Peter Kropotkin - Der Krieg

Der Anblick, den Europa heute bietet, ist sehr traurig, aber auch sehr lehrreich. Auf einer Seite ein Kommen und Gehen von Diplomaten und Höflingen, welches jedesmal, daß die Luft anfängt, nach Pulver zu riechen, augenfällig zunimmt. Man knüpft und löst Bündnisse; man schachert und verkauft das menschliche Vieh, um sich Verbündete zu sichern. «Soviel Millionen Köpfe, welche unser Herrscherhaus dem eurigen überläßt; soviel Hektar Land, um sie darauf zu weiden, diese Häfen, um ihre Wolle zu exportieren!» Und es handelt sich darum, wer in diesem Geschäft den anderen besser betrügen kann. Das nennt man in der Sprache der Politik: Diplomatie.

Andernteils Kriegsrüstungen ohne Ende. Jeder Tag bringt uns neue Erfindungen, um unsere Nächsten besser ausrotten zu können, neue Ausgaben, neue Anleihen, neue Steuern. Patriotismus zu schreien, in Chauvinismus zu machen, den Haß zwischen den Völkern anfachen, wird in der Politik und im Journalismus zum einträglichsten Geschäft. Sogar die Kindheit wird nicht verschont; man reiht die kleinen Buben in Bataillone ein, man erzieht sie im Haß gegen den Fremden, man dressiert sie zum blinden Gehorsam jenen gegenüber, die gerade die Regierung in Händen haben – einerlei, welcher Partei dieselben angehören. Und wenn diese Kinder auf wachsen und einundzwanzig Jahre erreicht haben, wird man sie wie Maultiere mit Patronen, Proviant und Werkzeugen beladen, man wird ihnen ein Gewehr in die Hand geben, und man wird sie lehren, nach dem Klang der Trompete zu marschieren und – wenn es ihnen von Vorgesetzten Militärpersonen befohlen wird – sich gegenseitig wie wilde Tiere umzubringen, ohne sich je zu fragen: warum? zu welchem Zweck? Ob sie den Armeen einer fremden Nation gegenüberstehen, oder gar ihren eigenen Brüdern, die durch das Elend zur Empörung getrieben werden – einerlei, die Trompete ruft, sie müssen gehorchen!

Dies ist es, worauf all die Weisheit unserer Regierenden und Erzieher hinausläuft! Dies ist das einzige Ideal, das sie uns geben konnten, und dies in einer Zeit, wo die Ausgebeuteten aller Länder es immer mehr als höchste Lebenspflicht erkennen, daß sie sich über die Grenzen hinweg die Hände reichen sollten!

«Ah! Ihr habt den Sozialismus nicht gewollt? Also gut, ihr werdet den Krieg haben - den dreißigjährigen, den fünfzigjährigen Krieg!» sagte Alexander Herzen1 nach 1848. Und wir haben ihn; wenn der Kanonendonner für einen Augenblick aufhört, so ist es nur, um Atem zu holen, und anderswo mit neuer Kraft wieder anzufangen, während der europäische Krieg – das allgemeine Handgemenge der Völker – seit Jahrzehnten droht, ohne daß man weiß, wofür man kämpfen wird, mit wem, gegen wen, im Namen von was für Prinzipien, in wessen Interesse?

In früheren Zeiten, wenn es einen Krieg gab, wußte man wenigstens, wofür man sich hinschlachten ließ. – «Dieser König hat unseren König beleidigt – also bringen wir seine Untertanen um!» «Dieser Herrscher will dem unseren seine Provinzen wegnehmen? – Sterben wir also, um seiner Allerchristlichen Majestät dieselbe zu erhalten!» Man schlug sich wegen der Rivalität der Herrscher. Das war dumm, und die Könige konnten deshalb für einen solchen Zweck nur ein paar tausend Menschen anwerben. Aber was zum Teufel ist die Ursache, daß heute ganze Völker bereit sind, sich aufeinander zu stürzen?

