Rudolf Rocker - Das nationale Einheitsphantom
Die allgemeine Aufregung und die künstlich entfachten Proteststürme, die jetzt, dank der famosen „Friedensbedingungen“ der Alliierten, in allen Teilen Deutschlands entfesselt werden, haben wieder einmal die „Nationale Frage“ und das Problem der „Nationalen Einheit“ in den Vordergrund der öffentlichen Auseinandersetzungen gestellt. Vom Alldeutschen bis herab zum berufenen Vertreter der modernen Sozialdemokratie ist man sich darüber einig, dass die nationale Einheit die Grundlage jeder kulturellen Entwicklung sei, und dass die Zersplitterung eines Volkes naturnotwendig zum Niedergang und endgültigen Verfall seiner Kultur führe müsse. Man beschwört, zetert, klagt, flucht, fällt in Wutkrämpfe oder in hysterische Verzuckungen, je nach dem Programm, und das alles, weil das berühmte und berüchtigte Triumphirat in Versailles die nationale Zerstückelung Deutschlands ausgesprochen hat und sogar den Österreichern versagt, den Segnungen der nationalen Einheit teilhaftig zu werden.
Es gab eine Zeit, wo alle Richtungen des autoritären Sozialismus den Begriff der Internationalität als ein vollständiges Aufgehen der verschiedenen Völker in der abstrakten Vorstellung der Menschheit auffassten. Man sah in der bunten Verschiedenartigkeit des Völkerlebens und der Sprachen nur ein künstlich geschaffenes Hindernis gegen die Verbrüderungsbestrebungen der darbenden Menschheit und träumte von der baldigen Abschaffung aller dieser Unterschiede, von der Einführung einer allgemeinen Weltsprache, die alle existierenden Sprachen verdrängen solle, und ähnlichen Dingen. Diese naiven Auffassungen, deren Vertreter keine blasse Ahnung von der Tiefe des Problems hatten, ist zwar auch heute noch nicht gänzlich verschwunden, musste aber im allgemeinen anderen Anschauungen das Feld räumen. Die moderne Sozialdemokratie hat selbstverständlich mit den Ideen ihrer Vorgänger aus der Periode des sogenannten „Handwerksburschenkommunismus“ nichts mehr gemein. Sie hat auch schon lange die Stellung aufgegeben, die sie Jahrzehnte lang vertreten hatte, und der Marx und Engels im Kommunistischen Manifest Ausdruck verliehen, als sie erklärten, dass der moderne Proletarier überhaupt kein Vaterland besitze, dass man ihm daher nicht etwas nehmen könne, was er nicht habe. Der Gedanke, dass nicht die nationalen und politischen Abänderungen, sondern die Klassenunterschiede und ökonomischen Gegensätze für die Arbeiterklasse das entscheidende Element seien, findet heute in der sozialdemokratischen Partei nur noch wenige vereinzelte Anhänger. Die große Mehrheit der Partei hat schon lange ihr nationales Herz entdeckt und betrachtet die Verteidigung des Vaterlandes als eine proletarische und sozialistische Pflicht. Wie ernst es diesen Leuten mit dieser „Pflicht“ ist, das hat uns die verhängnisvolle Kriegspolitik der sozialdemokratischen Mehrheitsführer während der letzten viereinhalb Jahre mit klassischer Deutlichkeit vor Augen geführt; das zeigt uns heute wieder die Stellung der sozialdemokratischen Staatsmänner, die sich redliche Mühe geben, den Geist von 1914 wieder neu zu entfachen, um Clemenceau und seinen Spießgesellen ein glattes „Unannehmbar“ entgegenschleudern zu können.
In Grunde genommen ist diese Stellung durchaus nicht verwunderlich; ist sie doch nur das unvermeidliche Produkt der Staatsgläubigkeit der modernen Sozialdemokratie. Sozialistisch ist sie allerdings nicht, aber wer ist heute noch verwegen genug, die sozialdemokratischen Führer sozialistischer Anwandlungen zu zeihen !
