Rudolf Rocker - Biographie von Fritz Kater

Ein Leben für den revolutionären Syndikalismus

Fritz Kater, der treue Freund und Genosse vieler Jahre, die nun längst verklungen sind, ist nicht mehr. Ein holländischer Freund, der unlängst in Berlin gewesen, gab mir die erste Nachricht vom Tode des alten Kameraden, die später durch andere bestätigt wurde. Fritz Kater, dessen Name weit über die Grenzen Deutschlands bekannt war, war bereits ein Mann von über 83 Jahren, als er im Mai 1945 sein Ende fand. Der alte Mann war physisch und geistig noch wohl erhalten und hatte den ganzen Krieg überlebt, als er durch einen tragischen Zufall vom Tode gefällt wurde. Als er am 8. Mai in seinem kleinen Garten arbeitete, entdeckte er eine sogenannte "Panzerfaust", eine Art Brandgranate in der Erde, die von dem furchtbaren Bombardement über Berlin zurückgeblieben, aber nicht explodiert war. Wahrscheinlich wollte er das Geschoß unschädlich machen, das aber plötzlich krepierte und dem Alten Gesicht und Brust furchtbar verbrannte. Nach zwölf Tagen im Krankenhaus erlag er endlich seinen Qualen. Hätte ihn die Kunst der Ärzte gerettet, so wäre er blind geblieben, so daß der Tod für ihn schon das beste war. Dabei wurde ihm auch ein anderes furchtbares Leid erspart: Sein Sohn Hans, der mit seiner Familie in einem anderen Teile Berlins wohnte, wurde einige Tage vor dem Tod seines Vaters zusammen mit seiner Frau und einer seiner beiden Töchter durch eine Bombe getötet. Davon hatte der Greis glücklicherweise nichts mehr erfahren.

Mit Fritz Kater ist einer der alten Vorkämpfer und eine der bekanntesten Persönlichkeiten der deutschen Arbeiterbewegung dahingegangen. Ich habe mit ihm lange Jahre zusammen gearbeitet in der Bewegung und stand mit ihm auch nach meiner Flucht aus Deutschland noch in geheimer Verbindung, bis Amerika in den Krieg hineingezogen wurde, wodurch unsere Korrespondenz ein Ende fand. Da auch sein Schwiegersohn, A.D. Santillan, in Buenos Aires lange nichts mehr von ihm vernommen hatte, so glaubte ich ihn längst tot. Umso tiefer berührte mich daher die Nachricht von seinem grauenhaften Ende.

Kindheit und Jugend  

Fritz Kater wurde am 19. Dezember 1861 in Barleben, nicht weit von Magdeburg als Sohn eines armen Feldarbeiters geboren und hatte eine sehr schwere Jugend durchgemacht. Seine Mutter kannte er überhaupt nicht, denn er verlor sie, als er noch ein Kind von kaum zwei Jahren war. Seinem Vater waren innerhalb neun Jahren zwei Frauen und drei Kinder gestorben, so daß er gezwungen war, ein drittesmal zu heiraten, da er bei einem Lohn von einer Mark und zwanzig Pfennige den Tag (nach amerikanischem Geld etwa 45 Cent) sich nicht erlauben konnte, seine Kinder in fremde Pflege zu geben. Die Stiefmutter war den Kindern aus der ersten und zweiten Ehe nicht gerade wohlgesinnt und so kam es, daß der kleine Fritz bereits sehr viele trübe Stunden in seinem jungen Leben kennen lernte.

Das graue Elend in der Familie brachte es ganz von selbst mit sich, daß die Kinder von der frühesten Jugend an, sobald sie nur dazu fähig waren, zum Lebensunterhalt mit beitragen mußten, auch wenn es nur wenige Pfennige waren, denn im Hause eines preußischen Landarbeiters aus jener Zeit war jeder Groschen Kapital. Für den jungen Fritz begann die Arbeit bereits mit dem fünften Lebensjahr. Die Schulstunden wurden von einer weisen Obrigkeit extra kurz gehalten, damit die Kinder sich der Arbeit widmen konnten. Die Kinder gingen morgens von acht bis elf und nachmittags von eins bis drei Uhr in die Schule; nach der Schule begann sofort die Arbeit - im Sommer auf dem Felde und im Winter im Hause. Während seiner letzten zwei Schuljahre arbeitete Fritz in den Wintermonaten in einer benachbarten Zuckerfabrik und zwar täglich von sechs Uhr abends bis nachts zwölf, wofür man ihm die königliche Summe von 50 Pfennige pro Tag bezahlte. Schuhe oder Stiefel waren dem Kinde völlig fremd. Vom Frühjahr bis Spätherbst ging es barfuß über Stock und Stein; während der Wintermonate trug der Knabe schwere Holzpantinen, die mit Stroh ausgefüllt wurden, damit er sie beim Gehen nicht verlor. Erst als er als Vierzehnjähriger aus der Schule entlassen wurde, bekam er die ersten Stiefel, die mit schweren Nägeln beschlagen waren, denn er wurde nun als Ochsentreiber beschäftigt, und diese Arbeit konnte nicht in Tanzschuhen verrichtet werden.

Fritz Kater erzählte mir so manche trübe Episode aus den Jahren seiner Kindheit. Es war eine traurige Jugend, die nur selten durch einen Lichtblick erhellt wurde; aber solche Zustände waren damals unter der proletarischen Landbevölkerung durchaus nicht selten. Der Vater war ein strenger Mann, der durch schwere Arbeit und die ständige Not im Hause verbittert war, was die Kinder oft genug zu fühlen bekamen. Trotzdem sprach Fritz stets mit großer Achtung von seinem Vater und meinte, daß ein Mensch in seiner Lage nicht anders sein konnte. Vor allem war er dem Vater dankbar dafür, weil dieser einsah, daß sein Sohn als Ochsenknecht niemals auf einen grünen Zweig kommen konnte und ihn deshalb später zu einem Maurer in die Lehre gab. Dort verdiente der Junge im ersten Lehrjahr 75 Pfennige den Tag, im zweiten eine Mark und im dritten Lehrjahr steigerte sich der Lohn auf eine Mark und fünfzig Pfennige. Davon erhielt der Knabe von seinem Vater zuerst 25 Pfennige und später 50 Pfennige die Woche Taschengeld; das übrige wurde für den kärglichen Haushalt verwendet.

Im Winter, wenn das Bauhandwerk ruhte, mußte der Junge in der Zuckerfabrik arbeiten. Die Arbeitszeit dort belief sich auf zwölf Stunden den Tag. Da aber die Fabrik über eine Stunde von der Wohnstätte entfernt war und der Weg natürlich zu Fuß zurückgelegt werden mußte, so gingen jeden Tag noch einmal zwei bis drei Stunden verloren, so daß für Erholung wenig Zeit übrig blieb.

