Der Ausschluß der herrschaftslosen Sozialisten aus dem Arbeiterrat
Ohne vorherige Verständigung und in Abwesenheit von mindestens dreien der Betreffenden, hat der Arbeiterrat des ersten Bezirkes Wiens den Beschluß gefaßt, die herrschaftslosen Sozialisten auszuschließen und ihnen ihr Mandat als Arbeiterräte abzuerkennen. Schon das Verfahren, die Art und Weise, wie dies bewerkstelligt wurde, ist so charakteristisch für die Verüber dieses reaktionären Streiches, daß es eine genügend klare Schlußfolgerung auf die ihm zugrunde liegenden Motive zuläßt.
Es war unverkennbar, daß besonders der Einfluß des Kameraden Ramus (Großmann) im Arbeiterrat des ersten Bezirkes im Wachsen begriffen war — zum großen Mißvergnügen der führenden Sozialdemokraten und "Kommunisten". Zumal durch Seine im März gehaltene Rede (vgl. "E.u.B." Nr. 21) hatte er sich bei den führenden Elementen sehr mißliebig gemacht, wozu auch die Zustimmung, die er geerntet hatte, das ihrige beitrug; dazu kam noch seine Rede vor dem Burgtheater (vgl. "E.u.B," Nr. 25) und die allgemeine Unsicherheit, ob es ihm nicht gelingen würde, für die Reichskonferenz der Arbeiterräte ein Mandat zu bekommen. Um dem vorzubeugen, wurde von langer Hand ein Plan ausgearbeitet, dessen Ausführung knapp vor der Reichskonferenz zu erfolgen hatte, um jede Möglichkeit der Erwählung oder Kooptierung von Ramus auszuschließen.
Schon vor Monaten (vgl. "E.u.B." Nr. 15) war, K. F. Kocmata, obwohl er im Arbeiterrat keineswegs eine hervorstechende Rolle spielte, von uns unbekannter Seite für den Kreisarbeiterrat nominiert worden. Seine Erwählung konnte sich nur durch die Unterstützung der "Kommunisten" vollziehen. Im Kreisarbeiterrat wurde sein Mandat — das des Kam. Ramus wurde im Vorjahre, anläßlich der ersten Reichsarbeiterkonferenz, durch beide Parteien einmütig angefochten — von den Sozialdemokraten nicht anerkannt, weil sie in ihm eine indirekte Stimmenvermehrung der "Kommunisten" erblickten, wie ja auch die letzteren für die Anerkennung des Mandates eintraten. Schließlich obsiegte ein Antrag des "Kommunisten" Koritschoner, wonach Kocmata, resp. die herrschaftslosen Sozialisten, eine schriftliche Erklärung darüber abgeben sollten, dahinlautend, ob und daß sie den proletarischen Klassenkampf anerkennen. Diese Erklärung ist in obiger Nummer unseres Blattes erschienen und auch schriftlich dem Kreisarberterrat zugestellt worden.
Es ist aber klar, daß es, sich nicht um diese prnizipielle Erklärung gehandelt hat, sondern um die p1anmäßig herbeigeführte Überrumpelung und Ausschaltung der herrschaftslosen Sozialisten aus dem Arbeiterrat überhaupt. Denn Kocmatas Mandatsstreit — eine rein individuelle Sache, da er nie vom Bund herrschaftsloser Sozialisten für ein Mandat in den Kreisarbeiterrat nominiert worden ist — sollte nur die Handhabe bieten, sowohl gegen alle anderen, "zufälligerweise" gleich ihm im ersten Bezirk als Arbeiterräte fungierenden Kameraden vorzugehen, wie schließlich, aber nicht zu allerletzt, um gegen Ramus vorgehen zu können, der hier in einen Topf geworfen wird mit Kocmata, welch ersteren zu treffen es aber eigentlich gegolten hat.