Der moderne Sozialdemokrat hat den klaffenden Unterschied zwischen Staat und Gesellschaft längst vergessen, vorausgesetzt, dass er je eine klare Vorstellung dieses elementaren Gegensatzes hatte. Und wie er sich die Gesellschaft nur in der Form des Staates vorstellen kann, so begreift er das Volk nur in der Zwangsjacke der Nation. Aber zwischen Volk und Nation besteht derselbe Gegensatz als zwischen Gesellschaft und Staat. Die gesellschaftliche Organisation ist ein natürliches Gebilde, das sich unter dem Einfluß gewisser Notwendigkeiten von unten nach oben entwickelt und dessen Grundlage die Wahrnehmung der allgemeinen Interessen ist. Die staatliche Organisation ist ein künstliches Gebilde, das den Menschen von oben nach unten aufoktroyiert wird und dessen eigentlicher Zweck die Verteidigung der Interessen privilegierter Minoritäten auf die Kosten der Allgemeinheit ist.
Ein Volk ist das natürliche Ergebnis gesellschaftlicher Organisation, ein Sichzusammenfinden von Menschen, die durch die Verwandschaftlichkeit der Abstammung, durch allgemeine Formen und Eigentümlichkeiten ihrer Kultur und die Gemeinschaftlichkeit der Sprache, Sitten, Traditionen usw. innerlich vorhanden sind. Dieser gemeinsame Zug lebt und wirkt in jedem einzelnen Gliede des Volksverbandes und bildet einen wichtigen Teil seiner individuellen und kollektiven Existenz. Er kann ebenso wenig künstlich gezüchtet als gewaltsam zerstört werden, es sei denn, dass man alle Glieder eines Volkes ausrotte. Ein Volk kann einer Fremdherrschaft unterworfen und in seiner natürlichen Entwicklung künstlich beeinträchtigt werden, nie aber gelingt es, seine psychologischen und kulturellen Eigentümlichkeiten und Veranlagungen zu ersticken. Im Gegenteil, gerade unter fremdem Joche treten dieselben um so deutlicher hervor und bilden vorzugsweise ein Schutzmittel für die Existenz des Volksganzen. Die Erfahrungen der Engländer mit den Iren, der Österreicher mit den Tschechen und Südslawen, der Deutschen mit den Polen usw. sind klassische Beispiele für die unbeugsame Zähigkeit des völkischen Zusammenlebens. Und sehr oft sehen wir, dass, falls das unterjochte Volk kulturell höher steht wie seine Unterdrücker, dass die letzten sozusagen von der höheren Kultur aufgesaugt werden. So eroberten die kriegerischen Mongolenhorden China und zwangen den Chinesen einen Mongolen als Kaiser auf, aber im Verlaufe einiger Generationen verwandelten sich die Mongolen in Chinesen, da ihre primitive Kultur der Größe und Feinheit der chinesischen Kultur keinen Widerstand leisten konnte. Dieselbe Erscheinung sahen wir in Italien, das Jahrhunderte lang den Einfällen barbarischer Völkerhorden ausgesetzt war. Aber die hochentwickelte Kultur Italiens siegt immer über die brutale Gewalt der Barbaren, die nur dazu beitrugen, diese Kultur zu verjüngen und neu zu befruchten. Und das ist ganz natürlich, denn ein Volk lässt sich ebenso wenig in fremde Sitten, Gewohnheiten und Anschauungen hineinzwingen, wie man einen einzelnen Menschen in den engen Rahmen einer fremden Individualität hineinzupressen imstande ist. Wenn eine Annäherung und ein allmähliges Aufgehen einer –Volkgruppe in einer anderen stattfindet, so geschieht das stets freiwillig und ganz unbewusst durch natürliche Anpassung, niemals aber auf dem Wege brutaler Gewalt.
Die Nation, von der anderen Seite ist stets das künstliche Produkt eines Regierungssystems, wie ja auch der Nationalismus im Grunde genommen nichts anderes vorstellt, als die Religion des Staates. Die Zugehörigkeit zur Nation wird nicht durch innerliche natürliche Ursachen bestimmt, sondern durch rein äußerliche Verhältnisse und Gründe der Staatsräson. Eine Handvoll Politiker und Diplomaten entscheidet willkürlich über die nationale Existenz und Zukunft einer Menschengruppe, die sich dem Gebote der Macht einfach unterwerfen muß, ohne selbst mitbestimmen zu können. So legten sich z.B. die Einwohner der französischen Riviera eines Abends als Italiener schlafen und erwachten des morgens als Franzosen, da der Kongreß der Diplomaten in einer Nachtsitzung über ihr Schicksal entschieden hatte. Die Helgoländer waren ein Glied der englischen Nation und legale Untertanen der britischen Regierung, aber als diese sie an Deutschland verschacherte, wurde auch ihre Nationalität einem radikalen Wechsel unterworfen. War es am Tage vorher ihr größtes Verdienst, Vorposten der englischen Nation zu sein, so wurde ihnen nach der Übergabe der Insel ihre ehemals vornehmste Tugend nunmehr als ihre schwärzeste Sünde ausgelegt. Solche Beispiele gibt es die schwere Menge; sie sind charakteristisch für die ganze Entwicklungsgeschichte des Staates.
