Rockers Beitrag zur Kritik des Nationalismus
Der vorliegende Beitrag der libertären Frankfurter Mittwochsgruppe entstand vor dem Hintergrund eines in Europa und vor allem in Deutschland unerträglich sich ausbreitenden Nationalismus. Es ist der Versuch einer Positionsbestimmung aus der Auseinandersetzung mit der Nationalismuskritik Rudolf Rockers. Ihre hier für die GWR zusammengefassten Arbeitsergebnisse hat die Gruppe bereits im Januar 1992 bei einer Veranstaltung im Bornheimer libertären Treff "Dezentral" zur Diskussion gestellt. (Red.)
Ein Blick auf die gegenwärtigen nationalistischen Bewegungen, besonders in Osteuropa oder auf unser problematisches Verhältnis zu nationalen Befreiungsbewegungen (PLO, in Nicaragua, El Salvador usw.) oder auf die Nationalismusdebatte in den libertären Medien anlässlich des Mauerfalls 1989/90 beantwortet die Frage nach der Notwendigkeit umfassender Nationalismuskritik von selbst.
Entstehung und Bedeutung von "Nationalismus und Kultur"
Infolge des Nationalsozialismus erschien Rockers knapp 800-seitiges Werk "Nationalismus und Kultur" zunächst in englischer Sprache (New York 1937). Obwohl das Manuskript bereits kurz vor dem Machtantritt Hitlers fertiggestellt war, konnte die deutsche Ausgabe erst 1949 unter dem Titel "Die Entscheidung des Abendlandes" publiziert werden. Hervorgegangen ist dieses Buch aus mehreren Vorträgen und Einzelbeiträgen. Erste Ideen zu dieser Arbeit stammen aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Der von Rocker gewählte Buchtitel "Nationalismus und Kultur" geht auf einen gleichnamigen Vortrag zurück, den er auf Einladung von Studenten 1922 an der Berliner Universität hielt. Gewidmet ist das Werk seiner langjährigen Lebensgefährtin Milly Witkop.
"Nationalismus und Kultur" wurde u.a. ins Holländische, Schwedische, Portugiesische, Spanische, Französische und Japanische übersetzt. Lobende Besprechungen rief sein Buch bei solch unterschiedlichen Persönlichkeiten wie Albert Einstein, Bertrand Russell, Lewis Mumford, Herbert Read und Thomas Mann (!) hervor. Rudolf Rockers bedeutendes kulturkritisches Werk "Nationalismus und Kultur" ist bis heute als das wichtigste Buch im deutschsprachigem Anarchismus zuwürdigen. Seine besondere Bedeutung liegt u.a. in seiner Grundthese begründet, dass Zentralismus und Hierarchie stets die menschliche Kulturentwicklung hemmen. Kultur ist hier als die Gesamtheit sozialer Beziehungen zu verstehen. Der Nationalismus gilt für Rocker als das langlebigste Konstrukt zur Zementierung von Macht und Herrschaft. Daraus begründet sich für uns auch die Aktualität umfassender Staatskritik. Nationalismuskritik und Staatskritik (z.B. die Kritik der stets auf Hegemonie und Ausschließlichkeit abzielenden politischen Institutionen) müssen immer gleichzeitig stattfinden.
Rockers Anarchismus im Spannungsfeld politischer Ideen
Auf den ersten Blick scheint es verwunderlich, dass Rocker nicht nur das Rousseau`sche Demokratiemodell strikt verneint, sondern auch den Marxismus, aber zugleich mit dem Liberalismus sympathisierte.
Marxismus: Rockers Ablehnung des von Karl Marx und Friedrich Engels in Abgrenzung zum "utopischen Sozialismus" entworfenen "wissenschaftlichen Sozialismus" teilten nahezu alle wichtigen TheoretikerInnen des Anarchismus, z.B. Pierre-Joseph Proudhon, Michail Bakunin, Peter Kropotkin, Emma Goldman, Gustav Landauer oder selbst Erich Mühsam. Dabei gaben nicht nur inhaltliche Differenzen den Ausschlag: In der I. und II. Internationale, in der Russischen Revolution 1917, während des Spanischen Bürgerkriegs 1936-1939 oder in stalinistisch geprägten Regimes wie der DDR bis hin zur Anarchismusfeindlichkeit westlicher marxistischer Strömungen hatten sich Marx und seine geistigen und praktischen Erben, wenn sie erst einmal über politische Macht verfügten, gegenüber den VertreterInnen anderer sozialistischer Richtungen wenig "brüderlich" verhalten - nämlich sie verspottet, ausgegrenzt, inhaftiert, ermordet.
