H. Arrigoni - Ein individualistisch-anarchistischer Standpunkt (1930)

Der Individualismus ist eine Gesellschaftsauffassung, nach der sich jedes menschliche Wesen eines Maximum an individueller Autonomie erfreuen soll. Es ist ein Zustand, in dem sich kein einziges Individuum einem Kollektivwillen unterwerfen muss oder soll, ausser es wäre dessen eigener Wunsch. Der Individualist lehnt es nicht ab, "in Gesellschaft" zu leben, er ist unfähig für alle seine Bedürfnisse selbst zu produzieren, nur muss ihm die Wahl der Assoziation, an der er teilzunehmen wünscht, freistehen. Er muss selbst das Recht besitzen, einer Gesellschaft anzugehören. Eine Umgebung in welcher sich die intellektuelle Verschiedenheit auf die mannigfaltigste Art harmonisch voll auswirken kann, innerhalb eines solchen will er zum gemeinsamen Wohle beitragen. Er ist für eine geregelte Produktionsweise, weil eine ungeregelte Produktion letzten Endes das ökonomische Gleichgewicht der Gesellschaft gefährden und diese selbst zerstören würde.

Es ist ein Irrtum, wenn angenommen wird, der Individualist suche sich von der Gruppe zu isolieren. Die Individualisten sind wie alle anderen menschlichen Wesen gesellschaftlich und betätigen gesellschaftliche Kontrakte, aber sie ziehen es vor, sich die Gesellschaft, an der sie teilzunehmen gewillt sind, selbst zu wählen. Wir sind gegen jedes Aufzwingen des Willens, sei es des eines Individuums oder einer Mehrheit, und wenden uns mit aller Energie und allen Mitteln gegen jede Mehrheit, die es sich herausnimmt, ihren Willen einer Minderheit aufzuzwingen und mag sich diese auch anarchistisch nennen. Eine Gesellschaft, in der ein einziges Individuum auf die Erfüllung seiner Wünsche verzichten muss und gezwungen ist, seine Rechte zu opfern, kann nicht eine anarchistische sein. Man möge uns gut begreifen: wir wollen auch nicht, dass sich eine Mehrheit vor irgendeinem Individuum beuge; wir kämpfen für eine Gesellschaftsordnung, wo zur Verwirklichung des gemeinsamen Glückes keine Opferung notwendig ist.

Aber wie ist ein solcher idealer Zustand zu verwirklichen, der es jedem Individuum ermöglicht, die volle Befriedigung seiner Wünsche und Bedürfnisse zu erreichen, der jedem die volle Betätigung ohne Einschränkung seiner Freiheit garantiert; wo das Interesse der Gemeinschaft kein Vorwand für einen Verzicht bilden kann? Eine anarchistische Gesellschaft muss Platz haben für alle und jedem sich zu gruppieren und zu betätigen nach allen Richtungen, ohne in die Rechte des Anderen einzugreifen.

Der Individualismus garantiert die Freiheit ohne Einschränkung von der Seite eines Individuums oder einer Kollektivität. Ich glaube, dass es nicht nötig ist zu sagen, dass der Individualismus, von dem ich spreche, der anarchistische Individualismus ist.

So wie es falsch ist, zu behaupten, der Individualismus isoliere das Individuum von der Gruppe, genau so falsch ist es, wenn man behauptet, der Individualist kämpfe nur für sein eigenes Glück und seinem eigenen Wohlstand. Die Individualisten verabscheuen die Heuchelei und sagen es frei heraus, dass sie in erster Linie für ihre eigenen Interessen kämpfen. Doch die hitzigsten Versicherungen des Gegenteiles ändern nichts daran, dass die Gesellschaft notwendig ist und dass man manchen Nutzen aus ihr ziehen kann. Aber wir behaupten, dass es äusserst notwendig ist, die populären Vorurteile über sie zu bekämpfen, um diese Gesellschaft endlich von ihrer Ungerechtigkeit der grausamen, gefühllosen Sklaverei zu befreien. In diesem Kampf kämpfen wir auch für unsere eigene Sache, weil wir wissen, dass in einer auf Sklaverei beruhenden Gesellschaft kein Individuum sich der Freiheit erfreuen kann. Wir lehnen die Märtyrerkrone ab – nicht aus Bescheidenheit, sondern weil wir aufrichtig sind. Wir verdienen sie nicht mehr; als jeder andere.

