedingung die Freiheit. Kurz, unbeschhränkte individuelle Freiheit ist die Grundlage der anarchistischen Gesellschaft. Die gesellschaftlichen Bedürfnisse werden auf Grundlage der "gegenseitiger Hilfe" beschafft. Ob Bedürfnisse der Kunst, der Wissenschaft, der Produktions-Arbeit, der Kultur und all das, was Menschen bedürfen, findet seine Befriedigung auf Grundlage der "gegenseitigen Hilfe". Alle haben gleiche Rechte, die sie frei in Anspruch nehmen können, frei lebend im brüderlichen Verbande.

In der Anarchie haben alle Menschen gleiches Recht zum Gebrauch und Genug all dessen, was die Natur an Gütern gibt; reichlich das Reichliche genießend; brüderlich teilend, was knapp zur Verfügung steht; frei produzierend, frei konsumierend. In freien Gruppen oder in Gemeinden oder individuell lebt jeder je nach Bedürfnis und Neigung. Dieser der Wissenschaft, jener der Kunst. Jeder wechselt frei, nach Belieben, wie es eine natürliche Lebensweife verlangt, seine Beschäftigung. Auf diese Weise wird in einer anarchistischen Gefellschaft sich all das entwickeln, was schön, gut und beglückend ist. Den Bestand einer solchen Gesellschaft garantiert ihr Wirtschaftssystem. Friede wohnt bei allen Menschen, Glück und Segen entsprießt allen Wegen.

Ob dies alles möglich? Blicken wir in uns, erkennen wir uns selbst und wollen wir. Aber dieses Wollen darf nicht nur Gedanke bleiben, nicht nur als Wort in Erscheinung treten, es muß zur Tat werden.

Wie tritt die anarchistische Gesellschaft in die Erscheinung? Durch Kampf gegen die Institution des bestehenden unmenschlichen und wahnwitzigen Systems! Unsere Waffen? Der Boykott auf allen Gebieten des Staates und Kapitalismus, so weit nur immer möglich! Nicht in Anspruch nehmen! Meiden! Nichts beitragen zu dieser bestehenden Gesellschaft! Was nicht in Anspruch genommen, gemieden, wozu nichts beigetragen wird, das wird geschwächt, geht zurück, stirbt ab. Durch unsere eigene Kraft beliehen alle schädlichen Institutionen.

Auf wirtschaftlichem Gebiet ist die passive Resistenz in allen Formen unsere Waffe — lässige, schlechte Arbeit schwächt des Feindes Kraft, schädigt seine Unternehmungen. Hier zeigt sich hauptsächlich der Arbeiter mächtige Kraft. Jeder Betrieb, jede Fabrik, Bergwerk, Kommunikation, Brot, Wasser, Beleuchtung, das ganze wirtschaftliche Leben der Gesellschaft hält er in seiner Hand. Zum Schluß der Streik, die gruppenweise oder fachweise Verweigerung der Arbeit, dies in immer steigendem Maße, bis der Generalstreik das verrückte heutige System vollends in eine Sackgasse treibt und triumphierend aufgepflanzt wird die Fahne der Anarchie.

All dies muß vorbereitet werden durch Verbreitung der Wissenschaft, durch Erziehung und Aufklärung der Massen; an selbstbewußtes Handeln muß die Arbeiterschaft gewöhnt werden. Eine große, schöne, erhabene Aufgabe — sie zu lösen, dazu rufen wir euch. Damit wir mit Erfolg vorschreiten können, ist es nötig, daß wir mit vereinten Kräften vorwärts marschieren. Wir müssen uns organisieren. Jeder Tag des Jahres sei benützt; sammeln wir die Freunde der Freiheit! Zu heller Flamme lodre die unter der Asche glühende Glut! Spornen wir die Schwachen mit stolzem, vertrauenden Glauben, beleben wir die Zögernden, wo die Freiheit noch keine Heimstätte hat, dort sei eine aufgebaut. Organisieren wir das Heerlager der Freiheit, der Anarchie.

Die Anarchie ist es einzig und allein, die die Befreiung des Proletariats und den Kulturfortschritt garantiert. Wenn es wahr ist, daß aller Weisheit Anfang die Liebe ist, so ist wahrer, daß der Freiheit Anfang der Haß gegen jede Herrschaft ist. Aus diesem Haß erblüht für uns der edle Kampf. Damit wir dessen Sieg so bald als möglich erkämpfen, empfehlen wir unseren Genossen folgenden Organisationsmodus:

  1. Die Grundlage der Organisation bilden die im ganzen Lande sich bildenden Bruderkommunen, deren Mitglied jeder sein kann, der die im Manifest entwickelten Anschauungen annimmt und die Kommune ständig geistig und materiell unterstützt. Zur Gründung genügen 7 Personen.
  2. Neue Mitglieder finden Aufnahme auf Grund von Empfehlung zweier Brüder.
  3. Nach der Gründung beauftragt die Kommune 3 Brüder mit folgenden Agenden: Einer besorgt die schriftlichen Arbeiten, einer verwaltet die Einnahmen, einer sorgt für Vorlesungen, für Diskussionen, die er leitet und trachtet, daß das Gefühl der Brüderlichkeit in der Kommune Wurzel sagt. Jeder trägt so viel bei, als er will oder kann. Die Beiträge trägt der Geber eigenhändig ein. Kontrolle ist nicht nur Recht, fondern Pflicht.
  4. Jede Brudergemeinde teilt ihre Gründung jener Brudergemeinde mit, die in der nächsten Kreisstadt ihren Sitz hat; diese teilt die Adressen der Kommunen der Gemeinde der nächsten Bezirksstadt mit — diese jener mit, die in der Hauptstadt sich befindet. Doch ist jede Gruppe unabhängig und frei. Die Kreisgruppen halten monatlich, jene der Bezirke halbjährlich, die des ganzen Landes alljährlich eine gemeinsame Konferenz ab. - Einzelne schließen sich der nächstbefindlichen Gruppe an. Diese Art der Organisation vermeidet die Zentralisation, verhütet, daß die Gruppe der Hauptstadt mit Arbeiten überbürdet werde.
  5. In den Beratungskreis der Landeskonferenz gehört die Presse, die Herausgabe von Drucksachen, sowie die Bestimmung jener Person, die das Land auf dem internationalen Kongreß vertritt.
  6. Die Hälfte ihrer Einnahme sendet jede Kommune zur Sicherung der Presse an jene Kommune, die das Blatt erscheinen läßt. Jede Gruppe erhält zwei Freiexemplare und genügend alte Nummern behufs Agitation.
  7. Die in der Organisation Beschäftigten können in keinem Falle für ihre Tätigkeit Bezahlung beanspruchen. Das Blatt ist verpflichtet, in jeder Nummer Einnahme und Ausgaben anzuführen. Von den gesandten Beträgen dürfen nur die Ausgaben des Blattes bestritten werden. Über Verwendung eines eventuellen Überschusses entscheidet die Landeskonferenz.
  8. Schließlich ist das Ziel der gesamten Kommunen die Befreiung des Proletariats aus der kulturfeindlichen Umklammerung der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung. Jede Kommune, jedes ihrer Mitglieder ist frei, unabhängig und handelt nach eigener Überzeugung.


Menschen! Brüder! An die Arbeit!

Mit Brudergruß Für die Preßkommission der "Sozialen Revolution": K. K.

Aus: "Wohlstand für Alle", 2. Jahrgang, Nr. 20 (1909). Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ae zu ä, That zu Tat usw.) von www.anarchismus.at.


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