Schon frühzeitig, im 19. Jahrhundert, gab es eindringliche anarchistische Warnrufe vor den konkreten Auswirkungen der vielbeschworenen "Diktatur des Proletariats", die jedoch kein Gehör fanden. Mit seiner Kritik des "Historischen Materialismus" befand sich Rocker also in bester anarchistischer Tradition. Im wesentlichen bemängelte er:
- die in entscheidenden Punkten unreflektierte, intensive Orientierung Marx und Engels an dem autoritären Staatsphilosophen Georg Friedrich Wilhem Hegel, nach Rocker der Verkünder des Absoluten, der historischen Notwendigkeiten und des weltgeschichtlichen Sendungsauftrag der Deutschen;
- hieraus abgeleitet das mechanische Natur- und Geschichtsverständnis, wonach auf Feudalismus Kapitalismus und Sozialismus folge;
- statt einer über den bürgerlich-kapitalistischen Staat hinausgehenden Staatskritik die autoritär-patriarchale Politikauffassung: Zentralismus, Einheitspartei, "Kasernensozialismus" (Rocker) in Gestalt "industrieller Armeen", von "Arbeitszwang" (beides Originalzitate aus dem Kommunistischen Manifest), wissenschaftlich-technologische Fortschrittsideologie;
- die Reduzierung aller gesellschaftlichen Vorgänge auf ökonomische Verhältnisse und Entwicklungen, während Rocker das menschliche Machtstreben als entscheidenden Faktor benennt;
- den fast religiösen, dogmatischen Glauben an den wissenschaftlichen Sozialismus als der einzig möglichen Befreiung vom kapitalistischen Joch
Demokratie: Laut Rocker wird der einzelne Mensch einem ebenso autoritären wie abstrakten "Gemeinwillen" (Rousseau) unterworfen, der 'Volk', 'Nation' oder 'Staat' heißt. Wer sich in dieses als 'Volksherrschaft' verbrämte Kollektiv nicht einordnet, wird als Staatsfeind, Volksverräter und Deserteur bekämpft.
Liberalismus: Im Gegensatz zu Kapitalismus, Demokratie und Kommunismus betonte nach Rockers Auffassung der ursprüngliche Liberalismus die autonome Gedanken-, Handlungs- und Vertragsfreiheit des Individuums gegenüber dem bevormundenden Staat. Individualität, Bedürfnisvielfalt und freie Vereinbarung verbinden den Liberalismus inhaltlich mit dem Anarchismus. Der entscheidende Mangel des Liberalismus, die zu geringe oder gar fehlende Thematisierung der ökonomischen Ausbeutung kennzeichnet jedoch auch sogleich seinen Untergang, d.h. sein Bündnis mit reaktionären Gesellschaftskonzepten wie Konservativismus, Nationalismus und Kapitalismus. Rockers Weg in die Anarchie beinhaltet daher die Synthese von radikalem Liberalismus und antiautoritärem Sozialismus.
Soziale Individualität: Der Kapitalismus erniedrigt den Menschen zum Anhängsel von Maschine und Marktgesetzen. Die Demokratie huldigt dem nationalen Kollektiv und maßregelt 'individuelle Abweichungen' als egoistisch, subversiv und staatsfeindlich. Das kommunistische Kollektiv reduziert den Menschen auf ein Anhängsel wirtschaftlicher Gesetzmäßigkeiten und marxistisch-leninistischer Parteiideologie. Auch hier gelten die 'individuellen Abweichungen' als egoistisch, subversiv und staatsfeindlich, diesmal versehen mit dem Etikett "konterrevolutionär". Davon ausgenommen sind selbstverständlich die wenig gemeinschaftsorientierten Sonderinteressen der um die Macht besorgten Eliten, ob bürgerlich-demokratisch oder 'real-sozialistisch', über beide Herrschaftssysteme legt sich als ideologischer Mantel die Staatsreligion 'Nationalismus'. Für Rocker lag eine wesentliche Chance zur Emanzipation von Herrschaft in sozialer Individualität - den eigenen wie den gesellschaftlichen Nutzen selbstverantwortlich anstreben -, sofern er in die Anarchie mündet. Die konkreten Bedürfnisse, der kreative Entfaltungsdrang und die Gemeinschaftsfähigkeit der einzelnen Persönlichkeit stehen im Zentrum des Denkens von Rudolf Rocker.