Die Könige haben in den Fragen des Krieges nichts mehr zu sagen. Sie werden alle Impertinenzen und Beleidigungen der Nachbarherrscher und -völker ruhig einstecken, solange die Bankiers und Fabrikanten ihrer Länder – diese nennt man heute ‹Patrioten› – ihnen nicht den Befehl geben, ihre Armeen in Bewegung zu setzen. In Rußland wie in England, in Deutschland wie in Frankreich schlägt man sich nicht mehr für die Launen der Herrscher; man schlägt sich für die Erhaltung der Einkommen und der Vergrößerung des Reichtums der allermächtigsten Herrschaften Rothschild2, Schneider3 & Co., für das Mästen der großen Finanz- und Industriebarone. An Stelle der Rivalitäten der Könige sind die Rivalitäten zwischen den Bourgeoisgesellschaften getreten.

Man spricht zwar noch über das «politische Übergewicht». Wenn wir aber diesen abstrakten Begriff in greifbare Tatsachen übersetzen, wenn wir untersuchen, wie sich zum Beispiel das politische Übergewicht Deutschlands geltend macht, da werden wir sehen, daß es sich einfach um das wirtschaftliche Übergewicht auf den internationalen Märkten handelt.

Das, was die verschiedenen Großmächte: Deutschland, Frankreich, Rußland, England, Österreich in diesem Moment zu erobern suchen, ist nicht die militärische Macht; es ist die wirtschaftliche Macht. Es ist das Recht, ihre Waren, ihre Zollbestimmungen ihren Nachbarn aufzuzwingen; das Recht, die in der Industrie zurückgebliebenen Völker auszubeuten; das Recht, Eisenbahnen in den Ländern zu bauen, wo es noch keine gibt, und unter diesem Vorwand die Herren der dortigen Märkte zu werden; schließlich das Recht, von Zeit zu Zeit einem Nachbarn einen Hafen wegzunehmen, um ihren eigenen Handel neu zu beleben – oder eine Provinz, um den Überfluß ihrer Waren loszuwerden.

Wenn wir uns heute schlagen, so ist es, um unseren Großindustriellen einen Profit von dreißig Prozent, den Finanzbaronen die Herrschaft über die Börse, den Bergwerks- und Eisenbahnaktionären Renten von Hunderttausend Franken zu verschaffen. Dies ist so sehr der Fall, daß, wenn wir nur etwas konsequent wären, wir die Raubvögel auf unseren Fahnen durch das goldene Kalb, die ältesten Wappen durch den Geldsack ersetzen, und die Regimenter, die jetzt die Namen von königlichen Prinzen führen, nach ihnen benennen würden. Man wüßte wenigstens, für wen man sich gegenseitig umbringt.

Neue Märkte zu eröffnen, seine Waren – mögen sie gut oder schlecht sein – abzusetzen: – dies liegt aller heutigen Politik zugrunde; dies ist die wahre Ursache aller Kriege im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert.

Im achtzehnten Jahrhundert war England das erste Land, welches das System der großen Exportindustrie ins Leben rief. Es pferchte seine Proletarier in den Städten zusammen, spannte sie an vervollkommnete Maschinen, welche die Produktion verhundertfachten und häufte in seinen Warenhäusern Berge von Industrieerzeugnissen auf. Aber diese Waren waren nicht für die «Lumpenproletarier» bestimmt, die dieselben erzeugt hatten. Diese erhielten als Arbeitslohn eben nur so viel, daß sie irgendwie leben und sich vermehren konnten; wie wäre es ihnen, die die Baumwollen- und Leinwandstoffe webten, möglich gewesen, dieselben zu kaufen? Und die englischen Schiffe fuhren über den Ozean, am europäischen Kontinent, in Asien, Australien, Amerika, um Käufer zu finden; und sie waren sicher, keinem Konkurrenten zu begegnen. In den Städten herrschte das furchtbarste Elend, aber der Fabrikant, der Kaufmann bereicherte sich zusehends. Die Reichtümer, die den fremden Ländern entzogen wurden, häuften sich in den Händen einiger Wenigen zusammen, und die Nationalökonomen am Kontinent spendeten ihren Beifall und forderten ihre Landsleute auf, diesem Beispiele zu folgen.