Als Fritz seine Lehrzeit beendet hatte, war sein Vater bereits ein alter kranker Mann, den die Arbeit zermürbt hatte. Wie alle Feldarbeiter, so besaß auch der Alte ein Stück Pachtland, auf dem nach der täglichen Arbeit bei dem Gutsbesitzer alles gepflanzt wurde, was zur Erhaltung der Familie notwendig war, da diese bei den niedrigen Löhnen, die damals gang und gäbe waren, überhaupt nicht hätte existieren können. Da der alte Mann zu dieser Extraarbeit nun nicht mehr fähig war, so mußte sein Sohn Fritz nun, nachdem er seine tägliche Arbeit als Maurer beendet hatte, während des Sommers in den Abendstunden und an Sonntagen, das kleine Stück Land der Familie bestellen.

Nur in den Wintermonaten fand er etwas freie Zeit, um an seiner eigenen Ausbildung arbeiten zu können. Daß er überhaupt noch daran dachte, beweist, daß er kein Durchschnittsmensch war, denn Menschen, die unter solchen Verhältnissen aufwachsen, haben in der Regel kein großes Bedürfnis für geistige Dinge. Der Zufall wollte es, daß ihm ein Band von Fritz Reuter in die Hände fiel. Der köstliche Humor des plattdeutschen Dichters, dessen Mundart dem niederdeutschen Dialekt, der in Katers engerer Heimat gesprochen wurde, sehr ähnlich war, machte auf den jungen Menschen einen mächtigen Eindruck, der ihn nie wieder losließ. Fritz Reuter blieb sein Lieblingsdichter und seine prächtigen Werke nahmen in späteren Jahren stets einen Ehrenplatz in der kleinen, aber gut ausgewählten Bücherei unseres verstorbenen Freundes ein. Das war kein Zufall, denn Kater fand in den vortrefflichen Darstellungen, die Reuter von dem Mecklenburger Landleben entworfen hatte, etwas wesensverwandtes. Dabei mußte der freie Geist des Dichters, der in seiner Jugend einer ruchlosen Reaktion zum Opfer fiel und viele der besten Jahre seines Lebens hinter Festungsmauern vertrauern mußte, einen jungen Menschen von dem Temperament Fritz Katers besonders tief beeindrucken. Von nun an wurde der junge Fritz ein eifriger Leser, und da er niemanden hatte, der ihm dabei eine Anleitung geben konnte, so verschlang er wahllos jedes Buch, das ihm gerade in die Hände kam.

Als die Zeit herannahte, wo Fritz seiner Militärpflicht genügen mußte, wirkte sich für ihn die Arbeitsunfähigkeit seines alten Vaters zum Segen aus. Der alte Mann, der vollständig auf die Unterstützung seines Sohnes angewiesen war, reichte bei den Behörden ein Gesuch ein, auf Grund dessen Fritz von der Militärpflicht entbunden wurde, wodurch ihm der blöde preußische Kasernendrill erspart blieb.

Unter dem "Sozialistengesetz"  

Mit der Arbeiterbewegung und sozialistischen Ideen wurde Kater ziemlich früh bekannt. Für die deutsche Arbeiterschaft bestand damals eine schwere Zeit. Im Oktober 1878 hatte der Reichstag unter dem Druck Bismarcks das "Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie" in Kraft gesetzt, das zwölf Jahre lang jede öffentliche sozialistische Betätigung fast vollständig unmöglich machte. Die gesamte sozialistische Presse und alle Organisationen der Sozialdemokratischen Partei wurden mit einem Schlage unterdrückt. Aber das Gesetz begnügte sich damit nicht; auch alle gewerkschaftlichen Verbindungen der Arbeiter, die irgendwie im Verdacht standen, sozialistischen Anschauungen zu huldigen, wurden von der Polizei kurzerhand aufgelöst. Nur die farblosen Verbände der Buchdrucker und Zigarrenmacher, sowie die Hirsch-Dunkerschen Gewerkschaften (1), die mit den Sozialisten keine Beziehungen unterhielten, entgingen dem Verbot.

Die infamste Seite des "Sozialistengesetzes", wie es in Deutschland kurz genannt wurde, bestand darin, daß es Menschen nicht bloß wegen ungesetzlicher Handlungen bestrafte, sondern sie auch ihrer Gesinnung wegen verfolgte, auch wenn sie sich keiner strafbaren Dinge schuldig gemacht hatten. Es genügte, daß jemand der Polizei als wirklicher oder angeblicher Sozialist bekannt war, um aus seinem Wohnort ausgewiesen zu werden. Viele Hunderte ehrliche Arbeiter wurden auf diese Weise aus dem Kreise ihrer Familien gerissen und von Haus und Heim vertrieben, wodurch Frau und Kinder häufig in die höchste Not gerieten. Wenn ein solcher Ausgewiesener endlich wieder in einer anderen Stadt Arbeit und Brot gefunden hatte, so konnte er von seiner neuen Wohnstätte bei der ersten Gelegenheit wieder vertrieben werden, da er ganz und gar der Willkür der Polizei preisgegeben war.

Das Gesetz erlaubte der Polizei bei irgend einem Anlaß, den "kleinen" oder "großen Belagerungszustand" über ganze Städte und Gebiete zu verhängen, ohne daß die Bevölkerung etwas dagegen tun konnte. Bei solchen Gelegenheiten brach die Polizei in Hunderte von Wohnungen ein, um Haussuchungen nach verbotenen Schriften vorzunehmen, wobei dann jedesmal eine große Anzahl von Personen ausgewiesen wurde. Der Zweck dieser brutalen Verfolgungen war, die Arbeiter einzuschüchtern, aber man erreichte damit gerade das Gegenteil. Vor dem Sozialistengesetz war die sozialistische Bewegung hauptsächlich auf die großen Städte beschränkt; aber durch die Praxis der Ausweisungen wurden viele aktive Sozialisten in kleine Orte verschlagen, so daß die Bewegung allmählich über das ganze Land verbreitet wurde. Sogar die gemeine Spitzelwirtschaft der Regierung und der politischen Polizei konnte an dieser Tatsache nichts ändern; sie vergiftete und korrumpierte nur das öffentliche Leben.

Überall bildeten sich geheime Organisationen, welche die im Ausland gedruckten Blätter und Broschürenliteratur, die in Deutschland regelmäßig eingeschmuggelt wurden, im Lande verbreiteten. Da das Gesetz alle zwei Jahre im Reichstag erneuert werden mußte, so wurden oft kleine Änderungen vorgenommen, die den Arbeitern in mancher Beziehung eine größere Bewegungsfreiheit gestatteten. So erlaubte man 1882 die Gründung von sogenannten Fachvereinen, die sich natürlich nur mit den Angelegenheiten ihrer Industrie beschäftigen konnten, aber keinerlei Politik betreiben durften. Auch war es diesen Vereinen streng verboten, miteinander in Verbindung zu treten.