Nationalismus - Illusionäre Wirklichkeit
Rocker schrieb sein Werk vor und während der nationalsozialistischen Diktatur, vor dem Zweiten Weltkrieg und vor Auschwitz. Die Frage, wie er es nach diesen Ereignissen geschrieben hätte, muss offen bleiben. In seinem Werk versuchte Rocker einen geschichtlichen Rückblick zur Entwicklung des 'nationalen' Bewusstseins aus Staats- und militarismuskritischer, nicht aber aus patriarchatskritischer Sicht; auch psychodynamische Erklärungsansätze bleiben bei ihm ausgeklammert. Darüber hinaus erweist sich seine Argumentation stellenweise als eurozentristisch (S. 458f, 464, 472). Diese zeitgeschichtlichen Beschränkungen müssen im Auge behalten werden.
Die Geburt der "nationalen Idee"
Das gänzliche Fehlen von nationalem Bewusstsein im Mittelalter führt Rocker auf die Verwurzelung der Einzelnen in genossenschaftlichen Verbindungen, lokalen Einrichtungen und in der universalen christlichen Verbundenheit zurück. Erst die Umgestaltung der ökonomischen Lebensbedingungen im ausgehenden Mittelalter brachte die Ausgrenzung von Anderen durch zunehmenden Individualismus sowie die Schwächung des solidarischen Empfindens und Gerechtigkeitsstrebens mit sich. Das "nationale Band" trat an die Stelle früherer kollektiver Strukturen: "Wenn der gesellschaftliche Verband zu verfallen droht, dann setzt die Herrschaft des Zwanges ein, um mit Gewalt zusammenzuhalten, was einst durch freie Übereinkunft und persönliche Verantwortung in Gemeinschaft verbunden war." (S. 122). So entsprangen die in der Renaissance neu entstehenden nationalen Bestrebungen nicht freiwilligen Vereinbarungen, sondern sie dienten zur Legitimation ökonomischer und militärischer Minderheiteninteressen.
Den Nationalstaat sieht Rocker als Ergebnis weltlichen Herrscherwillens, unterstützt durch das Handelskapital und antipäpstliche protestantische Bestrebungen; absolutistischer Staat und Handelskapital brauchen einander. Der in der Idee ursprünglich antinationalistische Liberalismus verlor seine individualistische, herrschaftskritische Wurzel, als er sich des militärischen Schutzes des Staates beim internationalen Handel (und Kolonialismus) bediente.
Zum Begriff der Nation
Rocker weist auf den Bedeutungswandel des Begriffs 'Nation' hin. Im Zeitalter Ludwigs XVI. (Absolutismus) bezeichnete er die privilegierten Stände: Adel, Klerus und wohlhabendes Bürgertum. Dagegen kämpfte der Dritte Stand ("Der Dritte Stand, das ist die Nation."; zit. n. Rocker, S. 225) und für eine auf der Verfassung beruhende Nationalversammlung anstelle einer Ständevertretung. Mit der Französischen Revolution galt die Nation als Trägerin des Gemeinwillens, als Souverän gegenüber dem Monarchen, als neue Gottheit. "Das absolute Prinzip der Nation aber machte auch den geringsten Sterblichen zum Mitträger des Gemeinwillens ..." (S. 231). Der Wille der Nation galt als Offenbarung Gottes.
Zugleich entwickelte sich die Verehrung der eigenen Nation ("grande nation") logisch zur Abwertung der anderen Nationen. Die Konsequenz der absoluten Idee (metaphysische Notwendigkeit) war die Tyrannei; der Wille der Nation kulminierte in der Todesstrafe für SystemgegnerInnen. "Die Nation ist alles, der Mensch ist nichts." (S. 232). Der gegen die alten Mächte gerichtete emanzipatorische Funke des neuen Nationalgedankens pervertierte zur neuen Ausgrenzung von KritikerInnen. Untertanen waren gefragt, nicht denkende Menschen, wie Napoleon treffend bemerkte. Der deutsche Idealismus (Hegel) formulierte schließlich den philosophischen Überbau und verkündete die historische Notwendigkeit und geschichtliche Sendung des Volksgeistes, der die Sendung des Weltgeistes zu erfüllen hat, damit dieser zum Bewusstsein seiner selbst gelangt.
