Arthur Müller-Lehning - Die Masken sind gefallen!

I.

Als am 2. Februar unter Glockengeläut der Genfer Kirchen die erste Weltabrüstungskonferenz feierlich eröffnet wurde, ging der Fasching des Pazifismus zu Ende. Er hat vierzehn Jahre gedauert. "Wir sind an einem geschichtlichen Augenblick angelangt", sagte denn auch der Vorsitzende Henderson mit Recht, als er die Konferenz, "die ihresgleichen nicht hat", eröffnete. "Das gibts nur einmal", dürfte man von diesem Kongress sagen, auf dem 64 Staaten vertreten sind, die etwa 1700 Millionen Menschen, also mehr oder weniger die ganze Welt, umfassen. Und dieser Konferenz, die den Völkern den Frieden sichern und den Krieg verhindern soll, gehören u. a. - ausser Diplomaten und Ministern - an: 28 Generäle, 15 Admirale und viele hundert Generalstabs- und Admiralstabsoffiziere ...

Wie sollte man in dieser Gesellschaft nicht die feierliche Abrüstungsstimmung bekommen? Weshalb sollte man dieser Gesellschaft nicht die auf Lastkraftwagen angefahrenen Pakete mit den Millionen Unterschriften der Pazifisten-Petitionen zur Abrüstung - feierlich überreichen? Und weshalb sollten die Glocken nicht läuten in einem solchen geschichtlichen Augenblick? Es gehört zu den Paradoxen der Weltgeschichte, dass der heuchlerischste Imperialismus im entscheidenden Augenblick die imperialistische Heuchelei entlarvte und der pazifistischen Komödie ein Ende bereitete.

Japan hatte keine Zeit und keine Lust, sich an den geschichtlichen Augenblicken des Herrn Henderson zu beteiligen: es macht seine eigene Geschichte. Es war ja auch nicht so schlimm, dass man, wo man schon vierzehn Jahre gewartet hatte, um die Versprechungen einzulösen, die man den Völkern gegeben hatte, diese historische Stunde den grossen Abrüstung noch um eine Stunde verzögern wollte, da inzwischen ein kleiner Krieg ausgebrochen war.

Dieser bedauerliche und unopportune Zwischenfall hat die Stimmung der feierlichen Abrüstungsstunde mit dem Glockengeläut etwas gedrückt. Denn die Akteure und Zuschauer im Palast der Nationen dürften die dumpfe Empfindung gehabt haben: mit dem Fasching geht es zu Ende. Die Friedensglocken wurden schliesslich nur von den Genfer Kleinbürgern gehört, aber den Kanonendonner von Schanghai hörten die Arbeiter der ganzen Welt.

II.

Der Weltkrieg sollte der letzte Krieg sein, so war es den Völkern von ihren Staatslenkern erklärt worden. Der "Völkerbund", dessen Ziel es war, den ewigen Frieden - und besonders den von Versailles - zu sichern, sollte die allgemeine Abrüstung organisieren. In direktem Zusammenhang mit den Friedensverträgen - also auf den Spitzen der Bajonette gegründet - sollte der Völkerbund den Krieg unmöglich machen. Aber trotz dieses Völkerbundpakts waren sämtliche Staaten nach wie vor der Meinung, dass die beste Bürgschaft für die Sicherheit doch noch immer Tanks, Giftgas und Luftflotten seien. Inzwischen wurde weiter gerüstet, bis zum Staatsbankrott.

Siebzig bis fünfundsiebzig Prozent des gesamten Staatsbudgets den grossen Staaten werden heute für Kriegszwecke verwendet: zur Liquidierung des vorigen und zur Vorbereitung des nächsten Krieges ... Das Weltkriegsbudget beträgt heute 1.800 Millionen Mark.

Es stehen bereit: 20.000 Flugzeuge, 6.000 Tankes, 43.000 Kanonen und Flammenwerfer, 250.000 Maschinengewehre, 115 grosse Schlachtschiffe, 2.000 Kreuzer und andere Kriegsschiffe.

Und wichtiger als dieses ganze Kriegsmaterial, das jede Stunde in Aktion treten kann, ist das Arsenal bereitstehender Kräfte. Wichtiger als die Flugzeuge und Kanonen, die fertig sind, sind die Fabriken, die imstande sind, sie schnellstens in genügender Anzahl herstellen zu können.