Im Jahre 1883 gründete ein aus Berlin ausgewiesener Zimmermann in Magdeburg einen solchen Fachverein der Bauarbeiter, dem auch Fritz Kater beitrat. Im engeren Verkehr mit seinen Kameraden wurde er auch mit einigen aus Berlin und Hamburg ausgewiesenen Sozialisten bekannt und bald für die Sache des Sozialismus gewonnen, da bei ihm alle Anlagen dazu bereits vorhanden waren. Der strebsame junge Mensch sah sich plötzlich in eine neue Welt versetzt und verwendete nun jede freie Stunde mit dem Studium der verbotenen sozialistischen Literatur, die ihn mächtig anregte. Das ganze Elend seiner freudlosen Jugend wurde ihm mit einem Mal vollständig klar und sein Gerechtigkeitsgefühl empörte sich gegen das soziale Unrecht, dessen innere Zusammenhänge ihm nun erst richtig zu Bewußtsein kamen. Von nun an widmete er sein ganzes Leben der großen Sache der sozialen Befreiung, die seinem Dasein Zweck und Inhalt gab.

Fritz Kater war ein sehr begabter Mensch mit viel praktischem Sinn und organisatorischer Befähigung. So konnte es nicht ausbleiben, daß seine Genossen bald auf seine Fähigkeiten aufmerksam wurden und ihn mit mancherlei Aufgaben betrauten, die in jener Zeit nicht ungefährlich waren und aufrechte und opferwillige Männer forderten. Kater beteiligte sich nicht nur an den Arbeiten seiner Berufsorganisation, sondern war auch unermüdlich in der unterirdischen sozialistischen Bewegung tätig, die mit der Polizei stets auf dem Kriegsfuß stand und der die Fachvereine vielfach nur als Deckung dienen mußten.

1887 gründete Kater in seinem Heimatsort, Barleben, einen Fachverein der Maurer, dessen Vorsitzender er wurde und versuchte auch die Arbeiter der dortigen Zuckerfabrik, in der er als Kind gearbeitet hatte, zu organisieren. Damit zog er den besonderen Haß der Gutsbesitzer und der mit diesen verbündeten Behörden auf sich. Der dortige Landrat, ein stock-konservativer Junker, hatte es besonders auf ihn abgesehen und versuchte, ihm das Leben durch polizeiliche Haussuchungen schwer zu machen, bei denen aber niemals etwas gefunden wurde. Auch denunzierte man ihn häufig bei seinen Arbeitgebern, ein damals sehr beliebtes Mittel der Polizei, um unbequeme Personen brotlos zu machen, und um sie durch stete Schikanen der Bewegung zu entfremden. Endlich gelang es dem Landrat dann aber doch, mit dem unbequemen Störer eine kleine Abrechnung zu halten: 1889 wurde Kater wegen Abhaltung einer nicht erlaubten Versammlung zu zwei Monaten Gefängnis verurteilt. Gebessert wurde er dadurch nicht, aber er war um eine neue Erfahrung reicher geworden.

Nach dem Sturz Bismarcks, der dem Regierungsantritt Wilhelm II. folgte, waren auch die Tage des Sozialistengesetzes gezählt. Jenes infame Ausnahmegesetz, das die deutsche Arbeiterschaft zwölf Jahre lang politisch entrechtet und der schrankenlosen Willkür einer skrupellosen Polizei preisgegeben hatte, hatte seinen Zweck vollständig verfehlt. Die brutalen Verfolgungen, durch welche tausende von Arbeiterfamilien in Not und Elend gestürzt wurden, die für die Gesinnungstreue ihrer Ernährer büßen mußten, hatte die Widerstandskraft der Arbeiter nur gestärkt und die Bewegung über das ganze Land verbreitet. Als daher das Gesetz im Oktober 1890 zu Fall kam und die Sozialdemokratische Partei noch im selben Jahre ihren ersten Kongreß wieder auf deutschem Boden abhalten konnte, zeigte es sich dabei, wie stark die Bewegung überall angeschwollen war.

Innerparteiliche Opposition: Johann Most und die "Jungen"

Eines aber hatte das Sozialistengesetz doch fertig gebracht. Es hatte während den Jahren der Verfolgungen den freien Meinungsausdruck, der nur in einer öffentlichen Bewegung möglich ist, völlig gelähmt und den parlamentarischen Führern der Partei, die in der sozialdemokratischen Fraktion des Reichstags eine Macht in die Hände gespielt, die sie vor dem Sozialistengesetz nie besessen hatten. In einem Lande wie Deutschland, dem die revolutionären Überlieferungen der westeuropäischen Völker vollständig fehlten, und das den Sozialismus nur in der autoritären Form des Marxismus und des von Lassalle vertretenen Hegelschen Staatskultus kennenlernte, war dies doppelt verhängnisvoll. Gegen diesen Einfluß hatte sich bereits in den ersten Jahren des Sozialistengesetzes die Opposition von Johann Most und Wilhelm Hasselmann erhoben, die aber beide auf dem geheimen Parteikongreß auf Schloß Wyden in der Schweiz (1881) aus der Partei ausgeschlossen wurden. Und doch waren Most und Hasselmann damals noch ausgesprochene Sozialdemokraten, welche die theoretischen Grundsätze des Parteiprogramms anerkannten und deren Ausschluß lediglich auf ihre Kritik gegen die Machenschaften der Reichstagsfraktion zurückzuführen war. Es war nicht zuletzt die gehässige Unduldsamkeit der parlamentarischen Führer der Partei, die Johann Most erst auf den Weg führten, den er später eingeschlagen hatte und der folgerichtig im Anarchismus ausmündete (2).

Eine neue Opposition in der Partei bildete sich in den späteren Jahren des Sozialistengesetzes, die hauptsächlich von den geheimen Gruppen in Berlin und Magdeburg ausging, später aber auf alle wichtigen Städte des Landes Übergriff. Auch die "Opposition der Jungen", wie man sie damals nannte, kam aus dem Schoß der Sozialdemokratie selbst. Ihre Anhänger waren gute Marxisten und standen zunächst jeder anderen sozialistischen Richtung vollständig fern. Sie bekämpften den Einfluß der parlamentarischen Führerschaft und deren zentralistische Bestrebungen und forderten eine größere Unabhängigkeit der örtlichen Gruppen innerhalb der Partei, die mehr in der Richtung zum Föderalismus lag, dessen eigentliche Bedeutung sie aber erst später richtig erkannten. Ihre Kritik richtete sich vornehmlich gegen das Nur-Parlamentariertum in der Bewegung, in dem sie eine Versandung der sozialistischen Grundsätze der Partei erblickten. In dieser Hinsicht vertraten sie ganz dieselben Gedankengänge, die Wilhelm Liebknecht in seiner bekannten 1869 in Berlin gehaltenen Rede "Über die politische Stellung der Sozialdemokratie" zum Ausdruck brachte (3). Aber die Zeiten hatten sich geändert, und Liebknecht selbst gehörte nun gerade zu denen, welche die "Jungen" am gehäßigsten bekämpften, für Ansichten, die er zwanzig Jahre vorher noch selbst vertreten hatte.

