Rudolf Rocker (1873-1958)

Rudolf Rocker stammte aus Mainz, wo sein Vater den Beruf eines Notenstechers ausübte. Nach dem frühen Tod beider Eltern mußte er seine Knabenjahre in einem katholischen Waisenhaus verbringen und erlernte im Anschluß an die Schulzeit das Buchbinder-Handwerk. Schon in jungen Jahren wandte er sich der sozialistischen Bewegung zu, war aber bald tief enttäuscht über das »vollständige Fehlen irgendeines libertären Konzepts« in der deutschen Sozialdemokratie. Die »dogmatische Engstirnigkeit der Partei« und insbesondere »ihre ausgesprochene Intoleranz gegenüber jeder Meinung, die nicht in voller Übereinstimmung mit dem Buchstaben des Programms war«, stießen ihn ab. [1] 1891 kam Rocker mit anarchistischen Anschauungen in Berührung, die ihn stark beeindruckten. Als Handwerksbursche Europa durchwandernd, nahm er überall Kontakt zu anarchistischen Kreisen auf. Von 1893 bis Anfang 1895 war er als politischer Flüchtling in Paris und ging dann nach London. Hier begann der ungewöhnlichste Abschnitt seines Lebens. Der Nicht-Jude Rocker lebte unter den armen Ostjuden von Whitechapel, lernte ihre jiddische Sprache und gewann als Herausgeber des jiddischsprachigen »Arbeiterfreund« (1898-1914) und des ebenfalls in Jiddisch erscheinenden Monatsblattes »Germinal« starken Einfluß auf die anarchosyndikalistischen jüdischen Gewerkschaften in England. Nach Ausbruch des Weltkrieges wurde Rocker interniert. 1919 kehrte er nach Deutschland zurück. Ende 1922 kamen in Berlin Repräsentanten der syndikalistischen Organisationen zahlreicher Länder, die insgesamt mehr als eine Million Mitglieder vertraten [2], zusammen und gründeten die »International Workingmen's Association« (I.W.M.A.), die »Syndikalistische Internationale«, der im folgenden Jahr auch die spanische C.N.T. beitrat. Rocker wurde, zusammen mit Alexander Schapiro und Augustin Souchy, zu ihrem Sekretär gewählt. Der Sitz der I.W.M.A. war bis 1932 Berlin, dann Amsterdam. Seit 1939 befindet sich ihr Büro in Stockholm.

Von Rockers zahlreichen Publikationen dieser Jahre seien hier nur zwei erwähnt. In seiner 1921 erschienenen Schrift »Der Bankerott des russischen Staatskommunismus« heißt es über die Situation im Rußland Lenins: »Dort kann man sogar schon nicht mehr von der Diktatur einer Partei, sondern höchstens von der Diktatur einer Handvoll Männer sprechen, auf welche die Partei keinerlei Einfluß mehr hat.« Und: »Eine wahre Befreiung ist nur möglich, wenn der Machtapparat verschwindet, denn das Monopol der Macht ist nicht minder gefährlich wie das Monopol des Besitzes.« Rockers umfangreiche Biographie des deutsch-amerikanischen Anarchisten Johann Most schließlich zählt zu den wichtigsten monographischen Beiträgen zur Geschichte der anarchistischen Bewegung. [3]

Nach der Machtergreifung des Nationalsozialismus ging Rocker in die USA, wo er bis zu seinem Tode 1958 lebte. 1937 erschien sein großes (im wesentlichen noch in Deutschland entstandenes) Werk »Nationalism and Culture«, dessen deutschsprachige Nachkriegsausgabe den Titel »Die Entscheidung des Abendlandes« trägt.

Fußnoten:
[1] Nach einem im Vorwort zur zweiten Auflage von »Nationalism and Culture« zitierten Brief Rockers aus seinen letzten Lebensjahren.
[2] Italien: 500.000 - Argentinien: 200.000 - Portugal: 150.000 - Deutschland: 120.000 - Frankreich: 100.000, sowie eine eigene Vertretung von 30.000 Pariser Bauarbeitern - Schweden: 30.000. Vertreten waren ferner die syndikalistischen Bewegungen Chiles, Mexikos, Dänemarks, Norwegens und der Niederlande. (Nach: Woodcock, pp. 253 ff.) Die deutschen Anarchosyndikalisten waren in der »Freien Arbeiter-Union« organisiert, die 1922 120.000 Mitglieder zählte, im Laufe der 20er Jahre einen Höchststand von rund 200.000 Mitgliedern erreichte. Sie war 1919 als Nachfolgeorganisation der »Freien Vereinigung Deutscher Gewerkschaften« von 1897 gegründet worden; letztere hatte vor 1914 nur etwa 20.000 Mitglieder.
[3] Rudolf Rocker: Johann Most: Das Leben eines Rebellen. Berlin 1924. Der aus Augsburg gebürtige Most (1846-1906), gelernter Buchbinder, war zunächst Sozialdemokrat und gehörte zeitweilig auch dem Reichstag an. 1878 emigrierte er nach England, wo er Anarchist wurde. In der von ihm gegründeten »Freiheit« propagierte er die »direkte Aktion« und »revolutionäre Gewalt«. 1880 wurde er aus der SPD ausgeschlossen und im folgenden Jahr zu achtzehn Monaten Gefängnis verurteilt, weil er in einem Artikel die Ermordung des Zaren Alexander II. gutgeheißen hatte. Ende 1882 ging er nach Amerika, wo er die »Freiheit« neu gründete. Sein Einfluß auf die anarchistische Bewegung in den USA war zeitweise beträchtlich. In seinen späten Jahren verurteilte er die »Propaganda der Tat«, zu der er auch in den Vereinigten Staaten lange Zeit aufgerufen hatte.

Aus: Achim v. Borries / Ingeborg Brandies: Anarchismus. Theorie, Kritik, Utopie. Joseph Melzer Verlag, Frankfurt 1970

Mit freundlicher Erlaubnis des Abraham Melzer Verlag´s

Gescannt von anarchismus.at (eine Fußnote wurde weggekürzt)


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