Arthur Müller Lehning - Ein Anarchist wird 90
Arthur Müller Lehning verstarb im Jahre 2000 in Frankreich
In den dreißiger Jahren Sekretär der Internationalen Arbeiter-Assoziation, lebt Arthur Lehning heute in Amsterdam und gibt die Werke Bakunins heraus.
Mit Arthur Lehning feiert am 23.Oktober ein Mann seinen 90.Geburtstag, der sein ganzes Leben dem Anarchismus bzw. dem Anarchosyndikalismus gewidmet hat. Deren Ziele Abschaffung des Staates und des Privateigentums an Produktionsmitteln; Aufbau der nachrevolutionären Gesellschaft nach basisdemokratischen Prinzipien, weitgehende Autonomie der Gemeinden - faszinieren den jungen Lehning so stark, dass er ihnen erst durch praktisches und theoretisches Engagement, dann als Historiker sein Leben lang verbunden bleibt. Die anarchosyndikalistische Bewegung, die im Gegensatz zum Individualanarchismus in der Arbeiterklasse den Träger der Revolution sieht, verdankt dem am 23.10.1899 in Utrecht geborenen und in Holland aufgewachsenen Arthur Lehning wichtige praktische und theoretische Beiträge.
Schwerpunkt seiner regen publizistischen Tätigkeit in der Zeit nach dem 1.Weltkrieg bildet das Aufzeigen der erneuten Kriegsgefahr. Bereits 1924 legt er in seiner historischen Studie „Die Sozialdemokratie und der Krieg“ die grundsätzliche Haltung der Anarchisten und Anarchosyndikalisten im Falle eines Kriegsausbruchs dar: Die Arbeiter aller Länder sollen zum Mittel des Generalstreiks greifen, wie es schon in einer Resolution des Brüsseler Kongresses 1868 von der 1.Internationalen Arbeiter -Assoziation gefordert worden war. In den folgenden Jahren präzisiert Lehning diese Strategie gegen den Krieg. Er schlägt die Bildung von Fabrikkomitees vor, die die Umstellung der Produktion für die Erfordernisse des Krieges untersuchen und entsprechende Maßnahmen dagegen vorbereiten sollen. Schon in Friedenszeiten sollen die Arbeiter aus Protest gegen die Kriegsproduktion die Arbeit niederlegen, als Beweis ihrer Fähigkeit und Entschlossenheit, bei Kriegsausbruch in den Generalstreik zu treten, der als Auftakt zur Revolution in allen Ländern die Kriege mitsamt ihren Ursachen, dem kapitalistischen System, ein für allemal beseitigen soll.
In einer Debatte mit dem französischen Anarchosyndikalisten Lucien Huart Ende der zwanziger, Anfang der dreißiger Jahre über die Mittel, mit denen die siegreiche Revolution eines Landes zu verteidigen ist, entwickelt Lehning seine antimilitaristischen Auffassungen weiter. Er lehnt jede gewaltsame Verteidigung der Revolution, wie z.B. die Formierung eines Roten Heeres, ab und plädiert - auch für den Fall einer bewaffneten Intervention von außen - für die ausschließliche Anwendung ökonomischer Kampfmaßnahmen (Streiks, Boykott) der Arbeiter.
Diese von Arthur Lehning maßgeblich miterarbeitete Theorie der gewaltlosen Verteidigung von Revolutionen ist aus der Sicht des Anarchismus, der immer bestrebt war, seine Ziele in den angewandten Mitteln vorwegzunehmen - Paradebeispiel: die Errichtung der antiautoritären Gesellschaft wird mit antiautoritären Mittel angestrebt, Grundlage jeder anarchistischen Opposition gegen die Avantgardefunktion einer Partei -, nur konsequent. Die zukünftige gewaltlose Gesellschaft wird mit gewaltlosen Mitteln verteidigt, der sofort nach der Revolution abgeschaffte Staat wird nicht durch die Bildung einer Roten Armee und der damit einhergehenden Zentralisierung und Monopolisierung der Macht durch die Hintertür wieder etabliert. Die Produzenten übernehmen in Selbstverwaltung die Produktion, während die durch Verträge zu einem Föderativsystem vernetzten Gemeinden die übrigen Angelegenheiten regeln.
Lehnings Beitrag zu einer Theorie der gewaltlosen Verteidigung revolutionärer Prozesse wurzelt nicht zuletzt in der spezifischen Tradition der sozialistischen Bewegung der Niederlande: Jener sich um die Jahrhundertwende etablierenden Mischung aus religiösem Sozialismus und einem durch Tolstoi geprägten Anarchismus, die sich schon mitten im 1.Weltkrieg durch die Aufforderung zur Kriegsdienstverweigerung auszeichnete.