Dieser innere Kampf zwischen den "Alten" und den "Jungen", der bereits vor dem Fall des Ausnahmegesetzes besonders in Berlin seinen Austrag fand, als das Gesetz schon etwas linder gehandhabt wurde, erreichte seinen Höhepunkt, als die gesetzlichen Schranken gegen die unterdrückte Bewegung endlich gefallen waren. Leider wurden die Auseinandersetzungen zwischen beiden Richtungen von Anfang an auf eine Stufe herab gedrückt, auf der keine Ideenkämpfe ausgefochten werden sollten. Schuld daran waren die maßlosen persönlichen Angriffe der alten Führer gegen die Vertreter der Opposition, denen man die schlimmsten Motive unterschob und die man sogar unter der Hand als Werkzeuge der Polizei in Verruf zu bringen versuchte. Wer jene Zeiten nicht persönlich miterlebt hat, kann sich heute kaum eine Vorstellung machen, mit welchen Mitteln die "Jungen" bekämpft wurden. Daß die Wortführer einer Partei, die zwölf Jahre lang von ihren Gegnern mit den schofelsten und niederträchtigsten Mitteln verfolgt wurde, eine Opposition im eigenen Lager nun mit denselben Mitteln eines ungezügelten Fanatismus mundtot zu machen suchte, war nicht bloß beschämend, sondern geradezu tragisch. Und doch waren die so schnöde Angegriffenen ehrliche und achtbare Männer, gegen deren persönliche Ehrbarkeit niemand das geringste einwenden konnte, und die in den Jahren der schlimmsten Verfolgungen furchtlos ihren Mann gestanden hatten. Das erkannten auch sehr geachtete Führer der sozialistischen Bewegung im Ausland, wie Domela Niewenhuis, Christian Comelissen und manche anderen, die damals selbst noch im sozialdemokratischen Lager standen, sich aber der Sache der "Jungen" in Deutschland wacker annahmen und die schäbige und hinterhältige Art, in der man sie bekämpfte, rücksichtslos verurteilten.

Fritz Kater gehörte zwar nie dem engeren Kreise der "Jungen" an, aber er wurde nichtsdestoweniger stark von ihren Ideen beeinflußt, die ihm zweifellos den ersten Anstoß für seine weitere Entwicklung gaben. Dazu kannte er die Wortführer der Berliner Opposition, Bruno Wille, Carl Wildberger, Wilhelm Werner, Max Baginski usw. persönlich als redliche, kampferprobte Männer, deren lautere Absichten er nie bezweifelte. Kater war einer der Begründer der "Magdeburger Volksstimme", einer sozialdemokratischen Tageszeitung, die bald nach dem Fall des Sozialistengesetzes ins Leben gerufen wurde. Die Schriftleiter dieses Blattes, Dr. Hans Müller, Paul Kampffmeyer und Fritz Köster waren Anhänger der Opposition der Jungen und verteidigten deren Sache mit viel Geschick und wurden nur aus diesem Grunde durch einen Beschluß des Sozialdemokratischen Parteivorstandes sehr schnell ihrer Stellung enthoben und durch andere ersetzt, die den alten Führern der Partei kerne Schwierigkeiten machten.

Die beiden Parteikongresse in Halle (1890) und Erfurt (1891) beschäftigten sich weitläufig mit der Frage der "Jungen" und zwar in einer Weise, wie man es nach den trüben Vorgängen der letzten Jahre nicht anders erwarten konnte. Fritz Kater war auf beiden Kongressen als Delegierter anwesend und stimmte in Erfurt gegen den Ausschluß der "Jungen". Die Ausgeschlossenen traten bald darauf in Berlin zu einer Konferenz zusammen und gründeten die "Vereinigung unabhängiger Sozialisten", die in kurzer Zeit eine organisierte Anhängerschaft in allen bedeutenden Städten des Landes fand. Im November 1891 wurde in Berlin "Der Sozialist" als Organ der neuen Bewegung ins Leben gerufen, das jahrelang das von der Regierung am meisten verfolgte Blatt Deutschlands war. Die neue Bewegung machte dieselbe Entwicklung durch, die Johann Most und seine Anhänger bereits in den ersten Jahren des Sozialistengesetzes durchgemacht hatten. Sie näherte sich immer mehr den Ideengängen des freiheitlichen Sozialismus, bis sie endlich 1893, nachdem der junge Gustav Landauer die Redaktion des "Sozialist" übernommen hatte, sich offen zum Anarchismus bekannte. Es war das erstemal, daß der Anarchismus in Deutschland als offene Bewegung auftreten konnte. 1892 hatten die Anarchisten in Berlin bereits einen Versuch gemacht, sich ein eigenes Organ zu schaffen, die "Berliner Arbeiterzeitung", aber die Polizei konfiszierte die ganze Auflage der ersten Nummer, von der kein Dutzend Exemplare an die Öffentlichkeit gelangten.

Fritz Kater hatte an jener Bewegung keinen Anteil genommen, obgleich er offenkundig mit ihr sympathisierte. Seine Entwicklung vollzog sich langsamer. Er hatte der Sozialdemokratie seine besten Kräfte gewidmet, und sogar seine unermüdliche Arbeit in den Gewerkschaften hatte zunächst nur den Zweck, diese mit sozialistischem Geist zu erfüllen und sie zu einer Vorschule für die Partei zu machen. Obgleich er stets auf dem linkesten Flügel der Partei stand, konnte er sich doch nicht entschließen, einen offenen Bruch herbeizuführen, obgleich er längst wußte, daß ihm die alten Führer nicht gewogen waren. Das zeigte sich besonders deutlich, als er 1891 wegen einer Rede zu einer neuen Gefängnisstrafe verurteilt wurde. Als bei dieser Gelegenheit der bekannte sozialistische Schriftsteller Paul Kampffmeyer, der Kater kannte und ihn seiner aufrechten Gesinnung wegen stets achtete, an den Vorsitzenden des sozialdemokratischen Parteivorstandes, Ignaz Auer, herantrat und ihn fragte, weshalb man Katers Familie keine Unterstützung gewährte, während er im Gefängnis saß, antwortete ihm Auer seelenruhig: "Lieber Genosse Kampffmeyer, Leuten gegenüber, die mit den Jungen so offensichtlich sympathisieren wie Ihr Freund Kater, muß man mit Unterstützungen vorsichtig sein. Von uns bekommt er nichts!" - Und dabei blieb es, obgleich sich Kater seine Strafe im Dienste der Partei zugezogen hatte.