Gerade der moderne konstitutionelle demokratische Staat war es, der den Begriff der Nation und das Wesen des Nationalismus bis zu ihren letzten Konsequenzen entwickelt hat. Die absolute Monarchie, die sozusagen die fetischistische Periode in der Entwicklungsgeschichte des Staates repräsentiert, wo der König der sichtbare Ausdruck des ganzen Systems ist, behandelte die breiten Massen ihrer rechtlosen Untertanen wir eine große, zum Melken bestimmte Herde. Aus diesem Grunde zog sie dieselben nur in ganz seltenen Fällen zur sogenannten Landesverteidigung heran, die sie einer Armee von Berufssoldaten anheim stellte. Erst der moderne Staat, der vorgeblich jedem seiner Bürger das Mitbestimmungsrecht an der Regierung durch die Einführung des allgemeinen Wahlrechts verliehen hatte, entwickelte die Idee der Nation zur eigentlichen Blüte. Der Bürger, den man mit seinen neu erworbenen politischen Rechten hypnotisierte, musste auch die aus diesen „Rechten“ erwachsenden Pflichten mit übernehmen. Die Wahlurne wurde zum Opferaltar der menschlichen Persönlichkeit, der Stimmzettel zur Urkunde freiwilliger geistiger und physischer Sklaverei.. Das französische Jakobinertum schuf erst den abstrakten Staatsbegriff und zusammen mit ihm die abstrakte Vorstellung der Nation. Seitdem wurde die Idee der nationalen Einheit das Losungswort der demokratischen Bewegungen, von denen die Sozialdemokratie als zweifelhafte Erbschaft übernommen hat. Die nationale Einheit wurde zum Inbegriff der kulturellen Entwicklung, zum Symbol des völkischen Lebens, jedes Hindernis, das man ihr entgegensetzte, wurde zum kulturfeindlichen Faktor. Und diese „fable convenue“, dieses Märchen, das man stillschweigend als Wahrheit angenommen hatte, schlug alle Geister in seinen Bann, obwohl uns die Geschichte gerade das Gegenteil beweist: Gerade die Perioden nationaler Zersplitterung waren die größten Kulturepochen der Menschheit, während umgekehrt, die Perioden nationaler Einheit Epochen des kulturellen Niedergangs und Verfalls gewesen sind. Das alte Griechenland, das national und politisch vollständig zersplittert war, gab uns trotzdem eine Kultur, die heute noch als vorbildlich erachtet wird. Und als später Alexander von Mazedonien die „griechische Einheit“ mit dem Schwerte durchführte, versiechten die Quellen der kulturellen Kräfte und Fähigkeiten, die sich nur in der Freiheit entwickeln konnten.
Die große Periode der freien Städte des Mittelalters, die Zeit der Renaissance in Europa war eine Epoche der extremsten nationalen Zersplitterung und trotzdem wurde in jener grandiosen Zeit eine Kultur geboren, die bisher nicht mehr ihresgleichen gefunden hat. Die gewaltigen Denkmäler der Architektur, die uns jene Zeit hinterlassen hat, sind ein ewiges Wahrzeichen dieser glänzendsten Phantasie der menschlichen Entwicklung. Aber als später der moderne Staat auf den Trümmern dieser Kultur das Banner der nationalen Einheit entfaltete, dann schmolzen die letzen Reste kultureller Größe wie Schnee an der Sonne und die brutalste Barbarei brach über Europa herein.