Zur heutigen Kriegsindustrie gehören nicht nur die spezifischen Rüstungsfabriken im engeren Sinne. Zur Vorbereitung des Krieges gehört vor allem die wirtschaftliche. In allen Staaten wird heute die industrielle Mobilmachung vorbereitet. Sie bedeutet die Einbeziehung des ganzen wirtschaftlichen Lebens, der Technik und der Wissenschaft in die Kriegführung. Zur Grundlage der Rüstungen gehören deshalb - ausser Petroleum - vor allem die Metallindustrie, die chemische Industrie und die elektrische Industrie. Das Land, das über diese Industrien verfügt - wie Deutschland -, ist für die Rüstung bereit. Wichtiger, als grosse Massenvorräte zu haben, die bei der schnellen Entwicklung der Technik veralten können, ist es, die Fabrikorganisation bereit zu haben, die sie sofort in Massen produzieren kann. Diese Innenmobilisation der Fabriken ist denn auch in vollem Gange, Es ist gar nicht daran zu zweifeln, dass das unerhörte und sogar teilweise verschleierte Budget der deutschen Reichswehr zu einem bedeutenden Teil zu Subventionen für die Industrie verwendet wird, um die Umstellung auf Kriegsproduktion vorzubereiten.

Ein Vertreter des amerikanischen Kriegsministeriums erklärte, dass man ein Verzeichnis von 3876 Erzeugnissen der "Friedensindustrie" aufgestellt habe, die als strategisch wichtig für Kriegsproduktion in Betracht kommen. Mit 202 Fabriken habe man Verbindungen angeknüpft wegen eventueller Verwendung für Heeresbedürfnisse. Schon hat man industrielle Probemobilisationen organisiert. Die Mechanisierung und Motorisierung des Krieges bedeutet seine vollständige Industrialisierung.

Der Krieg selbst ist nichts anderes mehr als eine Industrie zur Menschenvertilgung.

Auf ökonomischem Gebiete muss auch der Schwerpunkt der Kriegsbekämpfung liegen. Die Kontrolle sämtlicher Industrien auf ihre Organisierung und Verwendung für den Krieg durch die Arbeiter ist notwendig. Die Stilllegung jeder direkten Rüstungsarbeit und die Verhinderung jedes Kriegstransportes muss zu einer der Losungen der Arbeiterschaft erhoben werden.

Diese Vorbereitungen zur direkten Aktion gegen den Krieg und seine Vorbereitung bilden die wichtigste Etappe zur Übernahme des gesamten industriellen Apparates, der mehr und mehr zu einer einzigen Kriegsindustrie wird.

III.

Der Kapitalismus kann den Krieg nicht verhindern, so wenig wie er die Krise vermeiden kann. Krise und Krieg gehören zusammen. Die Krise wird immer heftiger, der Weltkrieg immer drohender. Die heutige Weltkrise demonstriert den ganzen Wahnsinn des heutigen Systems.

Die heutige Krise ist heftiger und schwieriger zu überwinden als jemals eine andere. Die grossen Gebiete, die bis zum Weltkriege, ausser Europa-Amerika, "kolonisiert" werden konnten, um die Akkumulationswut des imperialistischen Kapitalismus zu befriedigen, sind von den kapitalistischen Staaten verteilt. Der weisse Imperialismus hat die Grenzen seiner Ausdehnung erreicht.

Der verfügbare Raum für einen erfolgreichen Prozess der kapitalistischen Profitmacherei ist verteilt. Wo früher Waren hingebracht worden sind, werden heute nachdem man Waren hingebracht hat, die Waren produzieren können (maschinelle Produktionsmittel), selbst Ware produziert. Und zwar billiger, dank der masslosen Ausbeutung der farbigen Arbeiter. Der ausländische Kapitalismus wird nicht nur verdrängt, er wird sogar durch diese billigere Warenproduktion auf dem Weltmarkt bedroht.

Diese Entwicklung verschärft die imperialistischen Gegensätze und verschärft die Krise. Der Kampf für die sogenannte "nationale Unabhängigkeit" - vorläufig hauptsächlich im Interesse der aufkommenden nationalen Bourgeoisie - hat begonnen. Die Beteiligung neuer - farbiger Kapitalismen an dem kapitalistischen Weltprozess hat die Konkurrenzkämpfe verschärft. Der Kampf um die übriggebliebenen, noch zu erobernden Märkte ist heftiger als je. Nachdem mit dem Weltkriege der Kampf um Kolonien und "Interessengebiete" abgeschlossen war, kommt heute nur noch ein grosses Gebiet in Betracht: China, ein Gebiet von fast 2 Millionen Quadratmeilen mit einer Bevölkerungszahl von über 400 Millionen.

Es bildet einen der Brennpunkte des imperialistischen Kampfes. Was wir heute dort erleben, ist das imperialistische Vorspiel des kommenden grossen Krieges.

IV.

Die heutige Weltkrise und der Krieg in China ist ein Alarm für die Arbeiterklasse in allen Ländern.

Als Japan am 18. September in die Mandschurei einrückte, setzte es die koloniale Raubpolitik der kapitalistischen Staaten des 19. Jahrhunderts in Asien fort. Seit einem halben Jahrhundert hatte der schnell aufgekommene japanische Kapitalismus kein anderes Ziel als einen Teil des chinesischen Gebietes in eine japanische Kolonie zu verwandeln. Im nordöstlichen Teil von China hatte er besonders grosse wirtschaftliche Interessen. Auf über 4000 Millionen Mark schätzt man das japanische Kapital, das dort in Landwirtschaft, Bergbau, Industrie, Banken und vor allem in Eisenbahnen angelegt ist. Japan erachtete den Augenblick für günstig, um sein Ziel durchzuführen, dieses Gebiet auch politisch zu verwalten.