Als ich Kater einmal fragte, weshalb er sich nicht bereits damals schon der jungen Bewegung angeschlossen habe, deren Grundsätze er doch eigentlich teilte, antwortete er mir in seiner ruhigen Art: "Ja, das frage ich mich heute auch. Aber die Partei war für mich alles. Ich hatte förmlich Angst vor einer Zersplitterung der sozialistischen Bewegung, nachdem gerade das Sozialistengesetz gefallen war und wir nun wieder öffentlich arbeiten konnten. Ich hatte der Partei alles gegeben, was ich vermochte, ohne je eine öffentliche Stelle zu bekleiden, die mir persönlichen Nutzen verschaffen konnte. Ich hegte daher immer noch die Illusion, daß die Partei schließlich doch noch zu einer besseren Einsicht gelangen würde. Daß dies falsch war, begriff ich leider erst viel später."

Kater gehörte eben zu jener kleinen Minderheit, denen der Sozialismus zum inneren Erlebnis wurde, und da er keine andere Richtung kannte, außer dem Marxismus, so fiel ihm die Trennung schwer. Er war ein energischer Mann, doch gehörte er nie zu den Draufgängern, die sich leichtherzig über alle Schwierigkeiten hinwegsetzen können. Er besaß einen großen Verantwortlichkeitssinn und in Dingen, die ihm nahegingen, wurde ihm die Entscheidung oft sehr schwer. Vielleicht spielte dabei auch seine bäuerliche Abstammung eine Rolle, die mehr zu Bedächtigkeit veranlagt ist. Hatte er sich aber erst zu einer bestimmten Überzeugung durchgerungen, so verteidigte er das Errungene mit umso zäherer Beharrlichkeit. Kater hatte sich bereits als Sozialdemokrat von der Fruchtlosigkeit der parlamentarischen Betätigung überzeugt und als ihm die engeren Genossen des Wahlkreises, in dem er sechs Jahre ununterbrochen gearbeitet hatte, ein Mandat für den Reichstag anboten, lehnte er dies kurz entschlossen ab mit der Begründung, daß er nicht glaube, daß man einen Militärstaat wie Deutschland, dessen Vertretungssystem ohnedies nur eine schlecht vertünchte Fassade des Absolutismus sei, auf parlamentarischem Wege reformieren könne.

Der Revisionismus

Im Mai 1892 siedelte Kater nach Berlin über, wo er unermüdlich für die Berufsorganisation der Maurer und als sozialistischer Agitator tätig war, während er des Tages über seinem Berufe nachging. Mittlerweile hatte sich innerhalb der sozialistischen Partei und der deutschen Gewerkschaftsbewegung ein merkwürdiger Umschwung vollzogen. Durch den Ausschluß der "Jungen" war die Partei von der Opposition von links befreit worden, aber nun war ihr eine Opposition von rechts entstanden, die ihre weitere Entwicklung umso mehr beeinflußte, da sie die besten revolutionären Elemente selbst aus ihren Reihen vertrieben hatte. Es war die Opposition der sogenannten Revisionisten, die jahrelang alle sozialdemokratischen Kongresse in Deutschland beschäftigte und auch ins Ausland übergriff. Die orthodoxen Marxisten in der Partei errangen zwar auf allen Kongressen die Mehrheit über die Vertreter des Revisionismus, aber diese Siege waren in der Wirklichkeit nur Scheinsiege, da die fast ausschließlich auf parlamentarische Betätigung eingestellte Taktik der Partei auch die Orthodoxen dazu zwang, dieselben Wege zu wandeln wie ihre revisionistischen Gegner.

Was der Revisionismus, der in Männern wie Bernstein, Vollmar, David usw. über ausgezeichnete geistige Kräfte verfügte, in seiner Kritik der alten marxistischen Anschauungen geleistet hat, bleibt sein unbestreitbares Verdienst; aber daß seine Vertreter aus dieser neuen Erkenntnis nichts weiter zu machen verstanden, als einem mattherzigen Possibilismus das Wort zu reden und die Taktik der kleinen Möglichkeiten zum Prinzip zu erheben, mußte der deutschen Sozialdemokratie erst recht verhängnisvoll werden. Dieselbe innere Wandlung, die sich nach dem Fall des Sozialistengesetzes in der Partei in immer rascherem Tempo vollzog, ergriff auch die Gewerkschaftsbewegung, die unter dem geistigen Einfluß der Partei stand.  

Die Entwicklung der Gewerkschaften - Zentralismus und Lokalismus

Die deutschen Gewerkschaften hatten eine eigenartige Entwicklung durchgemacht. Solange die sozialdemokratische Partei noch nicht geeinigt war, blieb ihre Auffassung über die Bedeutung der Gewerkschaften geteilt. Die Lassalleaner, die im "Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein" ihre eigene Partei besaßen, waren entschiedene Gegner der Gewerkschaften.

Lassalle, der auf Grund des angeblichen "Eisernen Lohngesetzes" den Standpunkt vertrat, daß innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft die Arbeiter nie mehr verdienen könnten, als zur Befriedigung der materiellen Lebensbedürfnisse unbedingt notwendig ist, bekämpfte die Gewerkschaften grundsätzlich, weil er in ihnen ein Hindernis für die politische Organisation der Arbeiterklasse erblickte. Die andere Richtung, die sogenannten "Eisenacher", die unter der Führerschaft Liebknechts und Bebels die Gedankengänge von Marx und Engels vertraten, sahen in den Gewerkschaften vornehmlich Vorschulen für ihre Partei und betrachteten sie daher als Mittel zu einem bestimmten Zweck. Nachdem sich beide Richtungen endlich nach einem mörderischen Bruderkampfe zu einer einheitlichen Partei zusammengeschlossen hatten, blieb die Stellung der gewesenen Eisenacher Richtung den Gewerkschaften gegenüber maßgebend.

Mit Ausnahme einiger weniger großer Zentralverbände waren die meisten deutschen Gewerkschaften zunächst lokale Organisationen. Schuld daran war das alte Preußische Vereinsgesetz, das nur lokalen Berufsgruppen gestattete, außer ihren Fachangelegenheiten sich auch noch mit politischen Fragen zu beschäftigen. Den sozialistischen Arbeitern, die in den Gewerkschaften tätig waren und die sich auf Grund ihrer geistigen Überlegenheit rasch einen Einfluß verschafften, kam es vor allem auf die Verbreitung ihrer sozialdemokratischen Ideen an. Um die Verbindungen zwischen den einzelnen Lokalorganisationen für gemeinschaftliche Zwecke wie Streiks etc. trotz der gesetzlichen Bestimmungen herzustellen, ernannte jede Ortsgruppe einen Vertrauensmann, der mit den Vertrauensleuten der übrigen Gruppen in Verbindung stand und dadurch den nötigen Kontakt herstellte.

