Staatssozialismus. Gegen die Verstaatlichung ganzer Industriezweige
Angesichts der Vorgänge im Ruhrkohlengebiet, wo das rheinisch-westfälische Kohlensyndikat es in der Hand hat, um erhöhten Profites willen über ganze, dichtbevölkerte Distrikte Arbeitslosigkeit, Elend und Verödung heraufzubeschwören und angesichts der Tatsache, dass es unter den bestehenden Zuständen gegen eine derart gemeingefährliche Ausnutzung kapitalistischer Macht für das Volk kein wirksames Schutz- und Abwehrmittel gibt, ist der Ruf nach Verstaatlichung des Bergbaues laut geworden. Zuerst natürlich im sozialdemokratischen Lager. Dann aber auch — gelegentlich zweier Interpellationen, die im preussischen Abgeordnetenhaus und im deutschen Reichstag beraten wurden — schüchtern von anderer Seite aus; ganz schüchtern erwog sogar ein konservativer Volksvertreter die Verstaatlichung dieses Zweiges der den Agrariern so verhassten Industrie.
Der Gedanke an die Verstaatlichung des rheinisch-westfälischen Bergbaues hat zwar vorläufig keine Aussicht auf Verwirklichung. Vor einer Finanzmacht, wie sie durch das Kohlensyndikat repräsentiert wird, streicht der moderne Staat und seine Regierung bescheiden die Segel. Wagt man doch nicht einmal die Zügel der bestehenden Gesetze und Verordnungen bei den Grubenkapitalisten in wirksamer Weise anzuziehen. Immerhin ist es aber an der Zeit, das Trugbild der Verstaatlichung, wie es den Arbeitern von seiten ihrer sozialdemokratischen Führer angepriesen wird, wieder einmal richtigzustellen. Gewiss sind auch heute noch unter diesen Führern Sozialisten, die in einer Verstaatlichung der Produktion nicht ein sozialistisches Ideal sehen, — ausschlaggebend für die Entwicklung der deutschen Sozialdemokratie, hauptsächlich während des letzten Jahrzehnts, sind aber diejenigen von ihnen gewesen, die direkt und mit allen Mitteln ihrer Sozialpolitik auf eine solche Verstaatlichung lossteuern. In dem bekannten Wahn, auf dem Wege der parlamentarischen Taktik Herren der Gesetzgebung zu werden, und die Leitung des Staates eines Tages völlig in ihrer Hand finden zu können, ist diese sozialdemokratische Sozialpolitik bestrebt, dem Staate schon heute soviel wirtschaftliche Macht zuzuschanzen, wie nur irgend möglich ist. So ist die Verstaatlichung der Produktion zum weitestgesetzten Ziel ihrer Politik geworden.
Nun, die Arbeiter haben allen Grund sich aus Leibeskräften gegen die Verwirklichung dieses Zieles zu wehren, wie gegen jeden Schritt, durch den sogen. Arbeitervertreter und -führer dem Staat die geringste Konzession zur Erweiterung seiner Macht auf irgend einem, besonders aber auf wirtschaftlichem Gebiete machen. Und selbst wenn es möglich wäre, die Verstaatlichung eines Industriezweiges zu erzwingen, hätte jeder Volksfreund Ursache, keine Hand dafür zu regen. Schon jetzt ist es den Arbeitern kaum noch möglich, sich auf Grund eigener Initiative aus einer elenden Lebenslage in eine weniger elende emporzuschwingen; die Verstaatlichung eines Betriebes bedeutet nichts weniger als seine völlige Entrechtung. In der Hand der Staatsbehörden sind die Arbeiter nicht weniger Spielball, als in der Hand von Privatkapitalisten. Eher noch mehr. Dem Staat als Arbeitgeber stehen alle Gewaltmittel zur Knebelung der Arbeiter und ihrer Organisationen direkt zur Verfügung — und es hat sich noch in jedem Falle erwiesen, dass er davon unverzüglich Gebrauch macht.
Ist nicht gerade jetzt der Streik der ungarischen Staatsbahnangestellten ganz dazu angetan, das zu beweisen? Der Staat macht aus seinen Arbeitern in allen Fällen, wo es ihm als Vertreter der besitzenden Klassen notwendig erscheint, Beamte, er schafft damit eine Kategorie von Arbeitern, die mit den nicht angestellten, unabhängigen, den sogen. „freien" Arbeitern zwar die Hauptsache gemein haben: dass nämlich ihre Arbeitskraft gründlich ausgebeutet und sie als "Subalterne" gleich Menschen zweiter Klasse behandelt werden; — die aber im Übrigen noch übler dran sind, insofern als ihnen Diensteide und ähnliche ideelle Bänder, sowie Pensionsrücksichten und ähnliche materielle Bänder die Möglichkeit, aus freiem Entschluss, eventuell durch Verweigerung ihrer Arbeitskraft ihre Lage zu verbessern, völlig unterbinden. Sie sind mit Erhöhung ihres Lohnes wie mit Verkürzung ihrer Arbeitszeit durchaus auf den guten Willen ihrer vorgesetzten Behörden, letzten Endes auf den des Staates, des „Nachtwächters der besitzenden Klassen" angewiesen.
Wie es um diesen guten Willen aber bestellt ist, zeigt die Tatsache, dass ganze Kategorien von Subalternbeamten, zu denen die meisten Angestellten gehören, hinsichtlich Entlohnung und Arbeitszeit viel schlechter gestellt sind, als die Arbeiter zahlreicher Branchen, die durch geschlossenes Vorgehen ihre Arbeitszeit zu verkürzen und ihren Lohn zu erhöhen vermocht haben.
Verstaatlichung ist gleichbedeutend mit Versklavung. Um zu begreifen, wie sehr das zutrifft, braucht man nicht einmal bis nach Ungarn zu gehen. Eine Anfrage bei Arbeitern der Spandauer Militärwerkstätten dürfte für manchen staatssozialistisch Angehauchten genügen, ihm die Augen zu öffnen. Besonders Verbohrten wäre ein Interwiew einer Anzahl preussischer Eisenbahnbeamten der „niederen" Kategorie anzuraten, über die Frage, in welche Fesseln gerade der Staat als Arbeitgeber seine Arbeiter zu schlagen versteht, und es würde nach wahrheitsgemässer Auskunft sicher keine Sympathie für ein Umsichgreifen der Verstaatlichung übrig bleiben.
Der Staatssozialismus ist eine direkte Frucht der politisch-parlamentarischen Taktik, welche die Sozialdemokratie je länger desto intensiver befolgt. Er mag sich mit den Idealen der Gleichheit und Brüderlichkeit, wie sie in einem Zuchthause herrscht, sehr gut vereinbaren lassen. Mit Freiheit, ein Wort, das der Sozialdemokratie immer noch die meisten Anbänger zuführt, hat er nichts zu tun.
Das Problem der Befreiung der Arbeiterklasse besteht im Gegenteil in der Aufgabe, dem Staat den Boden überall, auf allen Gebieten und zu jeder Zeit abzugraben, und den Arbeitern alle die Freiheiten zu erringen, die ihnen die Möglichkeit geben, ihre Interessen selbst zu verfechten und die von ihnen geleistete Produktion selbst zu organisieren.
Aus: Der freie Arbeiter, 1. Jahrgang, Nr. 18, 1904. Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ae zu ä, That zu Tat usw.) von www.anarchismus.at.