Daneben engagiert sich Arthur Lehning auch praktisch für die Sache des Anarchosyndikalismus. Schon während seines Studienaufenthalts in Berlin 1922 bis 1924 engagiert er sich im Komitee für die Verteidigung von in der Sowjetunion verfolgten Anarchisten und Sozialrevolutionären und ist interessierter Beobachter des Gründungskongresses der anarchosyndikalistischen Internationalen Arbeiter -Assoziation (I.A.A.), einem Zusammenschluss anarchosyndikalistisch orientierter Organisationen und Gewerkschaften aus der ganzen Welt, um die Jahreswende 1922/23 in Berlin. Außerdem ist er als Korrespondent für das 1921 gegründete und im wesentlichen auf Holland beschränkte Internationale Antimilitaristische Büro (I.A.M.B.) tätig, das sich die Bekämpfung des Militarismus und die Verhinderung von Kriegen, vor allem durch Aktionen der Arbeiterklasse, zum Ziel gesetzt hat.
1926 wird er in das Sekretariat der Internationalen Antimilitaristischen Kommission (I.A.K.), die aus dem I.A.M.B. und der I.A.A. gebildet wird, gewählt. Die I.A.K. widmet sich der Dokumentation der antimilitaristischen Arbeit in Form eines ab 1927 erscheinenden Pressedienstes, der - von Lehning und seinem Mitstreiter Albert de Jong herausgegeben - an 800 Zeitungen und Vereinigungen geschickt wird.
Von 1932 bis 1935 ist Lehning, neben A.Souchy, A.Shapiro und R.Rocker, Mitglied des Sekretariats der I.A.A. Bei einem Aufenthalt im republikanischen Teil Spaniens im Oktober 1936 kritisiert er - im inoffiziellen Auftrag der I.A.A. - die Bürokratisierung der spanischen Revolution und die gerade laufenden Verhandlungen der spanischen Anarchisten über ihren Eintritt in die Volksfrontregierung. Er wirbt für die Fortsetzung der Revolution, gegen Faschismus und Stalinismus.
Nach dem Austritt aus dem Sekretariat der I.A.A., bedingt durch den ihm von der holländischen Regierung auferlegten Zwang zur politischen Enthaltung, widmet sich Arthur Lehning dem Aufbau des Internationalen Instituts für Soziale Geschichte (I.I.S.G.), von 1939 bis 1947 als Direktor der englischen Abteilung in Oxford. Dorthin waren wesentliche Bestände des Instituts, um sie vor den Fängen der Nazis zu retten, ausgelagert worden.
Der Rückzug aus dem praktischen Engagement ermöglicht ihm zudem ausgedehnte historische Studien, so z.B. über den bedeutenden russischen Anarchisten Michail Bakunin (1814 -1876). Mit der Herausgebe von dessen Werken - der erste Teil der Archives Bakounine erschien 1961 - ist der heute in Amsterdam lebende Arthur Lehning noch heute beschäftigt.
Johannes Hilmer,
Aus: Taz vom 23.10.1989, Seite 11
Originaltext: http://www.free.de/schwarze-katze/texte/as03.html (Änderung: neue Rechtschreibung)
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Johannes Hilmer - Arthur Lehning zum 100. Geburtstag
Mit Arthur Lehning wird am 23 .Oktober ein Mann 100 Jahre alt, der sich - erst in der anarchosyndikalistischen Bewegung, dann als Historiker - zeit seines Lebens für eine Gesellschaft ohne Staat und Kapital eingesetzt hat.
Geboren am 23.10.1899 in Utrecht, studiert A. Lehning nach Abitur und Militärdienst 1919 Wirtschaftswissenschaften in Rotterdam und später in Berlin. Im gleichen Jahr liest Lehning, der sich schon früh für Literatur und Philosophieinteressiert und 1924 in Paris die moderne Malerei der Expressionisten, Kubisten, Futuristen und Konstruktivisten entdeckt, zum ersten Mal ein Werk des russischen Anarchisten Michail Bakunin. In Berlin hört er Vorlesungen von Werner Sombart und die des ersten Lehrstuhlinhabers für Sozialgeschichte in Deutschland, Gustav Mayer. Hier trifft er den deutschen Anarchosyndikalisten Rudolf Rocker und die aus den Moskauer Gefängnissen entlassenen russischen Anarchisten Alexander Berkman und Emma Goldman und engagiert sich im Komitee für die Verteidigung von in der Sowjetunion verfolgten Anarchisten und Sozialrevolutionären. Ebenfalls in Berlin arbeitet Lehning seit 1922 als Korrespondent des Internationalen Antimilitaristischen Büros (IAMB), einer 1921 in Den Haag gegründeten und im wesentlichen auf Holland beschränkten Organisation zur Bekämpfung von Militarismus und Krieg.