Nation und Staat
Diesen modernen Nationalismus bewertet Rocker als Religion des modernen Staates. Als Konsequenz seiner historischen Analyse hält er fest: "Die Nation ist nicht die Ursache, sondern das Ergebnis des Staates. Es ist der Staat, der die Nation schafft, nicht die Nation den Staat." (S. 262). Das Nationalgefühl ist ein sekundär erzeugtes Phänomen. "Eine Nation aber ist stets das künstliche Ergebnis machtpolitischer Bestrebungen ..." (S. 263). (1)
Die Rede von der 'Gemeinschaft des nationalen Interesses' dient nur zur Vernebelung von ökonomischen sowie politischen Minderheiteninteressen und realen gesellschaftlichen Gegensätzen (materielle Lebensbedingungen, politischer Einfluss), die größer sind als angebliche nationale Unterschiede. (2) Rocker weist in diesem Zusammenhang auf Militär- und Wirtschaftsbündnisse hin, die nationale Grenzen schon immer ignorierten, sowie auf Bürgerkriege und Revolten, die den lebendigen Gegenbeweis zu den angeblich einheitlichen nationalen Interessen verkörpern. Aus seinen Überlegungen leitet Rocker ab, dass "Völker, die im Namen der nationalen Befreiung das Joch einer verhassten Fremdherrschaft von sich abschüttelten, ... dadurch auch nichts gewonnen (haben)", denn "... hinter allem Nationalen steht der Machtwille kleiner Minderheiten und das Sonderinteresse privilegierter Kasten und Klassen im Staate" (S. 264f). Die sozioökonomischen Hierarchien und das Machtgefälle werden gefestigt, neue Feindbilder in Sündenbockfunktion werden konstruiert. Er belegt dies anhand von geschichtlichen Beispielen, doch dies gilt, meinen wir, auch heute noch angesichts national orientierter Befreiungsbewegungen.
Den sogenannten Kulturnationalismus nimmt Rocker aus seinem ablehnenden Urteil nicht aus. Ihn sieht er als "Feigenblatt" des politischen Nationalismus, der stark ist zu Zeiten politischer Fremdherrschaft, in denen eigene machtpolitische Pläne nicht zu realisieren sind. Die Erinnerung an vergangene kulturelle Größe wird beschworen, bis die nationale Macht im 'eigenen' Staat wieder realisierbar ist.
Im zeitgenössischen Faschismus zeigte sich das Verhältnis von Staat und Nation für Rocker in seiner ungeschminktesten Form: "Der moderne Nationalismus ist nur noch Wille zum Staat um jeden Preis, völliges Aufgehen des Menschen in den höheren Zwecken der Macht." (S. 322). Und hellsichtig spitzt er sein Unbehagen angesichts dieser alles dominierenden kollektiven Identität 'Nation' zu einem vernichtenden Urteil zu: "... unter dem Deckmantel der Nation lässt sich alles verbergen: die nationale Fahne deckt jedes Unrecht, jede Unmenschlichkeit, jede Lüge, jede Schandtat, jedes Verbrechen. Die kollektive Verantwortlichkeit der Nation erstickt das Gerechtigkeitsempfinden des Einzelwesens ..." (S. 335).
Nation oder Heimat?
Das Nationalbewusstsein ist also für Rocker eine anerzogene religiöse Vorstellung, die erst durch die Schaffung des demokratischen Staates in der bürgerlichen Revolution Verbreitung fand. An dieser Stelle wäre es wichtig, die psychischen Triebkräfte, die die Erzeugung von 'Nationalgefühl' ermöglichen, zu erforschen.
Für Rocker beruht die Rede von 'Nation' auf einer Illusion. Es ist die Vorstellung einer engeren Heimat, deren Mitglieder aufgrund des gemeinsamen Geburtsorts in solidarischen Beziehungen miteinander stehen und in einer Art 'Schicksalsgemeinschaff leben, "... die sich aus der Gemeinschaft der materiellen und geistigen Belange, der Sitten, Gebräuche und Überlieferungen entwickelt hat ..." (S.350). Diese engere Heimat jedoch beschränkt sich auf lokal begrenzte, überschaubare Gebiete. Das hier lebendige Heimatgefühl grenzt Rocker von Nationalismus und Patriotismus ab, da es keinen Willen zur Macht und keine Überheblichkeit gegenüber benachbarten Regionen kennt. (3)
Nur in einer solchen engeren Heimat, nicht in Regionen, schon gar nicht in Ländern bzw. Staaten, kann sich das soziale Empfinden der Menschen und die Verbundenheit entwickeln, die die Rede von der Nation vorspiegeln. "Es gibt eben Dinge, die kein Staat erzwingen kann, und wäre seine Macht noch so groß - dazu gehören vor allen anderen das Gefühl der sozialen Verbundenheit und die inneren Beziehungen von Mensch zu Mensch." (S. 327) Und diese lassen sich in keine Nationengrenzen sperren.
