Pierre-Joseph Proudhon - Das Erbe der Revolution (1851)

Die Revolution hatte im Jahre 1789 zugleich zu zerstören und zu bauen. Sie hatte das alte Regierungssystem abzuschaffen, mußte aber eine neue Organisation an seine Stelle setzen, deren Verfassung und Züge der früheren Ordnung der Dinge in allem entgegengesetzt sein mußten, entsprechend der Revolutionsregel: Jede Negation in der Gesellschaft bedeutet eine unmittelbar zu ihr gehörige Position.

Von diesen zwei Dingen hat die Revolution nur mühsam das erste vollbracht; das zweite ist völlig vergessen worden. Daher rührt, die Unmöglichkeit des Lebens, die seitdem auf unserer Gesellschaft lastet.

Nachdem also in der Nacht des vierten August das Feudalwesen abgeschafft und das Prinzip der bürgerlichen Freiheit und Gleichheit verkündet war, ergab sich daraus, daß sich die Gesellschaft von jetzt ab nicht mehr für die Politik und den Krieg, sondern für die Arbeit organisieren mußte. Was war denn in Wahrheit die Feudalorganisation gewesen? Eine völlig militärische Organisation. Was ist dagegen die Arbeit? Gerade das Gegenteil des Kriegswesens. Den Feudalismus abschaffen hieß, sich zu dauerndem Frieden, nicht nur nach außen, sondern nach innen verurteilen.

Durch diesen Akt war die ganze alte Politik zwischen den Staaten, waren alle Systeme des europäischen Gleichgewichts abgeschafft: die nämliche Gleichheit, die nämliche Unabhängigkeit, wie sie die Revolution zwischen den Bürgern herzustellen versprach, sollte auch von Volk zu Volk, von Provinz zu Provinz, von Stadt zu Stadt herrschen.

Was also nach dem 4. August hätte organisiert werden müssen, das war nicht eine Regierung: denn indem man eine Regierung schuf, tat man nichts anderes, als die alten Einrichtungen wiederherstellen; was hätte geschaffen werden müssen, war die Wirtschaft in den Völkern und das Gleichgewicht der Interessen. Da nach dem neuen Stand der Dinge die Geburt für die Lage der Volksmassen von keiner Bedeutung mehr war, weil ja die Arbeit alles war; da, was die auswärtigen Angelegenheiten angeht, die Beziehungen der Völker unter einander sich nach den nämlichen Grundsätzen umgestalten mußten, indem das bürgerliche Recht, das öffentliche und das Völkerrecht unter einander identisch und entsprechend sind, hätte es klar sein müssen, daß die Aufgabe der Revolution, nachdem in Frankreich und in Eurapa das Feudal- oder militaristische Wesen abgeschaft war, darin bestand, überall das Wesen der Arbeit oder Industrie, d h. der Gleichheit an seine Stelle zu setzen.

Diese Folgerung, so offenbar sie ist und so untrennbar sie zu dem negativen Akt des 4. August 1789 gehört, wurde von keinem der Revolutionäre verstanden, die sich in der Folgezeit der Revolution, bis zum Jahre 1814, an die Deutung dieses Aktes machten. Alle Ideen wandten sich vielmehr der Politik zu. Die Gegenrevolution war gekommen, die revolutionäre Partei war für den Augenblick gezwungen, sich auf die Defensive zu verlegen und sich für den Krieg zu organisieren, und so war die Nation von neuem den Männern des Schwerts und den Gesetzemachern ausgeliefert. Es sah so aus, als wären Adel, Geistlichkeit und Monachie nur verschwunden, um Regierungsleuten einer andern Rasse Platz zu machen, Konstitutionellen, die die Engländer kopierten, klassischen Republikanern, Polizeidemokraten, die in die Römer, die Spartaner, vor allem aber gar sehr in ihre eigene Person vernarrt waren und sich einstweilen sehr wenig um die wirklichen Bedürfnisse des Volkes kümmerten, das von alledem nichts verstand, zusah, wie sie sich gegenseitig umbrachten, und sich schließlich dem Stern eines glücklichen Soldaten anvertraute.