Das änderte sich erst, als besonders nach dem Fall des Sozialistengesetzes hervorragende Gewerkschaftsführer wie Carl Legien, Bömmelburg und andere sich für die Gründung großer gewerkschaftlicher Zentralverbände einsetzten. Die Vertreter dieser Richtung, denen es weniger auf sozialistische Ausbildung ihrer Anhänger als auf die Erfassung großer Massen ankam, sympathisierten schon deshalb mit dem Revisionismus, weil seine Politik der kleinen Möglichkeiten ihren Absichten am besten entsprach. Es begann nun ein Kampf zwischen den Zentralisten und Lokalisten, der sich jahrelang hinzog. Um den zentralistischen  Bestrebungen Einhalt zu gebieten, traten die Vertrauensmänner der lokalistischen Gewerkschaften im Mai 1897 in Halle zu einem Kongreß zusammen, auf dem die "Freie Vereinigung deutscher Gewerkschaften" gegründet wurde. Der Kongreß setzte eine Geschäftskommission ein, als deren Vorsitzender Fritz Kater erwählt wurde, der bereits lange Jahre als Vertrauensmann der deutschen Maurer tätig gewesen war. Die neue Vereinigung schuf sich in der "Einigkeit" ein eigenes Organ, dessen Schriftleitung dem gewesenen Regierungsbaumeister Gustav Kessler übertragen wurde. Kessler, ein alter deutscher Sozialdemokrat, der seiner Gesinnung eine gute Lebensstellung geopfert hatte, wurde während des Sozialistengesetzes von der Regierung in geradezu unglaublicher Weise verfolgt und fast aus allen größeren Städten Deutschlands ausgewiesen. Zwischen ihm und Kater, der ihm geistig sehr viel zu verdanken hatte, entwickelte sich ein sehr intimes Freundschaftsverhältnis, daß erst durch Kesslers Tod im Juli 1904 seinen Abschluß fand. Fritz nannte ihn stets seinen zweiten Vater.

Die Sozialdemokratische Partei verhielt sich zunächst neutral in diesem Kampf zwischen Zentralisten und Lokalisten in den Gewerkschaften, was auch anders nicht gut möglich war, denn sie hatte gerade in den Lokalgewerkschaften viele ihrer ältesten und erprobten Genossen. Aber als die Zentralverbände immer stärker anschwollen und der Einfluß ihrer Führer sich auch in der Partei immer deutlicher fühlbar machte, mußte man diese Neutralität immer mehr preisgeben, bis endlich im Jahre 1907 ein sozialdemokratischer Parteitag direkt von den zentralistischen Gewerkschaftsführern gezwungen wurde, den Lokalisten eine Galgenfrist von einem Jahre zu gewähren, um ihre Organisationen aufzulösen und sich den Zentralverbänden anzuschließen; anderenfalls man ihre Führer aus der Partei ausschließen würde. Es war ein grotesker Fall. Die Führer der Lokalisten hatten ja gerade deshalb die Form der Lokalverbände beibehalten, weil sie ihnen die beste Gelegenheit bot, für ihre sozialdemokratischen Ideen zu wirken, und wurden nun von derselben Partei mit dem Ausschluß bedroht, der sie jahrelang treu gedient hatten.

Um ihnen die Wahl leichter zu machen, bot man den Vertretern der Lokalisten gute Stellungen in den Zentralverbänden an und so mancher von ihnen konnte der Versuchung nicht widerstehen. Auch Fritz Kater wurde mit einem solchen Angebot bedacht. Im November 1907 besuchte ihn eine besondere Delegation und stellte ihm die Wahl frei, eine Stellung in den Zentralgewerkschaften oder in der Sozialdemokratischen Partei anzunehmen. Er lehnte beides ab und erklärte bald darauf seinen Austritt aus der Partei, der er zwanzig Jahre angehört und redlich gedient hatte. Andere waren nicht so bedenklich und gelangten in Amt und Würden, aber Kater war aus anderem Stoffe gemacht.   

Der Übergang zum Revolutionären Syndikalismus

Über die Hälfte der alten Lokalisten unterwarfen sich dem Ultimatum, das ihnen die Partei gestellt hatte. Mit dem Rest, ungefähr achttausend Mann, mußte die Arbeit von neuem begonnen werden, der Kater seine besten Kräfte widmete. Er hat die Geschichte jener Jahre in seiner 1912 erschienenen Schrift "Über die Entwicklung der deutschen Gewerkschaftsbewegung" sehr eindrucksvoll dargestellt. Das kleine Werkchen ist auch heute noch lesenswert und aufschlußreich, denn es bringt so manches, was längst vergessen wurde.

Die kleine Bewegung der Lokalisten nahm von nun an eine andere Wendung, zu welcher der mächtige Aufschwung der syndikalistischen Bewegung in Frankreich nicht wenig beigetragen hatte. Jener Einfluß machte sich damals in vielen Ländern Europas stark bemerkbar und wurde auch Fritz Kater zu einer neuen Offenbarung. Von nun an wurde ihm die Bedeutung einer von sozialistischen und freiheitlichen Grundsätzen inspirierten Gewerkschaftsbewegung erst richtig klar. Er erkannte, daß den wirtschaftlichen Organisationen der Arbeiterschaft eine höhere Aufgabe gestellt war, als den politischen Parteien als Werbeorgan zu dienen. Sie waren nicht bloß notwendige Organe zum Selbstschutz der Arbeiter in ihrem Kampf ums tägliche Brot, sondern boten auch alle Möglichkeiten, das werktätige Volk in Stadt und Land durch lebendige Betätigung sozialistischer Grundsätze und Erziehung für eine kommende gesellschaftliche Reorganisation im Geiste eines freiheitlichen Sozialismus vorzubereiten. So wurde Fritz Kater revolutionärer Syndikalist, und es war hauptsächlich unter seinem Einfluß, daß sich die "Freie Vereinigung deutscher Gewerkschaften" auf ihrem siebenten Kongreß (1908) nach einem grundlegenden Referat Katers offen zum Syndikalismus bekannte.

Die Bewegung hatte sich neben der "Einigkeit" noch ein neues Organ geschaffen, "Der Pionier", der von Fritz Köster geleitet wurde und hauptsächlich der sozialistischen Erziehungsarbeit diente. Auch wurden nun engere Beziehungen mit der syndikalistischen Bewegung des Auslands und mit dem von Domela Niewenhuis in Holland ins Leben gerufenen "Antimilitaristischen Bureau" hergestellt. Als im August 1913 die Einweihung des Friedenspalastes im Haag stattfand, hatten die holländischen Genossen eine große Massenkundgebung veranstaltet, die Niewenhuis mit den bezeichnenden Worten eröftnete: "Der Friedenspalast ist eingeweiht, nun kann der Krieg beginnen!" Es war, als wenn der Alte bereits geahnt hätte, was in der Luft lag. Auf jener Kundgebung sprach auch Fritz Kater im Namen der deutschen Syndikalisten. Sechs Wochen später tagte in London in Holbom Town Hall der erste internationale Syndikalistenkongreß, an dem auch Kater und noch zwei andere Delegierte aus Deutschland teilnahmen. Der Kongreß, der den Zweck hatte, die syndikalistischen Organisationen aller Länder in einem föderativen Verband zusammenzufassen, konnte damals dieses Ziel noch nicht erreichen, da der im nächsten Jahr ausbrechende Weltkrieg allen Versuchen in dieser Richtung ein jähes Ende bereitete.