Zu Begriff und Bedeutung von Kultur bei Rocker: Herrschaft und Kultur
Die detaillierte Widerlegung nationalistischer Ideologien, wie Rocker sie in seiner Zeit artikuliert fand, nimmt einen großen Raum in seinem hier zugrundeliegenden Hauptwerk ein. Bei diesem Bemühen spielt sein Begriff von Kultur und vom Verhältnis zwischen Macht und Kultur eine zentrale Rolle. So widerspricht Rocker der von allen nationalistischen Ideologien mehr oder weniger ausdrücklich vertretenen These, dass nationale Einheit und kulturelle Homogenität die Voraussetzungen für die Entfaltung kultureller Blüte darstellen. In einem kenntnisreichen Rückgriff auf die europäische Geschichte weist er nach, dass eher das Gegenteil zutrifft, dass nämlich fruchtbares kulturelles Schaffen gerade zu Zeiten politischer Zersplitterung sich entwickelte (sein ausführlichstes Beispiel: die klassische griechische Kultur), während in Zeiten erfolgreich zentralisierter Herrschaft (besonders untersucht am Beispiel des römischen Imperiums) nur wenig eigenständige kulturelle Leistungen sich entfalteten. (4)
Diesen beobachteten Zusammenhang begründet Rocker auch theoretisch. Dabei geht er aus von der grundlegenden Annahme, dass in jedem Menschen ein kulturschaffendes, kreatives Potential nach Verwirklichung drängt. In diesem Sinne sind sich alle Menschen gleich, wenn auch die Formen, die sie schaffen, unterschiedlich sind. Voraussetzung aber dafür, dass dieses Potential und damit Kultur sich entfalten kann, sind soziale Verhältnisse, "... die auf der Freiheit des Menschen und der solidarischen Verbundenheit mit seinen Mitmenschen begründet..." sind (S. 589).
Herrschaft und der Zwang autoritärer Bestimmungen dagegen behindern die kulturelle Entfaltung des Menschen, da Macht und Herrschaft stets auf der "Teilung der Gesellschaft in höhere und niedrigere Klassen" (S. 94), also auf der grundsätzlichen Etablierung des sozialen Verhältnisses von Herr und Knecht beruhen. Hinzu kommt ein umfassender regulierender und normierender Eingriff in gesellschaftliche Abläufe, der sich feindlich gegen alle nicht kontrollierbaren Lebensäußerungen wendet.
Macht(ausübung) und die Entfaltung von Kultur stehen damit für Rocker in einem unüberbrückbaren Gegensatz, der in seinem geschichtsphilosophischem Konzept zum treibenden Moment von Geschichte wird. So ist für Rocker die "... ganze menschliche Geschichte ... bisher ein steter Kampf zwischen den kulturschaffenden Kräften der Gesellschaft und den Machtbestrebungen bestimmter Kasten ..." (S. 340) bzw. dem Staatsapparat als Herrschaftsorgan. Kultur bekommt hier einen regelrecht revolutionären Gehalt.
Kultur "ohne Grenzen"
In einem zweiten Argumentationsstrang widerspricht Rocker dem behaupteten Zusammenhang zwischen 'nationaler Einheit und 'kultureller Entfaltung' auch durch die detaillierte Untersuchung verschiedener Aspekte kultureller Ausdrucksformen wie Sprache, Kunst, Wissenschaft etc. sowie der Formen sozialer Beziehungen, die sich im allgemeinen Sinn von 'Ergebnissen menschlichen Handelns' ebenso als Kultur begreifen lassen. Dabei weist er nach, dass sich alle diese Phänomene kultureller Entfaltung unabhängig von nationalen Grenzen jeweils in bestimmten historischen Epochen entwickelt haben. Weder können bestimmte Stilformen in Kunst oder Architektur bestimmten Nationen oder Völkern als Urhebern zugesprochen werden, noch ist die Entfaltung der kapitalistischen Wirtschaftsweise oder die Ausbildung politischer Formen wie des Absolutismus und des Parlamentarismus einer nationalen Wurzel zuzuordnen. (5)
Genauso wenig haben sich Grenzen je als Hindernis für ihre Verbreitung erwiesen, im Gegenteil hat gerade der grenzüberschreitende Austausch stets ihre Entfaltung gefördert. So ist ganz grundsätzlich für Rocker die Idee, es könne so etwas wie eine 'nationale Kultur' geben - im Sinne eines geschlossenen Ganzen, das unabhängig von anderen Kulturen existiert -, nicht mehr als eine Illusion. Austausch und gegenseitige Beeinflussung haben stets stattgefunden, und mehr: Kultur braucht für ihre Entfaltung den Austausch mit dem Fremden, die Anregung durch das Unbekannte, "... denn nur durch fremde Einflüsse entstehen neue Bedürfnisse, neue Erkenntnisse ..." (S. 469), ein Hinweis, den wir für ausgesprochen aktuell halten.