Der Schwerpunkt seiner regen publizistischen Tätigkeit in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen liegt in der Analyse der drohenden Kriegsgefahr. 1924 kritisiert er in seiner Broschüre "Die Sozialdemokratie und der Krieg" die sozialdemokratische Rechtfertigung von Verteidigungskriegen, die er bis auf Karl Marx' Haltung zum deutschfranzösischen Krieg 1870/71 zurückverfolgt. Demgegenüber arbeitet Lehning die anarchistische Tradition des Generalstreiks als Reaktion auf den Kriegsausbruch heraus, wie es schon die 1.Internationale Arbeiter-Assoziation in einer Resolution des Brüsseler Kongresses 1868 gefordert hatte.
In den folgenden Jahren präzisierte er diese Strategie gegen den Krieg. Er schlug die Bildung von Fabrikkomitees vor, die die Umstellung der Produktion für die Erfordernisse des Krieges untersuchen und entsprechende Maßnahmen dagegen vorbereiten sollten. Schon in Friedenszeiten sollten die Arbeiter aus Protest gegen die Kriegsproduktion die Arbeit niederlegen, als Beweis ihrer Fähigkeit und Entschlossenheit, bei Kriegsausbruch in den Generalstreik zu treten. Der von Lehning zur Verhinderung des Krieges vorgeschlagene Generalstreik des Proletariats aller kriegführenden Nationen erforderte die Überwindung des "passiven Militarismus" - von ihm definiert als die tatenlose Hinnahme der Aufrüstung durch die Bevölkerung - und sollte die Soziale Revolution einleiten, die mit der Vernichtung von Kapital und Staat auch den Militarismus und die Kriegsursachen beseitigen würde. Die selbständig - ohne Anweisungen irgendwelcher Führer oder Parteien - handelnden Arbeiter hätten mit der Durchführung des Generalstreiks nicht nur den durch blinde Unterwerfung gekennzeichneten Geist des Militarismus überwunden, sondern gleichzeitig jene ethisch-moralische Gesinnung an den Tag gelegt, die "die Menschheit auf eine höhere Stufe der Kultur" hebt und für Lehning ein unentbehrlicher Bestandteil der neuen libertären Gesellschaft ist.
Wiewohl Lehning kein dogmatischer Verfechter der Gewaltlosigkeit war, wurzelte seine antimilitaristische Haltung in jener in Holland sich seit der Jahrhundertwende herausgebildeten Mischung aus religiösem Sozialismus und einem durch Leo Tolstoi geprägten Anarchismus, der mit Bart de Ligt und Clara Meijer-Wichmann eine spezifisch holländische Tradition des gewaltfreien Handelns entwickelte. Lehning war sowohl in der niederländischen wie in der internationalen anarchosyndikalistischen Bewegung tätig. Von 1932 bis 1935 war er mit Augustin Souchy, Alexander Schapiro und Rudolf Rocker Mitglied im Sekretariat der Internationalen Arbeiter-Assoziation (IAA), die Ende 1922 in Berlin als Zusammenschluß der wichtigsten anarchosyndikalistischen Organisationen aus der ganzen Welt gegründet worden war. 1927 bis 1934 redigierte Lehning mit Albert de Jong, Augustin Souchy und Helmut Rüdiger den Pressedienst der Internationalen Antimilitaristischen Kommission (IAK), die sich aus Vertretern der IAA und des IAMB zusammensetzte. Hier wurden Kriegsursachen und -ziele und die Abrüstungsverhandlungen in Genf diskutiert, Informationen über die antimilitaristische Bewegung gesammelt und an ca. 800 Zeitungen und Zeitschriften weitergereicht.
Im Pressedienst der IAK wurde Ende der zwanziger und Anfang der dreißiger Jahre eine für die anarchistische Theoriebildung bedeutende Diskussion über die Methoden der Verteidigung einer siegreichen Revolution geführt. Lehning und sein Mitstreiter Albert de Jong lehnten für den Fall einer bewaffneten Intervention von außen jede gewaltsame Verteidigung der Revolution - etwa durch den Aufbau revolutionärer Milizen oder eines roten Heeres wie in der Sowjetunion - ab. Stattdessen plädierten sie für gewaltfreie Aktionen wie Streiks, Boykott, Steuerverweigerung, passiven Widerstand und Verweigerung jeder Zusammenarbeit mit den Aggressoren. In der Bildung einer Roten Armee und der damit einhergehenden Zentralisierung und Hierarchisierung sahen de Jong und Lehning die Gefahr eines Wiederaufbaus der gerade abgeschafften Staatsmacht. Auch wenn diese Theorie der gewaltsamen Verteidigung der Revolution mit dem anarchistischen Anliegen, die Ziele in den Mitteln vorwegzunehmen, übereinstimmt, blieben ihre Verfechter innerhalb der IAA in der Minderheit, da die Mehrheit angesichts des Faschismus in Deutschland und Italien die Bewaffnung des Proletariats erwog.
