Rudolf Rocker - Gegen den Strom trotz alledem!
Es gehört wahrlich Mut dazu, Mut und unbegrenzte Hoffungsfreudigkeit, nach den fernen Horizonten einer neuen Zukunft Ausschau zu halten, in einer Zeit, wo alle Mächte der Vergangenheit entfesselt und namenloses Elend gepaart mit geistiger Bedrückung wie ein Alpdruck auf den Völkern lastet. Der griechische Weise könnte auch heute wieder mit brennender Laterne am helllichten Tage auf die Suche gehen, um Menschen zu finden, neue Menschen mit heißem Vertrauen und brausenden Herzen, die mit furchlosem Schritt einer kommenden Zeit entgegenschreiten; das Ergebnis würde mager genug ausfallen im Zeitalter der unverhüllten nationalistischen Reaktion und des Faschismus, der Diktaturgelüste von rechts und links, der kapitalistischen „Rationalisierung“ und der unbegrenzten Staatsgläubigkeit der großen Mehrheit unserer Zeitgenossen.
Doch ganz unbefriedigt würde der alte Diogenes nicht in seine Tonne zurückkehren, um seiner Rasse zu spotten. Er würde inmitten der geistigen und physischen Versklavung einer trostlosen Gegenwart immerhin genug Ansätze finden, die zu neuen Hoffnungen berechtigen, Keime eines neuen Lebens und eines neuen Menschentums, die aus der Tiefe zum Licht emporstreben. Jawohl, ein neues Menschentum bereitet sich vor und streitet bereits auf allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens gegen den Ungeist unserer Zeit, der, an ihm gemessen, noch hoffnungsloser und brutaler erscheint.
Vielleicht ist die heutige Reaktion, die nicht nur in den Kabinetten der Regierungen zu Hause, sondern schon allzu tief in den Geist und die Seele des heutigen Menschen eingedrungen ist, wie die letzten Geschehnisse mit aufrüttelnder Deutlichkeit bewiesen haben, vielleicht ist die heutige Reaktion nur das groteske Vorspiel, das der neuen Zeit vorausgeht wie die Dämmerung dem Licht der Sonne. Vielleicht ist es notwendig, dass ein bankrottes System seine geistige Unfähigkeit und inneren Widersprüche zuerst in allen Phasen seiner praktischen Betätigung bekunden muss, bevor das Neue sich kräftig und siegesfreudig durchsetzen kann.
Was für unsre Zeit so ungemein bezeichnend ist, ist der Mangel an Freiheitsgefühl. Zwar hat man nie soviel von Persönlichkeit und Individualität gesprochen wie heute; aber man hat auch nie vorher versucht, das Denken und Handeln in so enge Schablonen zu pressen und die ödeste Uniformität jeder Lebensbetätigung zum Prinzip zu erheben. Besonders in Deutschland, wo die Uniformität des Denkens einen solchen Einfluss gewonnen hat, dass ihre Träger von rechts und links auch äußerlich die Uniform nicht mehr entbehren können.
War es früher die Aufgabe der Kirche, die vorgeschriebene Gesinnung des Menschen eigens zu bestimmen und in festen Normen niederzulegen, so ist diese Betätigung heute das Vorrecht des Staates und der auf seiner Ideologie fußenden Parteien geworden. Der loyale Staatsbürger und der typische Parteimensch unsrer Zeit, beide ruhmlose Symbole modernen Ungeists, haben den Platz des alten Kirchengläubigen vernommen und denken in derselben Richtung weiter. Der Mensch der Gegenwart leidet so stark an der Staatsgläubigkeit, die ihm von allen Seiten eingebläut wird, dass er Furcht hat, ins Bodenlose zu versinken, wenn sich die Formen des Staatsgefüges zu lockern beginnen. Aus diesem Grunde tobt er in unruhigen Zeiten wie ein Besessener und schreit nach dem starken Mann, der ihm das Gefühl der Sicherheit zurückgeben soll. Was er für Stärke hält, ist nur das Zugeständnis seiner eigenen Schwäche, die lärmende Kundgebung seines eignen Minderwertigkeitsgefühls. Der Staat ist ihm zur irdischen Vorsehung geworden, deshalb schätzt er die persönliche Initiative gering und erwartet alles Heil von den Diktaten der Auserwählten, die ihm in der Form der Gesetze vor Augen stehen. Er will die Sicherheit der Person durch das Aufgeben jeglicher Freiheit erkaufen und gerät dadurch immer tiefer in die geistige Hörigkeit eines toten Mechanismus, dessen blinde Routine ihm den Geist ersetzen muss