In der Weimarer Republik: Die Gründung der FAUD und der IAA

Die syndikalistische Bewegung Deutschlands wurde sofort ein Opfer des Krieges. Während die großen Zentralverbände der deutschen Gewerkschaften und die Sozialdemokratische Partei, die von Anfang an mit der kaiserlichen Regierung durch dick und dünn gingen und deshalb von dieser auch nie behelligt wurden, da sie ihr ja die besten Dienste leisteten, wurden die "Freie Vereinigung deutscher Gewerkschaften", die "Anarchistische Föderation Deutschlands" und einige kleinere pazifistische Gruppen sofort unterdrückt und ihre Presse verboten. Sie waren die einzigen, die sich in jener Zeit des allgemeinen Irrsinns als Gegner des Krieges bekannten und den Preis dafür bezahlen mußten. Die kleine Bewegung konnte von nun an nur noch ein unterirdisches Dasein fristen, und es war hauptsächlich der Umsicht und der Willenskraft Fritz Katers zu verdanken, daß die illegalen Verbindungen unterhalten blieben und die Bewegung nicht vollständig zerstört wurde. Er hatte dabei manche schwere Verantwortung auf sich genommen, ohne großes Wesen davon zu machen. Nur so war es möglich, daß nach dem Zusammenbruch der alten kaiserlichen Regierung die Bewegung sofort wieder auf dem Plan erscheinen konnte.

Schon im Dezember 1919 erschien in Berlin bereits die erste Nummer des "Syndikalist". Von nun an nahm die Bewegung einen starken Aufschwung, wie es in jener revolutionären Periode nicht anders zu erwarten war. Durch den Anschluß einiger anderer radikaler Gewerkschaftsgruppen änderte die Freie Vereinigung auf dem Kongreß in Düsseldorf (1920) ihren Namen in "Freie Arbeiterunion Deutschlands", die mit zu den tätigsten Organisationen der 1922 gegründeten "Internationalen Arbeiter-Assoziation" gehörte. Der "Syndikalist" wurde in jener Zeit in achtzigtausend Exemplaren gedruckt, die höchste Auflage, die in Deutschland je ein freiheitliches Blatt erreicht hatte. Außerdem besaß die Bewegung noch verschiedene Lokalblätter der einzelnen Industrieföderationen und eine Zeitlang sogar eine tägliche Zeitung, "Die Schöpfung" in Düsseldorf. Dazu kam später noch die theoretische Monatsschrift "Die Internationale", die auch im Ausland viele Mitarbeiter hatte.

Die F.A.U.D. nahm einen tätigen Anteil in allen großen Kämpfen der Arbeiterschaft im großen Industriegebiet und anderen Teilen Deutschlands und so manche ihrer Anhänger, besonders in Thüringen und im Ruhrgebiet, mußten in den Kämpfen gegen die wachsende militärische Reaktion ihr Leben lassen. Ein ganz hervorragendes Verdienst hatte sich die Bewegung durch die Gründung ihres ausgezeichneten Verlags in Berlin erworben, aus dem nicht bloß hunderttausende von Broschüren, sondern auch eine große Anzahl der besten größeren Werke Kropotkins, Bakunins, Nettlaus und anderer bekannter Schriftsteller des freiheitlichen Sozialismus hervorgingen.

Fritz Kater, der bereits kein Jüngling mehr war, hat an all diesen Arbeiten und opferreichen Kämpfen einen hervorragenden Anteil genommen. Er bereiste das Land nach allen Richtungen und wirkte als Redner und Organisator der Bewegung. Kater war ein guter Volksredner mit viel praktischem Sinn und großem Verantwortlichkeitsgefühl. Aufrecht und gerade im Verkehr mit Freund und Feind, ein Mann, der die Grenzen seiner Fähigkeiten genau kannte, wurde er nie von persönlichem Ehrgeiz verblendet und anerkannte stets neidlos die Verdienste anderer. Ich habe mit ihm fünfzehn Jahre lang ununterbrochen gearbeitet und ihn als Mensch und Freund hoch schätzen gelernt. Und nicht nur ich. Ältere und jüngere Kameraden wie Max Nettlau, Domela Niewenhuis, Emma Goldman, A.Berkman, Crobon-Fernandez, sein späterer Schwiegersohn A.D. Santillan und so manche andere hatten dieselbe Meinung über ihn. Die vielen russischen Genossen, die in jenen bewegten Jahren aus dem "Lande des Sozialismus" vertrieben wurden und gezwungen waren, als politische Flüchtlinge in Berlin zu leben, hatten den Alten besonders ins Herz geschlossen, denn er hatte tiefes Verständnis für ihre traurige Lage und machte sich ihnen nützlich, wo immer er konnte. Fritz hatte ein feines Gehör für fremdes Leid, wozu ihm vielleicht seine trostlose Jugend den ersten Anstoß gegeben haben mochte.

Fritz Kater war auch einer der Mitbegründer der "Internationalen Arbeiter-Assoziation" und nahm an allen ihren Kongressen und Konferenzen einen aktiven Anteil mit Ausnahme der beiden Kongresse in Lüttich (1928) und Madrid (1932). Er war dreiunddreißig Jahre lang der Vorsitzende der Geschäftskommission der syndikalistischen Bewegung Deutschlands, der auf allen Kongressen wiedergewählt wurde, der beste Beweis für das große Vertrauen, das ihm die Genossen im ganzen Lande entgegenbrachten. 1930, als er bereits ein Mann von siebzig Jahren war, legte er freiwillig sein Amt nieder, um, wie er sagte, jüngeren Kräften Platz zu machen. Für die Bewegung aber hat er auch später weitergearbeitet, bis der Triumph der braunen Barbarei jeder weiteren Tätigkeit ein Ziel setzte. 