Aber schon am Ende des achtzehnten Jahrhunderts begann Frankreich dieselbe Entwicklung durchzumachen. Es organisierte sich ebenfalls, um im Großen, für den Export, zu produzieren. Die Revolution von 1789, indem sie die Macht vom Adel und Königtum auf die bürgerliche Klasse übertrug, die ärmste Bevölkerung der Dörfer in die Städte trieb und die Bourgeois bereicherte, gab der wirtschaftlichen Entwicklung einen neuen Anstoß. Das brachte die englische Bourgeoisie in Aufregung – viel mehr noch als die republikanischen Erklärungen und das Blut, das in Paris für die Republik vergossen wurde; unterstützt von der Aristokratie, erklärte sie einen Vernichtungskrieg gegen die französische Bourgeoisie, welche den englischen Produkten die europäischen Märkte zu versperren drohte.

Man kennt den Ausgang dieses Krieges. Frankreich wurde militärisch besiegt, aber es hat seinen Platz auf dem Weltmarkt erobert. Die englische und französische Bourgeoisie haben sogar für eine Zeit ein rührendes Freundschaftsbündnis geschlossen; sie erkennen sich als Schwestern an.

Aber Frankreich geht bald über das Ziel hinaus. Um jeden Preis bestrebt, für den Export zu produzieren, will es sich die Märkte erobern, ohne den industriellen Fortschritt in Betracht zu ziehen, welcher sich vom Westen nach Osten fortpflanzt und immer neue Länder ergreift. Die französische Bourgeoisie sucht den Kreis ihres Profites zu vergrößern. Achtzehn Jahre lang duldet sie den Fuß Napoleons III. auf ihrem Nacken, immerfort hoffend, daß dieser Usurpator ihre wirtschaftliche Herrschaft ganz Europa aufzwingen werde; und sie läßt ihn nur dann fallen, als sie sieht, daß er unfähig dazu ist.

Denn eine neue Nation, Deutschland, führt bei sich dieselbe Wirtschaftsordnung ein. Auch sie entvölkert ihr Land und pfercht ihre hungernden Proletarier in den Städten zusammen; und diese verdoppeln in ein paar Jahren ihre Bevölkerung. Auch sie fängt an, im Großen zu produzieren. Eine riesige Industrie, mit vervollkommneten Maschinen versehen und durch einen mit vollen Händen ausgestreuten technischen und wissenschaftlichen Unterricht unterstützt, häuft ihresteils Produkte auf, welche nicht für jene bestimmt sind, die dieselben erzeugen, sondern für den Export, die Bereicherung ihrer Herren. Das Kapital sammelt sich an und sucht vorteilhafte Anlagen in Asien, in Afrika, in der Türkei und Rußland; die Berliner Börse rivalisiert mit jener von Paris und will dieselbe beherrschen.

Ein Ruf ertönt dann im Schoße der deutschen Bourgeoisie: sich zu vereinigen unter was immer für einer Fahne, wenn auch unter jener Preußens, und diese neue Macht zu benützen, um seine Erzeugnisse, seine Zolltarife seinen Nachbarn aufzuzwingen, um sich eines guten Hafens am baltischen, womöglich am adriatischen Meer zu bemächtigen; um die militärische Macht Frankreichs zu brechen, welche vor zwanzig Jahren seine wirtschaftliche Herrschaft, seine Handelsverträge Europa aufzuzwingen drohte.