Logischerweise hätte die Nichtanerkennung des Kocmataschen Kreisarbeiterratmandates keinerlei Rückwirkung auf ein Bezirksarbeiterratsmandat auszuüben, da die Wähler für den Bezirksarbeiterrat wohl selbst das Recht haben müssen, zu entscheiden, wen als Bezirksarbeiterrat zu wählen. Allein weder Logik noch Recht durfte dort eine Rolle spielen, wo, wie gezeigt, die Gelegenheit sich darbot, Ramus als lästigen Quälgeist, der in fast jeder Satzung des Arbeiterrates das Wort ergriff — und nicht zur Erhebung der Parteigrößen beider Nuancen — loszuwerden. Ob Kocmata gewußt hat, welches Wasser er ihnen für ihre Mühlen lieferte wissen wir nicht; genüge sein mit Hilfe der "Kommunisten" geltend gemachter Anspruch auf ein Kreisarbeiterratsmandat — obwohl jedem von vornherein klar sein mußte, daß dieser Anspruch nicht gegen die Sozialdemokratie durchgesetzt werden konnte, da sie die Majorität im Kreisarbeiterrat besitzt — hat die nun folgenden Ereignisse ausgelöst.
Auf diesbezügliche Beschwerdeführung hin hat der Bezirksarbeiterrat der Inneren Stadt Wiens den Beschluß gefaßt, sämtliche herrschaftslosen Sozialisten auszuschließen, mit der komischen Begründung, daß, wenn Kocmata im Kreisarbeiterrat nicht als Klassenkämpfer angesehen würde, sie alle auch im Bezirksarbeiterrat weder Sitz noch Stimme haben dürfen! Damit sind diejenigen Arbeitergruppen, die herrschaftslose Sozialisten als Arbeiterräte erwählen wollen, ihres Wahlrechtes und ihrer freien Selbstbestimmung beraubt! Andererseits ist klar zutage liegend, daß es sich in dem Vorgehen des Bezirksarbeiterrates um einen nackten Akt der Gewalt und Parteiwillkür handelt, denn der Bezirksarbeiterrat hätte nur dann das Recht, Herrschaftslose als Nichtklassenkämpfer zu erklären, wenn sie durch Wort, Schrift oder Handlung irgendeines gegen die Solidarität des proletarischen Klassenkampfes verstoßenden Aktes angeklagt und überfuhrt worden wären. Dies ist nicht geschehen, wie ja überhaupt dieses ganze flunkernde Hervorkehren des Klassenkampfprinzips bei den im Reichs-Kreis- und Bezirksarbeiterrat vertretenen Koalitionsregierungsgrößen, diversen Staatssekretären, den Vertretern der Polizei usw. nur eine erbärmliche Komödie ist, die bloß durch dunkle Machinationen und in Abwesenheit von insbesondere Ramus gegen diesen aufgeführt werden konnte.
Denn so wurde es gemacht. Am 20. Mai war Ramus verhindert, im Arbeiterrat zu sein, auch Moldauer und noch diverse andere Kameraden waren nicht anwesend. Nur Kocmata war anwesend, als der nachstehende Beschluß gefaßt wurde und Kocmata verpflichtete sich, die Abwesenden, gegen die der Beschluß gefaßt worden war, zu verständigen; er hat aber jegliche Verständigung unterlassen. Nur dem Zufall, daß Ramus den Sekretär des Bezirksarbeiterrates auf der Straße traf, ist es zu verdanken, daß eine offizielle Verständigung an uns gelangt ist, die eine Berufung ermöglicht hat. Denn erst auf Wunsch von Ramus, da keinerlei Verständigung erfolgt war, sandte nun der Bezirksarbeiterrat Innere Stadt (Wien) den folgenden Brief ab:
"Herrn Rudolf Großmann (Ramus), Klosterneuburg
Werter Genosse!
In der am 20. d. M. abgehaltenen Vollversammlung des Bezirksarbeiterrates Innere Stadt wurde nach einem Bericht der Mandatsprüfungskommission beschlossen, Ihr Bezirksarbeiterratsmandat abzuerkennen, da sonst der Bezirksarbeiterrat Innere Stadt mit dem diesbezüglichen Beschlüsse der Reichskonferenz der Arbeiterräte sowie des Kreisarbteiterrates in Widerspruch geraten würde.
Da ja, wie Sie, werter, Genosse, wissen die Reichskonferenz der Arbeiterräte demnächst zusammentreten wird, haben Sie die Möglichkeit, sich an die Berufungskommission derselben zu wenden und damit eine Revision des seinerzeitigen Beschlusses herbeizuführen.
Wir ersuchen Sie daher, die Berufung ehestens an das Sekretariat des Reichsarbeiterrates, V., Sonnenhofgasse 16, zu übersenden.
