John Turner - Anarchismus und Gewerkschaft

In der Auseinandersetzung zwischen dem "politischen Weg" (Sozialdemokratie) und dem "ökonomischen Kampf" tendierte der historische Anarchismus zu letzterem, und favorisierte daher Gewerkschaften als Kampforganisationen für die ArbeiterInnenklasse. Der "Stimmzettel" als Klassenkampfinstrument wurde dagegen verworfen. Mit dem Anarchosyndikalismus entstand schließlich eine eigene radikale Gewerkschaftsbewegung auf anarchistischer Basis, während sich AnarchistInnen in den Jahren und Jahrzehnten davor in allgemeinen Gewerkschaften engagierten. (www.anarchismus.at)

Gelegentlich findet man in anarchistischen Zeitungen allerlei Kritteleien über die gewerkschaftlichen Methoden. Ab und zu geht das so weit, dass der Zusammenbruch der Gewerkschaften erhofft wird und man von deren Auflösung eine Beschleunigung der sozialen Änderung, d.h. die Herbeiführung der ökonomischen Unabhängigkeit der Arbeiterschaft erwartet.

Alle Arten von gewerkschaftlichen Beschlüssen gegenüber Individuen werden als Beweise für den despotischen Charakter dieser Organisationen hingestellt. Und wenn man nicht ein wenig tiefer blicken könnte, man wurde hinsichtlich der Nützlichkeit und grösserer individueller Freiheit unter den Mitgliedern der Gewerkschaften sein Urteil stark eingeengt finden.

Aber es gibt viele Beweise dafür, dass diejenigen, welche so sprechen, wenig von Anarchismus oder Gewerkschaftsbewegung verstehen. Ab und zu zeigt sich ein Schreiber, welcher im Allgemeinen ganz gesunde theoretische Ansichten an den Tag legt, über die Geschichte oder das enorme Tätigkeitsfeld, dass die Gewerkschaften haben, völlig im Unklaren. Seine ganze Information besteht schliesslich nur in grundloser persönlicher Stänkerei. So denkt auch der Spiessbürger, welcher nie mit einer grösseren Schaar von Arbeitern zusammen gearbeitet hat und infolge dessen niemals empfand, was die Macht instinktiver Solidarität, das Resultat der Assoziation, zu erzielen vermag. Selbst Herbert Spencer war nicht imstande, die Gewerkschaften zu verstehen. ...

Mitunter kam die ganze Krittelei auch daher, dass Manche glaubten, es fielen die Mauern der bestehenden Institutionen gleich denen von Jericho ein, wenn sie nur stark genug angeblasen würden. Damit soll nicht gesagt sein, dass die Kritik eingestellt worden soll. Aber nur durch die ehrliche Absicht, die Wahrheit zu erreichen, können wir Fortschritte machen. Blosse Nörgelei oder billige Deklamationen werden uns nicht vorwärts bringen.

Halten wir uns einfach an die Tatsachen. Was ist eine Gewerkschaft? Ähnelt sie einer staatlichen oder kapitalistischen Organisation? Und was sind die Unterschiede? Erstens ist eine Gewerkschaft eine freiwillige Vereinigung von Individuen einer bestimmten Geschäftsbranche zum Zwecke der gegenseitigen Hilfe und Erzielung besserer Arbeitsbedingungen. Dass dieselbe unter gewissen Umständen zwingende oder gewalttätige Methoden in Anwendung bringt, ändert ihren Charakter an und für sich garnicht. Selbst wenn morgen die Anarchie platzgriffe, hörte die Gewalttätigkeit nicht sofort auf, sondern verschwände erst, wenn die herkömmlichen Ursachen derselben vollends hinfällig geworden sind. Wer anders denkt, träumt vom "tausendjährigen Reich". Und man muss nur nicht vergessen, dass die Gewerkschaften lediglich ökonomische Gerechtigkeit anstreben. Sie können nicht höhere Löhne erzielen, als den Produktionserzeugnissen entspricht.

Man könnte sagen: sind denn aber nicht die kapitalistischen Organisationen auch freiwilliger Natur. Und man muss diese Frage bejahen, nur stehen hinter denselben die staatlichen Organisationen, welche sie beschützen.