Ein "anarchistischer" Kulturbegriff
An dieser Stelle sollen noch einige Bemerkungen zur inhaltlichen Bestimmung und Verwendung des Begriffs "Kultur", der üblicherweise sehr unterschiedlich verstanden wird, nachgetragen werden. So wird z.B. im Gegensatz zur Natur unterschiedslos alles vom Menschen Geschaffene - Gegenstände genauso wie soziale und politische Verhältnisse - als Kultur bezeichnet, oder es wird entsprechend dem allgemeinen Sprachgebrauch von einzelnen regionalen Erscheinungsformen oder Kulturkreisen als Kultur gesprochen (z.B. von der Kultur der Mongolen oder der Kultur der Chinesen). Diese unterschiedlichen Bedeutungen finden sich zum Teil, je nach Zusammenhang, auch bei Rocker. Weiterer Untersuchung und Diskussion wert aber scheint uns sein anarchistischer Kulturbegriff, wie er oben angerissen wurde. Freiheit und Solidarität - kurz: im idealen Sinne eine anarchistische Gesellschaft - bilden hier sowohl Voraussetzung wie Ziel menschlichen kulturellen Strebens: Voraussetzung, insofern jede Machtausübung die Entfaltung des menschlichen 'Schöpferdranges' beeinträchtigt und beschränkt; Ziel in dem Sinne, dass Kultur damit umgekehrt zum Bemühen um die Verwirklichung des anarchistischen Ideals wird. Eine Kultur, im alltagssprachlichen Sinne von Kulturkreis, steht um so höher, je näher sie sich diesem Ideal annähert.
Allerdings bringt Rocker diesen auf der Basis anarchistischer Konzeptionen entwickelten Kulturbegriff selbst nicht konsequent zur Anwendung. Unter der Hand geraten ihm immer wieder Kriterien in seine Analysen hinein, die nach unserem Eindruck einem klassisch bildungsbürgerlichen Kulturbegriff entstammen, von dem sich Rocker offensichtlich nicht ganz hat frei machen können und der uns im Kern ein patriarchalisches Verständnis zu beinhalten scheint. So baut er z.B. sein Urteil über 'kulturelle Blüte' oder 'kulturellen Niedergang' in der Geschichte der Völker immer wieder auf die bekannt berühmten Werke einzelner (Männer!) aus Literatur, Kunst, Architektur und Philosophie, begleitet von Bemerkungen wie der von der Kunst als 'höchster Erscheinungsform einer bestehenden Kulturgemeinschaft'. Kultur wird hier zum besonderen Ausdruck des einzelnen Individuums, ein Schaffen, dessen Produkte dann dem einzelnen als seine (zumeist eben nicht 'ihre') gegenübertreten. Dem könnte man auf der Basis von Rockers Überlegungen ein "anarchistisches" Kulturverständnis gegenüberstellen, in dem Kultur die freiheitlich und gemeinschaftlich gestalteten Formen des Alltags bezeichnet.
"Nationalismus und Kultur" - ein utopisches Buch
Die Zeiten schienen für Utopien mehr als schlecht. Mit dem Zusammenbruch des real-existierenden Sozialismus sind die VerfechterInnen linker gesellschaftlicher Gegenentwürfe in eine Legitimationskrise geraten. Das Ende der sogenannten Bipolarität hat auch einer systemüberwindenden Politik des Dritten Weges, wie ihn unter anderen die "Grünen" auf parlamentarischem Weg verwirklichen wollten, die Grundlage entzogen. Wie lange jedoch das kapitalistische System seine Überlegenheit ausspielen kann, muss - angesichts seiner selbstzerrstörerischen Tendenzen - zweifelhaft erscheinen. Es gehört nicht viel Phantasie dazu, sich vorzustellen, dass die Hierarchien des parlamentarisch - demokratischen Staates mit einem ähnlichen Desaster und aus ähnlichen Gründen zerfallen könnten wie die des Sozialismus. Wer dieser Entwicklung keine Alternative entgegensetzen kann, dem und der bleiben nur Zynismus oder die Glotze. Verzicht auf Utopie bedeutet aber auch Verzicht auf die Vorstellbarkeit radikaler Veränderung.