Von Januar 1927 bis Juni 1929 gibt Lehning die Avantgarde-Zeitschrift HO (s.FR vom 23.8.1997) heraus, in der alle neuen revolutionären Strömungen in Kunst und Politik zu Wort kommen und die seine Überzeugung widerspiegeln, daß "nur eine Revolutionierung des gesamten Lebens" den Aufbau einer herrschaftsfreien Gesellschaft ermöglicht. Unterstützt wird Lehning dabei von dem für Architektur zuständigen Redakteur JJ.P.Oud, Mitbegründer von "De Stijl" und dem für Film und Foto verantwortlichen Redakteur Laszló Moholy-Nagy. In der viersprachigen -auf niederländisch, deutsch, englisch und französisch erscheinenden - Zeitschrift schreiben die Dadaisten Hans Arp und Kurt Schwitters, der hier seine Sonate in Urlauten erstmals veröffentlicht, ebenso Artikel wie die Marxisten Ernst Bloch und Walter Benjamin, die Architekten Le Corbusier und Gerrit Rietveld, die Anarchisten Max Nettlau, Rudolf Rocker und Bart de Ligt, die Maler Wassily Kandinsky, Piet Mondrian und El Lissitzky, der Schriftsteller Upton Sinclair, die Frauenrechtlerin und Sexualreformerin Helene Stöcker und viele mehr. Lehning fordert in seinen Beiträgen die Freilassung der zum Tode verurteilten amerikanischen Anarchisten Sacco und Vanzetti, kritisiert die Filmzensur in Holland und setzt sich für ein Ende des Abtreibungsverbots sowie eine radikale Reform der sexuellen und gesellschaftlichen Moral in Holland ein. Nach dem Vorbild Franz Pfemferts in der "Aktion" zur Zeit des 1.Weltkrieges versucht Lehning durch den Abdruck offizieller Dokumente und von Zeitungsartikeln die Widersprüche und Lügen der veröffentlichten Meinung aufzuzeigen.
1934 und 1935 legt er, der als Ausländer sich in Holland nicht mehr politisch betätigen darf, seine Funktionen bei der IAK, der IAA und innerhalb des holländischen Anarchosyndikalismus nieder. Sein letztes praktisches Eingreifen führt ihn im Oktober 1936 nach Spanien, wo er als inoffizieller Vertreter der IAA vergeblich versucht, in Gesprächen mit führenden spanischen Anarchisten die Bürokratisierung und Zerschlagung der Sozialen Revolution zu verhindern.
Um die Jahrhundertwende 1935/36 wird er Mitarbeiter des von ihm mitgegründeten "Internationalen Instituts für Soziale Geschichte" (IISG) in Amsterdam. Durch seine Vermittlung erwirbt das IISG die Sammlung des anarchistischen Historikers Max Nettlau.
Seit 1939 baut Lehning in Oxford eine englische Filiale des IISG auf. Nach dem Ende seiner Internierung im Juni 1941 ist er wechselweise in der niederländischen Abteilung der BBC, im britischen Außenministerium und für das US-Kriegsinformationsministerium in London tätig. 1947 erhält er die britische Staatsangehörigkeit.
Im Februar 1952 fährt er nach Indonesien, um in Jarkarta eine Bibliothek für Soziale Geschichte aufzubauen, deren etwa 15.000 Titel Lehning in Reisen durch ganz Europa zusammengekauft hat. Von 1954 bis 1957 lehrt er an der Universität Jarkarta.
Von 1961 bis 1981 gibt er im Auftrag des IISG in sieben Bänden das "Archives Bakounine" heraus, eine nach Themen geordnete Sammlung der wichtigsten Werke Bakunins in der jeweiligen Originalsprache und einer französischen Übersetzung.
Nach dem Ende seines aktiven anarchosyndikalistischen Engagements 1936, das zeitlich mit dem Scheitern der spanischen Revolution bzw. der größten anarchosyndikalistischen Organisation, der spanischen CNT im spanischen Bürgerkrieg zusammenfällt, ist Lehning als Historiker tätig und ficht auf wissenschaftlichen Kongressen, in Vorlesungen und Vorträgen auf der ganzen Welt bzw. seinen Veröffentlichungen weiter für das Ziel einer libertären Gesellschaft, für deren Etablierung er nun - statt des Generalstreiks - das Mittel des Zivilen Ungehorsams vorschlägt.
Aus: Schwarzer Faden Nr. 69 (3/1999)
Gescannt von anarchismus.at