Die Gesetze sind nichts weiter, als die sozialen Spielregeln, vermöge welcher die Ausbeutung der Arbeiter reguliert wird. Der Staat aber erzwingt die Befolgung der Gesetze. Die Regierung zieht von den Arbeitern die Steuern ein, welche nötig sind, solche Organisationen aufrecht zu erhalten, die sich eignen, die Eigentums-Institutionen zu sichern. Jede andere Funktion der Regierung könnte viel besser durch freiwillige Zusammenarbeit ausgeführt werden.

Daher die Differenzen zwischen den Organisationen der Arbeiter und denen der Unternehmer. Die Gewerkschaften haben also den Zweck, ihre Mitglieder vor Unterdrückung zu schützen; und wenn sie manchmal aggressiv werden, so ist ihr Vorgehen nur wie Staub in der Wagschale, verglichen mit dem stetigen organisierten Vorgehen seitens der Regierung zum Besten der kapitalistischen Klasse.

Auf welcher Seite Recht und Gerechtigkeit liegen, kann Jeder mit Händen greifen. Mithin liegen die Bestrebungen der Gewerkschaften denen der Anarchisten sehr nahe, wenn man auch nicht annehmen kann, dass sich die meisten Gewerkschaftler dessen bewusst seien,  sind doch sehr viele davon nicht im Stande, anzugeben, weshalb sie überhaupt ihrer Gewerkschaft angehören. Sie fühlen sich einfach instinktiv dazu hingezogen.

Mit den herrschenden Klassen steht es ja ähnlich. Die meisten ihrer Angehörigen wissen gar nicht, dass sie als Parasiten leben, und nur wenige haben einen Einblick in das Getriebe, vermöge welches das gegenwärtige Gesellschafts-System aufrecht erhalten, wird, oder wirken vollbewusst in diesem Sinne.

Auf beiden Seiten herrscht aber eine gewisse Sympathie, welche jeden zu Verteidigungszwecken zusammenhält. Die Einen erstreben Gerechtigkeit, die Anderen suchen die industrielle Macht unter Regierungsschutz aufzuhäufen und ihr System zu verewigen.

Die einzige Waffe, welche der Arbeiter hat, ist die Arbeitseinstellung; besetzt ein Anderer — aus Unverstand oder Charakterlosigkeit — seine Stelle, so muss er ihm vorkommen wie ein Verräter im Kriege, und er ist geneigt, ihn dementsprechend zu behandeln. Darüber wird dann ein grosses Geschrei gemacht.

Was in Abrede und seit bedeutend man aber immer sagen mag — wer kann stellen, dass die Mitglieder wohlorganisierter längerer Zeit existierender Gewerkschaften in ihrer Lebenslage erhöht wurden? ... Jeder anarchistische Lohnarbeiter kann daher mit guten Gewissen betonen, dass der Platz der Unserigen in den Gewerkschaften sei. ... Zieht man deren grosse Fonds, deren wachsende Mitgliedschaften und deren mehr und mehr international sich gestaltende Organisationen in Betracht, so muss man begreifen, dass für die Anarchisten in den Gewerkschaften ein eminentes Agitationsgebiet gegeben ist. Sie enthalten die Auslese der Arbeiter und an uns ist es, derselben eine weitsichtige und grossherzige Solidarität beizubringen. ...

Die Internationalisierung der Gewerkschaften sollte mit Macht propagiert werden, denn dieselbe wird die Landesgrenzen zu Falle bringen ... Es sollte auch nicht schwer sein, den Gewerkschaften klar zu machen, dass sie schliesslich imstande sein müssen, ganze Industriezweige, zu welchen sie gehören, selber in die Hand zu nehmen und zu betreiben.

Die Basis der kommenden Gesellschaft ist die Individualität. Die Gruppierungen aber werden wesentlich auf der Teilung der Arbeit beruhen. Die Gewerkschaftsidee ist also mindestens ihrer Herkunft nach von anarchistischem Geiste beseelt.

Aus: Der freie Arbeiter, 1. Jahrgang, Nr. 17, 1904. Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ae zu ä, That zu Tat usw.) von www.anarchismus.at.


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