Gerade in restaurativen Zeiten wie momentan lohnt sich die Beschäftigung mit den historischen Ursachen dieser aktuellen Entwicklung. Eine Beschäftigung mit anarchistischer Theorie kann dabei erstaunlich präzise Antworten bzw. weiterführende Fragen zu einer politischen Situation aufweisen, die von zunehmenden Schwierigkeiten staatlicher (Macht-)Strukturen bei der Lösung gesellschaftlicher Probleme bestimmt ist. An Rockers Werk etwa ist interessant, dass er sowohl den Gemeinschaftsbegriff des 'real (nicht mehr) existierenden' Sozialismus als auch den Freiheitsbegriff der 'real (immer noch) existierenden' Demokratien unter die Lupe nimmt. Rockers Gesellschafts- und Kulturkritik mündet dabei nicht in das 'Anbieten' einer fertigen Utopie. Die wäre auch nicht im Sinne seiner Überlegungen, wonach hierarchiefreie Strukturen nie vorgegebene und angenommene sein können, sondern in einem freien Prozess (weiter-)entwickelt werden müssen.
Im Gegensatz zum Bild eines utopischen Gesellschaftsentwurfs sieht Rocker in der bestehenden Gesellschaft durchaus das Potential, relativ schnell libertäre und föderale Strukturen zu entwickeln, wie er sie für ein Weiterbestehen der Menschheit als zwingend empfindet. Die Vorraussetzung aber ist das Bewusstsein von der Gefahr hierarchischer Abhängigkeitsverhältnisse und die Bereitschaft, sie zu beseitigen. Die Vorstellung einer Weiterentwicklung und Selbstemanzipation der Menschheit aus Einsicht in die Notwendigkeit ist die klassische Vorstellung von Aufklärung und bürgerlicher Revolution. Rocker will die Diskrepanz zwischen den 'natürlichen' Möglichkeiten des Menschen und den "künstlich" einschränkenden Verhältnissen aufgehoben wissen. Die Ideale der Französischen Revolution (Freiheit, Gleichheit, Solidarität) müssen von einer politischen Forderung zu einer gesellschaftlichen Realität weiterentwickelt werden. Der Staat als organisierter Verletzer der Menschenrechte muss überwunden werden. Für Rocker stehen liberale und sozialistische Ideen nicht im Gegensatz. Vielmehr sieht er in sozialistischen Bestrebungen das Ziel, die liberalen Forderungen nach Freiheit und Gleichheit gegen eine Gesellschaftsordnung durchzusetzen, die nicht bereit ist, diese allen Mitgliedern zu garantieren. Elitäre und putschistische Befreiungsversuche lehnt Rocker allerdings ab, weil sie neue, Partikularinteressen dienenden Herrschaftsverhältnisse zur Folge haben.
Auch Rockers Buch ist nicht frei von Strukturen 'verborgener Herrschaft', die zu Ausblendungen führen. Rocker idealisiert das Bild des Wissenschaftlers nach dem griechischen Idealtypus. Kulturen, die keine der griechischen Wissenschaftstradition entspringende, in der europäischen Aufklärung mündende Zivilisationsentwicklung durchgemacht haben, sollen diese nachholen. Auch wenn er die verschiedenen Kulturkreise als gleichwertig anerkennt, unterscheidet er hier zwischen der Zivilisation (d.i.: Europa) und dem Barbarentum (d.i.: außerhalb Europas; s. am Beispiel der Papuas; S. 458f). Entsprechend denkt er die Französische Revolution von 1789 im Weltmaßstab. Der Problematik, die sich daraus ergibt, die europäische Aufklärung als 'Menschheitsidee' zu apostrophieren, muß sich nicht nur der Anarchismus als Wissenschaft im Verständnis Rockers, sondern jedeR von uns stellen.
Auch in anderen Zusammenhängen zeigt sich, dass Rocker stets vom Standpunkt eines weißen, mitteleuropäischen, intellektuell gebildeten Mannes argumentiert. So erweist sich seine Darstellung bei Vergleichen zwischen europäischen und außereuropäischen Vorgängen oft als eurozentristisch.
Ähnlich ist wohl zu erklären, dass Rocker die Frauen bzw. den weiblichen Anteil an der Menschheitsentwicklung ausspart. Er bietet durchgängig lediglich die männliche Sichtweise vom 'Gang der Geschichte'. So hat eine kritische Beschäftigung mit "Nationalismus und Kultur" auf die Ausklammerung der Geschlechterfrage, des Sexismus, der Patriarchatkritik sowie der Kolonialgeschichte hinzuweisen.