Der Krieg von 1870 war die Folge davon. Frankreich beherrscht nicht mehr die Märkte; es ist Deutschland, das dieselben zu beherrschen trachtet und das, ebenfalls von der Habsucht angetrieben, seine Ausbeutung immer mehr auszudehnen versucht, ohne die Krisen, die Krachs, die Unsicherheit und das Elend zu beachten, welche an seinem wirtschaftlichen Gebäude nagen. Die Küsten Afrikas, die Ernten Koreas, die polnischen Ebenen, die russischen Steppen, die ungarischen Pusztas, die rosenbewachsenen Täler Bulgariens – all dies erweckt die Begierde des deutschen Bourgeois. Und jedesmal, da der deutsche Geschäftsmann diese kaum bebauten Ebenen, die Städte ohne Großindustrie, die unbenützten Flüsse sieht, tut ihm das Herz dabei weh. Er malt sich aus, wie er aus diesen brach liegenden Reichtümern Säcke von Gold gewinnen könnte, wie er diese Menschen unter das Joch seines Kapitals beugen würde. Er schwört sich, eines Tages «die Zivilisation», das heißt die Ausbeutung, im Osten einzuführen. Bis dahin wird er versuchen, seine Waren, seine Eisenbahnen Italien, Österreich und Rußland aufzuzwingen.

Aber diese Länder befreien sich ihrerseits von der wirtschaftlichen Oberhoheit ihrer Nachbarn. Auch sie treten Schritt für Schritt in den Kreis der ‹industriellen› Länder ein; und diese jungen Bourgeoisien verlangen nichts Besseres, als sich ihrerseits durch den Export zu bereichern. In wenigen Jahren haben Rußland und Italien einen riesigen Sprung in der Ausdehnung ihrer Industrien gemacht, und da die Bauern, dem tiefsten Elend preisgegeben, nichts kaufen können, so ist es ebenfalls für den Exporthandel, daß die russischen, italienischen und österreichischen Fabrikanten zu produzieren versuchen. Sie brauchen also Märkte, und da jene von Europa bereits besetzt sind, sind sie gezwungen, sich auf Asien und Afrika zu stürzen und müssen eines Tages unfehlbar aneinander geraten, da sie sich nicht darüber einigen können, wie sie ihre Beute teilen sollen. Alle Bündnisse zwischen Herrschern und Diplomaten sind eine bloße Komödie, wenn das wirtschaftliche Interesse der wirklichen Machthaber – der Bourgeoisien der verschiedenen Staaten – einander entgegengesetzt ist.

Wahrhaftig, ihr habt den Sozialismus nicht gewollt, und dafür werdet ihr den Krieg haben. Ihr würdet den Krieg für dreißig Jahre haben, wenn die Revolution dieser ebenso unsinnigen wie schädlichen Lage nicht ein Ende bereiten würde. Wir müssen uns klar darüber sein. Schiedsgerichte, europäisches Gleichgewicht, Abschaffung der stehenden Heere, Abrüstung – das alles sind schöne Träume, aber ohne jede praktische Tragweite. Es gibt keinen anderen Ausweg als die soziale Umwälzung; wenn dieselbe den Boden, das Werkzeug, die Maschine, das Rohmaterial und allen gesellschaftlichen Reichtum in die Hände des Arbeiters gegeben und die ganze Produktion reorganisiert hat, so daß dieselbe die Bedürfnisse jener befriedigt, die alles produzieren – dann wird sie den Kriegen, die um die Beherrschung der Weltmärkte geführt werden, ein Ende machen.

Jeder für Alle und Alle für jeden arbeitend – dies ist die einzige Vorbedingung, um den Frieden zwischen den Völkern zu sichern, den dieselben laut fordern, der aber durch diejenigen verhindert wird, die heute den gesellschaftlichen Reichtum an sich gerissen haben.

Quelle:
Peter Kropotkin - Worte eines Rebellen. rowohlt 1972. S.52-57.  Französischer Originaltitel: "La guerre". Erschienen in Original-Ausgabe unter dem Titel: Kropotkin, Petr A.: Paroles d'un révolté. (1885) Aus dem Französischen von Pierre Ramus (Rudolf Grossmann).

Originaltext: http://anarchistischebibliothek.org/library/peter-kropotkin-der-krieg


Creative Commons - Infos zu den hier veröffentlichten Texten / Diese Seite ausdrucken: Drucken



Email