Mit Genossengruß
Für die Exekutives Wien, am 25. Mai 1920.
Arbeitel"
Daß es sich, was Ramus anbelangt, um eine bei den Haaren herbeigezerrte Sache handelt, geht schön daraus hervor, daß der gegen Ramus sich richtende Beschluß der Reichskonferenz über ein Jahr alt ist und dessen Tätigkeit im Arbeiterrat nicht gehindert hat. Warum ist man nicht früher gegen ihn mit Aberkennung seines Mandats vorgegangen? Warum hat man ihn nicht verständigt, daß durch den Bericht der Mandatsprüfungskommission über Kocmata auch seine (Ramus') Person in Mitleidenschaft gezogen würde? Hinterlistig, wie dieses Vorgehen genannt werden muß, hat es sich dadurch selbst gekennzeichnet, und so darf es nicht verwundern wenn wir sagen, daß wir von vornherein gewußt haben, daß der nachfolgende Antwortbrief von Ramus der Reichskonferenz vorenthalten werden würde; Ramus schrieb:
"Wien-Klosterneuburg, den 26. Mai 1920
An das Sekretariat des Kreisarbeiterrates in Wien
Werte Kameraden!
Auf indirektem Wege habe ich gestern, den 25. Mai, erfahren, daß der Bezirksarbeiterrat der Innern Stadt in Wien, I., mir in meiner Abwesenheit mein Arbeiterratsmandat aberkannt hat unter Berufung auf eine neuliche Entscheidung des Kreisarbeiterrates, wonach herrschaftslose Sozialisten den Klassenkampf nicht anerkennen.
Da die letztere Behauptung positiv unwahr ist, lege ich Protest gegen das obige Verfahren wider meine Person ein und fordere Sie auf, mich vor die Berufungskommission der bevorstehenden Reichsarbeiterratskonferenz zu laden, um sowohl die Möglichkeit zu haben, zu vernehmen, auf Grund welcher Behauptungen das Obige gegen mich geltend gemacht wird, wie auch um meinen Standpunkt darlegen zu können.
Die Behauptung, ich sei kein proletarischer Klassenkämpfer, ist geradezu absurd, da ich auf über zwanzig Jahre Tätigkeit in der Arbeiterbewegung zurückblicke und stets, wie bis heute, den sozialwirtschaftlichen Klassenkampf des revolutionären Syndikalismus organisiert und propagiert habe."
Dieser Brief ist rekommandiert abgesandt worden; er hat weder eine Beantwortung noch sonst irgendeine entsprechende Erfüllung seines doch gewiß an sich berechtigten Wunsches gefunden. So sind denn die herrschaftslosen Sozialisten auf perfide, heimtückische und bewußt unberechtigte Art aus dem Arbeiterrat ausgeschlossen! Wenn wir ganz aufrichtig sein wollen, müssen wir gestehen, daß wir es nicht sonderlich bedauern: In diesen Arbeiterrat, der eine Spiegelfechterei zwischen Sozialdemokratie und "Kommunisten" darbietet, gehören wir nicht hinein! Und da der Arbeiterrat bisher nichts geleistet hat an wirklich sozialbefreiender, revolutionärer Aktivität, so tut es uns keineswegs leid; die Mitverantwortung für das, was er als Helfershelfer der Polizei, Regierung und sonstiger Behörden — wogegen wir stets protestiert haben! — geleistet hat, auch indirekt nicht länger mittragen und mitverantworten zu müssen.
Unser Ausschluß braucht nur dem Proletariat leid zu tun, denn dadurch ist es seiner wahrsten Freunde im Arbeiterrat beraubt worden und was jetzt folgen wird, das wird ganz dem gleichen, was auf den internationalen sozialistischen Kongressen gefolgt ist nach dem willkürlich-gewaltsamen Ausschluß der Anarchisten und revolutionären Sozialisten von ihnen: Als diese einzigen aufrechten Warner und Mahner verschwunden waren, ging rapid zuerst der moralische und später der organisatorische-prinzipielle Zusammenbruch der Internationale vor sich, der seinen Triumph im Jahre 1914 erlebt hat.
Aus: "Erkenntnis und Befreiung", 2. Jahrgang, Nr. 29 (1920). Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ae zu ä, That zu Tat usw.) von www.anarchismus.at.