All dies schmälert jedoch keineswegs die Herausforderung an die Selbstverantwortung und Radikalität, die Rocker an die Kraft zur Selbstbefreiung jeder und jedes einzelnen stellt. Letztlich entscheidend ist die Qualität der persönlichen Entscheidungen hinsichtlich gemeinsamer Interessen. Dies erlaubt in seiner Konsequenz keine Flucht in politische und soziale Nischen (was einem Kapitulieren vor den Machtverhältnissen gleichkommt), sondern verlangt den Kampf um gesellschaftliche Akzeptanz.
Es ist klar, dass sich dabei die Verwendung nationaler Stereotypen zur Beschwörung von Interessenidentität, wie sie etwa die 'deutsche Friedensbewegung' in Teilen betrieben hat, ausschließt. Eingefordert ist statt internationaler (dem Status quo dienender) oder übernationaler (zum 'Superstaat' führender) eine antinationale Solidarität. Der vorhandenen Unter- und Überprivilegierung zugrundeliegenden Machtstrukturen muss durch soziale Aktion die politische, wirtschaftliche, soziale und psychische Grundlage entzogen werden. Welche Herausforderung dies bedeutet, zeigen z.B. die Schwierigkeiten, in einem Konflikt wie derzeit im ehemaligen Jugoslawien Solidarität zu üben, ohne bewusst oder unbewusst weiteres 'Öl ins Feuer zu gießen'.
Der dringend notwendige Dialog, um individuelle und gesellschaftliche Interessen selbstbestimmt "unter einen Hut" zubringen, ist gleichermaßen Utopie wie Notwendigkeit, um von den negativen Utopien einer "schönen neuen Welt" nicht eingeholt zu werden.
Zum Schluss einige Fragen zur weiterführenden Diskussion:
- Ist die Betonung bzw. die Konstruktion kultureller Identität immer freiheitsfeindlich?
- Warum ist eine fließende, offene Identität, die Austausch, Ergänzung und Entwicklung sucht, so wenig verbreitet?
- Führt kollektive Identität notwendig zur Aufgabe persönlicher Verantwortung und zur Abwertung anderer?
- Sind wir (hier) gegen Nationalismus gefeit? Wenn ja, warum?
Mittwochsgruppe Frankfurt a.M.
Literaturverzeichnis:
- Rocker, Rudolf; Nationalismus und Kultur, 2 Bde., Bremen: Verlag Impuls o.J. (ca. 1976/77), auch: Zürich: Vita-Nova-Verlag 1976
- Rocker, Rudolf; Nationalismus - eine Gefahrenquelle, in: ders.; Aufsatzsammlung, Bd. 2: 1949-1953, Frankfurt am Main: Verlag Freie Gesellschaft 1980, S. 60ff, wieder abgedruckt in QWR 162 (Jan. 1992)
- Wienand, Peter; Der 'geborene' Rebell. Rudolf Rocker. Leben und Werk, Berlin: Karin Kramer Verlag 1981
Anmerkungen:
(1) Rocker fährt fort "... ein Volk ist das natürliche Ergebnis gesellschaftlicher Bindungen." Überraschend dabei ist für uns heute die 'unschuldige' Verwendung des Begriffes "Volk".
(2) So ist der faktische Unterschied zwischen einem Arbeiter und einem Kapitalisten oder einem 'Normalbürger' und der politischen Elite größer als der zwischen Arbeitern und Kapitalisten oder 'Normalbürgem' und der politischen Elite in unterschiedlichen 'Nationen'.
(3) Dagegen glorifizierte der romantische deutsche Kulturnationalismus, der die Deutschen als Urvolk zum Erlöser der Menschheit erkor (Fichte), die eigene Nation derart, dass die anderen umso armseliger erschienen.
(4) Entgegen landläufiger Vorstellungen lagen die genuin eigenständigen kulturellen Leistungen des römischen Imperiums - nicht zufällig - einzig auf den Gebieten des Rechts (systematische Kodifizierung, grundlegende Entwicklung des Begriffs von Privateigentum etc.) und des Militärs.
(5) Sogenannte 'nationale Belange' dienen hier nur zur Legitimierung handfester persönlicher Interessen der nationalen Eliten.
Aus: Graswurzelrevolution Sondernummer 171/72/73 - Texte zu Anarchismus und gewaltlose Revolution heute
Überarbeitet nach: http://www.free.de/schwarze-katze/texte/a57.html