Sowohl Japan wie China waren zwar Mitglieder des Völkerbundes und Unterzeichner des Kellogg-Paktes - aber Japan kümmerte sich nicht um die "feierlichen" Verträge noch um die Proteste und eingesetzten Kommissionen, sondern setzte seinen Aufmarsch ruhig fort, bis es die ganze Mandschurei besetzt hatte.

Nachdem dieses Ziel erreicht war, ging Japan weiter. Es sandte seine Flotte und Armee nach Schanghai. Fünfzig Kriegsschiffe und 50 000 Soldaten standen vor diesem asiatischen Zentrum des internationalen Imperialismus. Denn militärisch hatte Japan zwar gesiegt, aber die wichtigste Waffe der Chinesen:

der wirtschaftliche Boykott der japanischen Waren blieb ungebrochen. Er verursachte dem japanischen Kapitalismus unberechenbaren Schaden.

Mit Indien gehörte China zu dem wichtigsten Ausfuhrmarkt Japans. Ein Drittel seiner Waren ging nach China. Eine grosse Anzahl der Industriewerke in China sind in japanischen Händen. Der grösste Teil der Auslandsanlagen des japanischen Kapitalismus ist in China investiert.

Die militärische Operation der Japaner stiess zwar nicht auf Widerstand beim Völkerbund und den Unterzeichnern des Neunmächtevortrags von 1922, die die politische Unabhängigkeit von China garantiert hatten, aber auf einen unerwarteten Widerstand der Chinesen. Es war nicht mehr möglich, den ohne Kriegserklärung ausgebrochenen Krieg nicht einen Krieg zu nennen.

Der Völkerbund - d. h. die interessierten Grossmächte - liessen Japan freies Spiel. Der Völkerbund dachte nicht daran, etwas Ernstes gegen den ausgebrochenen Krieg zu unternehmen. Die Tatsachen sprachen eine deutlichere Sprache als die schönen juristischen Artikel des Völkerbund-Paktes. Der Völkerbund hat sein wahres Gesicht gezeigt. Die heutigen Ereignisse beweisen, dass die kapitalistischen Staaten für ihre imperialistischen Gegensätze gar keinen anderen Ausweg sehen als den Krieg. Sie bereiten sich auf ihn vor. Die famose Abrüstungskonferenz hat kein anderes Ziel, als für jeden die eigenen Rüstungen auf Kosten der Gegner zu sichern. Um so mehr, da das beste kapitalistische Geschäft in dieser Krisenzeit noch immer das Kriegsgeschäft ist. Während in Genf geredet wird und in Schanghai Soldaten und Zivilbevölkerung niedergemacht werden, arbeiten die Munitionsfabriken der Welt unter Hochdruck. Die Rüstungsaktion steigen.

Die Industrie, die in Krieg handelt, die vom Kriege, die durch den Krieg lebt, die mit dem Blut von Millionen ihre Geschäfte macht, wittert Morgenluft.

Der Kapitalismus sieht bereits seinen Ausweg ans der Krise: den Krieg.

Was dieser Krieg bedeutet, weiss heute jedes Kind. Er bedeutet den Rückfall in die Barbarei. Für die Organisierung des Kampfes gegen den Krieg ist kein Augenblick mehr zu verlieren. Diesen Kampf dort zu führen, wo der Krieg vorbereitet wird: auf ökonomischein Gebiet, in allen Betrieben und Werkstätten, das ist die Aufgabe der klassenbewussten Arbeiterschaft, die den Krieg nicht will. Das wird auch die beste Antwort sein an die Abrüstungsdemagogie des parlamentarischen Sozialismus und des imperialistischen Völkerbundes. Nur dort, und mit den Waffen der direkten ökonomischen Aktion ist der Faschismus zu schlagen. Nur dort kann der Krieg bekämpft werden, weil der Krieg nur verhindert werden kann durch die Vernichtung des heutigen Systems, das ihn vorbereitet und ihn nicht umgehen kann. Die Arbeiterklasse hat keine andere Wahl: Weltfaschismus und Weltkrieg oder soziale Umwälzung. Die Arbeiterklasse hat zu wählen: Vernichtung des Kapitalismus und jeder Unterdrückung oder noch einmal Millionen Tote. Ein Drittes gibt es nicht. Und viel Zeit ist nicht mehr. Die Lawine ist bereits im Rollen.

Das ist die warnende Lehre von Genf und von Schanghai.

Originaltext: http://www.free.de/schwarze-katze/texte/a31.html


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