Gewiss, auch er spricht von der Freiheit, aber immer nur wie die Hure von ihrer Unschuld. Er schachtelt sie ein in den Satzungen der Verfassung und legt ihr tausend Schlingen in der toten Paragraphenweisheit ihrer Gesetze, spricht von konstitutionellen Rechten und Freiheiten und begreift nicht, dass seine angeblichen Rechte die Gerechtigkeit erwürgen, seine Freiheiten die Freiheit im Prokrustesbett [Schema, in das jemand oder etwas hineingezwängt wird /Hrgb.] des Staates verröcheln lassen. Das hat Ibsen tief erkannt, als er an Brandes die inhaltsreichen Worte schrieb: „Was sie Freiheit nennen, nenne ich Freiheiten; und was in den Kampf für die Freiheit nenne, ist doch nichts anderes als die ständige, lebendige Aneignung der Freiheitsidee. Wer die Freiheit anders besitzt als das zu Erstrebende, der besitzt sie tot und geistlos, denn der Freiheitsbegriff hat ja doch die Eigenschaft, sich während der Aneignung stetig zu erweitern, und wenn deshalb einer während des Kampfes stehen bleibt und sagt: jetzt hab ich sie! – so zeigt er eben dadurch, dass er sie verloren hat. Aber gerade diese tote Art, einen gewissen festgelegten Freiheitsstandpunkt zu haben, ist etwas für die Staatsverbände Charakteristisches. ... Der Staat ist der Fluch des Individuums. Womit ist Preußens Stärke als Staat erkauft? Mit dem Aufgehen der Individuen in dem politisch-geographischen Begriff. Der Kellner ist der beste Soldat.“
Was wir erstreben, ist die Götterdämmerung des Staates, der Sieg der Gemeinschaft über den Ungeist politischer Bevormundung und wirtschaftlicher Unterdrückung. Wollt ihr den revolutionären Menschen erkennen, so prüft ihn auf seinen Drang zur Freiheit! Hier scheidet sich Neues von Altem, Beschränkung von Unabhängigkeit. Wer die Krücken autoritärer Bevormundung nicht entbehren kann, der gehört nicht zu den Neuen, der ist noch fest verwachsen mit den alten Mächten der Vergangenheit, von denn ihn keine noch so revolutionäre Phraseologie trennen kann. Solange die Revolutionäre von gestern die Reaktionäre von heute werden, ist das Ziel der Revolution nicht erfüllt, ist sie kein Prolog zu einem neuen Werden, sondern nur ein neues Kapitel in der schmerzenreichen und blutigen Geschichte menschlicher Sklaverei.
Sein eigenes Leben leben, jedes Ding nach eigenem Ermessen beurteilen, nicht länger mit den Gedanken unsrer Großväter denken – dies ist das erste Zeichen eines freien Menschentums.
Erst wenn uns die Freiheit zum inneren Erlebnis wird, bildet sich das Gefühl der Menschenwürde und der sozialen Gerechtigkeit. Im großen Wir die Wurzeln unsres eigenen Ichs erkennen, schafft wahre Kameradschaft und inneres Verbundensein, die uns keine Regierungsdekrete, keine Diktatur, keine Parteidisziplin geben können.
Nicht in verknöcherten Programmen und doktrinärer Rechtsgläubigkeit gibt sich der Drang zu einem neuen Leben kund, sondern in der lebendigen Betätigung der innersten Überzeugung und der Entfaltung schöpferischen Tuns auf allen gebieten des gesellschaftlichen und individuellen Geschehens. Doktrinarismus ist der Tod der Freiheit, ist blinder Glaube in wurmstichige Heiligtümer, aus denen der Geist längst entwichen ist, ist Verzicht auf eigenes Prüfen und eigenes Denken, ist Umformung glühender Wahrheitsfreude in totes Dogma und geistlosen Buchstabenglauben, der jeder Schöpferkraft entbehrt.
Wie die junge Pflanze sich nur im Lichte entfalten kann, so braucht die Idee praktische Betätigung, um fruchtbar zu sein im Kampfe gegen das Bestehende und für die Eroberung einer besseren Zukunft. Gerade heute, wo die Wogen der Reaktion immer höher schlagen, ist das Zusammenwirken aller freiheitlichen Kräfte eine dringende Notwendigkeit, wenn nicht der letzte Hauch freier Menschlichkeit ersticken soll im Sumpfe unerträglicher Tyrannei und blödester Reaktion. Wir sind umringt von einer Welt von Feinden, denn auch das Gros derjenigen, die sich Revolutionäre nennen, stehen gegen uns. Nie hatte das Wort Bakunins von „der offiziellen Reaktion und der offiziellen Revolution, die mit einander wetteifern in Nichtigkeit und Dummheit“, eine größere Bedeutung als heute. Deshalb unsre Parole als Anarchisten: Gegen den Strom, trotz alledem und alledem!
Originaltext: Fanal, Nr. 1/1930. Digitalisiert von www.anarchismus.at