Werfen wir einen Blick, auf unsere eigene Geschichte und wir finden nur eine Bestätigung derselben Erscheinung. Alle die reichen Errungenschaften geistiger Größe und Kultur in Deutschland datieren aus der Zeit unserer nationalen Zersplitterung. Unsere klassische Literatur von Kloppstock bis Goethe und Schiller, die berauschende Kunst unserer romantischen Schule, unsere klassische Philosophie von Kant bis Feuerbach, die Höhenepoche unserer klassischen Tondichtung – das alles gehört dieser Zeit an. Der nationale Einheitsstaat aber bezeichnet den Niedergang unserer Kultur, das Versiechen der schöpferischen Kräfte, den Triumph des Militarismus und einer geistlosen Bürokratie, die uns in die schauerlichste Katastrophe, von der die Geschichte zu sagen weiß, hineinpeitschte wie eine willenlose Horde.
Und kann es denn anders sein ? Ist doch der nationale Einheitsstaat nichts anderes wie das verkörperte Machtprinzip der besitzenden Klassen, der Sieg der Uniformität und Schablone über die reiche Mannigfaltigkeit des völkischen Geistes, der Triumph geistiger Dressur über die natürliche Erziehung und Charakterbildung, das Verdrängen des Persönlichkeitsgefühls durch den Kadavergehorsam, mit einem Worte – die Vergewaltigung der Freiheit durch die brutale staatliche Gewalt.
Das hatte Proudhon schon deutlich erkannt, als er Mazzini, dem hervorragendsten Vertreter des nationalen Einheitsgedankens in Italien, die Worte entgegenhielt: „Jeder ursprüngliche Charakter in den mannigfaltigen Landschaften eines Reiches geht durch die Zentralisation, das ist der wahre Name der sogenannten Einheit, verloren. Ein großer Zentralstaat konfisziert alle Freiheit der Provinzen und der Gemeinden zugunsten einer höheren Macht – der Regierung. Was ist diese Einheit der Nation in Wahrheit ? Das Aufgehen der besonderen Völker, in denen die Individuen leben und sich voneinander unterscheiden, in einer abstrakten Nation, in der keiner atmet und keiner den anderen kennt. Indem man den Menschen die Verfügung über sich selbst geraubt hat, braucht man, um diese riesige Maschine in Gang zu bringen, eine ungeheuerliche Bürokratie, eine Legion Beamte. Um sie nach innen und außen zu schützen, braucht man ein stehendes Heer, Angestellte, Soldaten, Mietlinge, das wird die Zukunft der Nation vorstellen. Diese grandiose Einheit braucht Ruhm, Glanz, Luxus, eine imposante Zivilliste, Botschafter, Pensionen, Pfründen. In so einem Einheitsstaat streckt alles die Hand aus, und wer zahlt die Schmarotzer? Das Volk !
Wer einheitliche Nation sagt, der meint eine Nation, die ihrer Regierung verkauft ist. Die Einheit ist nichts weiter als eine Form der bourgeoisen Ausbeutung unter dem Schutz der Bajonette. Jawohl, die politische Einheit in den Großstaaten ist die Herrschaft des Bürgertums. Darum die Lust des Bourgeois am Einheitsstaat.
Der geniale Franzose kannte seine Pappenheimer, aber der deutsche Michel scheint sie noch immer nicht zu kennen.
Mit diesen Ausführungen sollen die infamen Friedensbedingungen der Alliierten selbstverständlich keineswegs gerechtfertigt werden. Wir fordern das Recht der freien Entschließung für jede Gemeinde, jede Provinz, jedes Volk und gerade deshalb verwerfen wir die Wahnidee des nationalen Einheitsstaates. Der berühmte „Völkerbund“ des Herrn Wilson war für uns niemals etwas anderes als eine neue heilige Allianz im kapitalistischen Gewande. Dieselben Herren aber, die heute wehe, wehe über die Alliierten rufen, haben jedes Recht auf Protest verwirkt, denn sie sind Fleisch vom selben Fleische, Blut vom selben Blut – aber sie sind die Geschlagenen und das ist die bittere Pille, die ihnen nicht mundet
Literatur:
- Rudolf Rocker: „Nationalismus und Kultur“ (dort findet sich vieles aus diesem Text wieder)
- Rudolf Rocker: „Aufsatzsammlung“, Bd. 1 und 2
- Rudolf Rocker: „Memoiren eines deutschen Anarchisten“
- Peter Wienand: „Rudolf Rocker. Der ‚geborene’ Rebell“
Aus: "Der Syndikalist" Nr. 24, 1919
Originaltext: www.fau-bremen.de.vu