Er, der über drei Jahrzehnte lang die erste Vertrauensstellung in der Bewegung eingenommen hatte, besorgte nun im selben Büro der Geschäftskommission die sogenannte schwarze Arbeit für die Bewegung, verpackte Zeitungen und Bücher und brachte sie in einem Handwagen zur Post und stand seinem jungen Nachfolger, Reinhold Buch, mit Rat und Tat zur Seite. Den jüngeren Genossen war das manchmal peinlich, wie ich aus eigener Erfahrung bestätigen kann. Aber als ich mit Fritz einmal darüber sprach, antwortete er mir in seiner offenen Weise: "Ich weiß nicht, was unserem jungen Völkchen in den Kopf gefahren ist. Haben wir nicht unser ganzes Leben lang den Standpunkt vertreten, daß jede ehrlich geleistete Arbeit gleichwertig ist? Ich kann heute nicht mehr tun, was ich über dreißig Jahre lang getan habe. Aber was ich jetzt tue, ist für die Bewegung ebenso nützlich und notwendig wie meine frühere Arbeit. Weshalb sollte ich mich also darüber grämen?"

Diese Antwort war keine Pose; sie entsprach ganz dem inneren Wesen Fritz Katers und zeigte die ganze Schlichtheit seines Charakters. Es war gerade dieses Anspruchslose und tief Menschliche, das mir Kater so lieb gemacht hatte. In einem seiner letzten Briefe an mich zeigte sich noch einmal diese rein menschliche Seite in Katers Charakter:   

Die Toten reiten heute schnell

"Ich war letzte Woche beim Elefanten (4), der seinen achtzigsten Geburtstag feierte. Wir plauderten natürlich von Euch. Der alte Knabe ist noch derselbe Draufgänger. Er kann noch Wut empfinden. Ich kann auch das nicht. Es sieht trübe aus bei uns, lieber Junge. Es ist Nacht, aber eine Nacht ohne Sterne. Ich werde wohl keinen neuen Tag mehr erleben, und seit Mathilde (seine Frau) gestorben ist, sieht die Welt noch finsterer aus. Ich lebe jetzt viel in vergangenen Tagen. Ob ich immer das Richtige traf, weiß ich nicht, aber was ich tat, kam aus ehrlichem Herzen, und das ist auch ein Trost."

Mit Fritz Kater ist einer der ehrlichsten Kämpfer der freiheitlichen Bewegung dahingegangen, ein ganzer Mann, der viel gelitten hat in seinem Leben, sich selbst aber stets treu geblieben ist und der Sache, für die er ein ganzes Menschenleben lang gewirkt und gestritten hatte. So gehen sie alle dahin, einer nach dem andern. Die Toten reiten heute schnell.

Rudolf Rocker

Anmerkungen:
1) Der Zigarrenarbeiterverein wurde Ende 1865 gegründet, der Verband der Buchdrucker Mitte 1866. Die "Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine" entstanden 1868. Sie propagierten in erster Linie die Schaffung von Unterstützungskassen usw. Auf Streik wurde weitgehend verzichtet, dagegen die "gemeinsamen Interessen zwischen Lohnarbeit und Kapital" hervorgehoben. Sie waren faktisch Filialen der liberalen Kapitalisten in der Arbeiterbewegung, die die "Organisierung des sozialen Krieges" durch die Sozialisten unterbinden sollten. Ihre Mitgliederzahlen sind nie besonders groß gewesen: 1872: 18.803 / 1890: 62.643 / 1900: 91.661 / 1910: 122.571.
2) Most gab ab Anfang 1879 in London die "Freiheit" heraus. "Er wollte," wie Franz Mehring in seiner parteioffiziösen "Geschichte der deutschen Sozialdemokratie" schrieb, "die Freiheit mit derselben Tinte schreiben, mit der einst der "Volksstaat" und der "Vorwärts" (die Zentralorgane der Partei vor dem Sozialistengesetz; Anm. d.Herausgeber) geschrieben worden war." Aber das paßte dem Parteivorstand und der Reichstagsfraktion nicht: kurz vor Inkrafttreten des Sozialistengesetzes löste sich die Partei freiwillig auf; um Druckereien und Presse zu erhalten, unterschied sich die Presse kaum noch inhaltlich von den Liberalen. Aber das war bekanntlich vergebliche Liebesmüh. Unter dem Druck der Verhältnisse und der radikalen Parteibasis wurde die Ideologie radikaler, denn auf "gemäßigten" Wähler nahm man selbstverständlich auch "Rücksicht" - in den Taten! Aber die wortradikale Änderung des Kurses nahm Most einen Teil seiner Argumentationskraft. Zudem hatte er der Freiheit ziemlich unvermittelt eine Wendung zu radikalen Tönen gegeben. Hier ist Marx zuzustimmen, der am 19.9.1879 an Sorge schrieb: "Wir werfen dem Most nicht vor, daß seine "Freiheit" zu revolutionär ist; wir werfen ihm vor, daß sie keinen revolutionären Inhalt hat, sondern nur in revolutionärer Phrase macht." In den 90er Jahren ist Most in den USA schließlich zu einem der bedeutendsten Agitatoren und Theoretikern der anarchosyndikalistischen Bewegung Amerikas geworden - also von der Phrase zum Inhalt zurückgekommen. (Siehe: Mehring, Gesammelte Schriften, Bd. 2, S. 513-541; Brandis, Der Anfang vom Ende der Sozialdemokratie (1927), Rotbuch 133, S. 36-47)
3) Wilhelm Liebknecht, Über die politische Stellung der Sozialdemokratie, insbesondere mit Bezug auf den Norddeutschen "Reichstag". Vortrag in der am 31. Mai 1869 abgehaltenen Versammlung des Berliner demokratischen Arbeitervereins. Zuletzt erschienen in: W. Liebknecht, Kleine politische Schriften, Fft/M 1976. Er sagte u.a., daß "der Sozialismus keine Frage der Theorie mehr" sei, "sondern einfach eine Machtfrage, die in keinem Parlament, die nur auf der Straße, auf dem Schlachtfeld zu lösen ist, gleich jeder anderen Machtfrage. (...) Tatsache ist, daß jeden Tag ungehindert in Preußen weit Revolutionäreres geschrieben und gesprochen wird, als sämtliche Reichstagsreden über die soziale Frage erhalten haben. (...) Einen direkten Einfluß auf die Gesetzgebung kann unser Reden nicht ausüben. Den "Reichstag" können wir durch Reden nicht bekehren. Durch unser Reden können wir keine Wahrheiten unter die Massen werfen, die wir anderweitig nicht viel besser verbreiten könnten. (...)"
4.) Gemeint ist Wilhelm Werner, ein alter Veteran der freiheitlichen Bewegung Deutschlands, der in unserem engeren Kreise stets der Elefant genannt wurde.

Originaltext: Rudolf Rocker - Ein Leben für den revolutionären Syndikalismus. Biographie von Fritz Kater. Broschüre der FAU Hamburg, 1985. Erstmals erschienen in: "Der freie Gedanke", Organ für alle freiheitlichen Gruppen des Main- und Rheingebietes Nr. 8-11, 1948. Digitalisiert von www.anarchismus.at


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