Der anarchistische Individualist verachtet die Masse nicht. Dies wäre absurd, weil wir selbst ein Teil dieser Masse sind. Wenn wir mit ihren Leiden sympathisieren, wenn wir die gegen ihr begangenen Ungerechtigkeiten so lebhaft mitfühlen, so geschieht dies darum, weil wir dieselben Ungerechtigkeiten erdulden. Die Masse ist ausgebeutet und wir sind es ebenfalls, die Masse wird durch den Staat bedrückt, so wie wir. Die Masse besitzt keine Freiheit um sich Wohlstand zu schaffen, wir befinden uns in einer ähnlichen Lage. Wenn wir das Schmerzhafte unserer Lage gründlicher empfinden, geschieht es darum, weil wir uns der räuberischen Brutalität unserer Herrscher bewusster sind. Auf dem Wege unserer Selbstbefreiung, wo wir unsere Hilfe in den Dienst der Befreiung der Masse von der Brutalität des Kapitalismus stellen, sind wir jederzeit bereit, uns gegen diese Masse zu wenden, wenn sie sich in den Dienst der Ausbeuter stellt, um das Joch der Sklaverei zu erhalten.

Ihre Unkenntnis oder unsere Empfindsamkeit kann für uns kein Hindernis sein, auf sie loszuschlagen, wenn man uns zu vergewaltigen sucht. Drücken wir uns in klaren Worten aus: wir sind böse, wenn wir dazu gezwungen werden, aber wenn man uns zu Barbaren machen will, können wir auch Unzivilisierte werden. Im anderen Falle sind wir die Sanftmut selbst. Wenn wir aus freien Stücken gut sind, so sind wir unfreiwillig böse: es sind unsere Feinde, die uns dazu machen. Sie allein tragen die volle Verantwortung ihrer Bosheit und tragen auch die volle Verantwortung für unsere Handlungen, weil wir uns nur um das Leben und einen Teil unseres Rechtes der Selbstentschliessung zu erhalten, ihrer eigenen, uns vergewaltigenden Methoden der Gewalt bedienen.

Für uns ist das Problem der gesellschaftlichen Umgestaltung mehr ein Problem der Erziehung als ein Problem der Revolution. Die Revolution besitzt keine Möglichkeit die Gesellschaft umzugestalten, wenn die Erziehung nicht den Weg vorbreitet hat. Aber wir sind Kinder unserer Zeit und die Umstände, unter denen wir leben – unglücklicherweise – bringen es mit sich, dass die Gewalt und nicht die Vernunft Herr aller politischen und ökonomischen Gegensätze ist. Es ist also nicht unsere Schuld, wenn wir jede Gelegenheit ergreifen, um die barbarische soziale Ordnung, in der wir leben, zu vernichten. Es steht uns nicht frei, die Kampfmittel zu wählen. Wir würden lieber die friedlichen Waffen der Zivilisation anwenden: die Erziehung. Aber die Endabrechnung, wenn es eine gibt, und diene diese Revolution auch nur dem Versuch, würde uns nicht enttäuschen. Etwas Agitation ist jederzeit eine gute Uebung für unser immer zufriedenes Proletariat, speziell wenn es sich um den Kampf für eine Angelegenheit handelt, welche die seine ist.

Quelle: contra. Anarchistische Monatsschrift Jahrg. I. Wien, 25. Oktober 1930 No. 7. Übersetzt aus l'en dehors, Nr. 190, Orleans 1930, von J. K.

Originaltext: http://anarchistischebibliothek.org/library/h-arrigoni-ein-individualistisch-anarchistischer-standpunkt


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