Meinen ganzen Gedanken mit einem Wort auszudrücken, so wenig erbaulich es auch klingen mag: die Revolutionäre haben ihre eigentliche Aufgabe gleich nach dem Bastillesturm und ebenso wieder nach der 48er Februarrevolution im Stich gelassen, beide Male aus den nämlichen Ursachen: sie verstanden nichts von der Volkswirtschaft, sie kamen von dem Regierungswahn nicht los und sie hatten kein Vertrauen zum Proletariat. Im Jahre 1793, als die Notwendigkeiten des Widerstandes gegen die Invasion des Auslands eine ungeheure Konzentration der Kräfte mit sich brachten, kam die Verirrung auf ihren Höhepunkt.

Das Prinzip des Zentralismus, das der Wohlfahrtsausschuß auf breiter Basis anwandte, wurde von den Jakobinern zum Dogma erhoben und diese vererbten es dem napoleonischen Kaiserreich und den Regierungen, die nachher kamen. Das ist die unglückselige Tradition, die im Jahre 1848 den Krebsgang der Provisorischen Regierung bestimmt hat und die noch zur Stunde die ganze Wissenschaft, die ganze Politik der republikanischen Partei ausmacht.

Da also die Organisation der Wirtschaft, welche die notwendige Kensequenz der endgültigen Abschaffung des Feudalismus hätte sein müssen, vom ersten Tage an im Stich gelassen war, da die Politik in allen Köpfen die Arbeit wieder in den Hintergrund drängte, da Rousseau und Montesquieu den Platz einnahmen, der Quesnay und Adam Smith gebührt hätte, konnte es nicht anders kommen, als daß die neue Gesellschaft, die kaum empfangen war, im embryonalem Zustand blieb; daß sie, anstatt sich, wie es ihrem Wesen entsprach, in der Wirtschaft zu entwickeln, im Konstitutionalismus dahinsiechte; daß ihr Leben ein fortwährender Widerspruch war; daß sie statt der Ordnung, die ihr eigen ist, überall systematische Korruption und gesetzliches Elend aufwies; schließlich, daß die öffentliche Gewalt, die in ihrer Einrichtung mit der peinlichsten Treue die Gegensätzlichkeit, die sie repräsentierte, abspiegelte, sich in die Lage versetzt sah, immer das Volk bekämpfen zu müssen, wie das Volk genötigt war, unaufhörlich gegen die Regierung aufzustehen

Kurz: die Gesellschaft, die von der Revolution geschaffen werden sollte, ist nicht vorhanden: sie ist unsere Aufgabe. Was wir seit der Revolution vorfinden, ist nur ein künstlicher, oberflächlicher Zustand, der mit Müh und Not die furchtbarste Anarchie und den schrecklichsten Verfall verbirgt.

Wir sind freilich nicht daran gewöhnt, die Ursachen der sozialen Störungen und der Revolutionen so weitab zu suchen. Die wirtschaftlichen Fragen besonders widerstreben uns: das Volk ist seit dem großen Kampf von 1793 dergestalt von seinen wahren Interessen abgekommen, die Geister sind durch die Agitatoren der Tribüne, des öffentlichen Platzes und der Presse So sehr abgelenkt und in die Irre geführt worden, daß man, sowie man die Politik aufgibt und dafür von der Wirtschaft spricht, fast sicher ist, von seinen Lesern geflohen zu werden und nur noch das Blatt Papier zum Vertrauten seines Denkens zu haben. Trotzdem indessen müssen wir lernen, daß es jenseits des ebenso unfruchtbaren wie aufreibenden Gebietes des Parlamentarismus ein anderes unvergleichlich viel ausgedehnteres gibt, auf dem sich unser Schicksal entscheidet; daß es jenseits der politischen Trugbilder, deren Gestalten unsre Phantasie gefangen nehmen, die Erscheinungen der Sozialwirtschaft gibt, die mit ihrer Harmonie oder ihrer Gegensätzlichkeit alles Wohl und Wehe der Gesellschaften hervorbringen.

Aus: "Der Sozialist. Organ des Sozialistischen Bundes", 2. Jahrgang, Nr. 10, 15.5.1910. Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ae zu ä, That zu Tat usw.) von www.anarchismus.at.


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