Peter Kropotkin - Gesetz und Autorität

I.

Wenn Unverstand im Schoße der Gesellschaft und Unordnung in den Geistern herrscht, werden die Gesetze zahlreich. Die Menschen erwarten alles von der Gesetzgebung, und da jedes neue Gesetz eine neue Ursache der Unzufriedenheit wird, so werden sie dazu getrieben, fortwährend von der Gesetzgebung das zu verlangen, was nur aus ihnen selbst, ihrer eigenen Bildung, ihrer eigenen Moralität entspringen kann.» Es ist gewiß kein Revolutionär, nicht einmal ein Reformator, der dies sprach, sondern ein Jurist: Daloz, Verfasser der französischen Gesetzessammlung, welche unter dem Namen «Repertoire de la Legislation» bekannt ist. Und doch drücken diese Zeilen, wenn auch von einem Manne geschrieben, der selbst ein Bewunderer und Schaffer von Gesetzen, vollständig den anomalen Zustand der Gesellschaft aus.

In den heutigen Staaten werden neue Gesetze als das Heilmittel für alle Schäden betrachtet. Anstatt selbst zu verbessern, was schlecht ist, wird damit begonnen, ein Gesetz zu verlangen, um das Schlechte zu verbessern. Ist der Weg zwischen zwei Dörfern recht unfahrbar, dann sagt der Landmann: «es sollte ein Gesetz über die Landwege gemacht werden». Hat der Feldhüter, welcher die Unterwürfigkeit derjenigen ausnützt, die vor seiner Autorität Respekt haben, Jemanden beleidigt, ruft der Beleidigte: «Es müßte ein Gesetz geben, welches den Feldhütern mehr Höflichkeit vorschreibt»! Handel, Landwirtschaft liegen danieder: «Wir brauchen ein Schutzzollgesetz», ruft der Landwirt, der Viehzüchter, der Getreidespekulant und bis herab zum Lumpenhändler verlangt alles Gesetze zum Schutze seiner Interessen. Wenn der Unternehmer die Löhne herabsetzt oder die Arbeitszeit verlängert, so rufen die nach Mandaten strebenden Volksvertreter sofort: «wir müssen ein Gesetz haben, um da Ordnung zu schaffen!», anstatt den Arbeitern zu sagen, daß es ein viel wirksameres Mittel gibt, «um da Ordnung zu schaffen»; nämlich: dem Kapitalisten direkten Widerstand entgegen zu setzen und ihm die Verfügungsgewalt über den sozialen Reichtum an Produktionsmitteln zu nehmen, den der Kapitalismus durch die Ausbeutung vieler Generationen von Arbeitern widerrechtlich an sich gerissen hat. Kurz, für Alles wird ein Gesetz verlangt. Ein Gesetz über die Wege, ein Gesetz über die Moden, ein Gesetz über die tollen Hunde, ein Gesetz über die Tugend und gegen das Laster, Gesetze für alle Übel, welche bloß die Folge menschlicher Gleichgültigkeit und Feigheit sind.

Wir sind alle dermaßen verdorben durch die Erziehung, welche, von unserer Kindheit angefangen, den Geist der Selbständigkeit in uns ertötete und den Geist der Unterwürfigkeit unter die Autorität entwickelte, wir sind derart verdorben durch diese Existenz unter dem Gesetz, welches alles regelt: unsere Geburt, Erziehung, geistige Entwicklung, unsere Liebe und Freundschaft usw., daß wir, wenn das so fortgeht, alle Initiative, alle Gewohnheit, selbst zu denken und zu urteilen, vollständig verlieren werden. Die Menschen scheinen jetzt schon gar nicht mehr zu verstehen, daß man anders, als unter der Herrschaft der Gesetze leben könne, welche von einer parlamentarischen Vertretungs-Regierung ausgearbeitet und von einer Handvoll über jenen stehenden Regierungen angewandt werden. Und selbst dann, wenn sie sich vom alten Joche befreit haben, ist es ihre erste Bestrebung, sich dasselbe sofort wieder aufzuladen. Das ideale «Jahr I der Freiheit» hat noch niemals länger als einen Tag gewährt, weil man sich am Tage nach dessen Proklamation sofort wieder unter das Joch der Gesetze und Autorität begab.

In der Tat wiederholen die, die uns regieren, seit Jahrtausenden nur immer in allen Tonarten: «Respekt vor dem Gesetz, Gehorsam vor der Autorität!» Vater und Mutter erziehen ihre Kinder in diesen Gefühlen. Auch die Schule befestigt dieselben, indem sie durch einige schlau ausgewählte Brocken einer falschen Wissenschaft deren Notwendigkeit beweist; sie macht aus dem Gehorsam vor dem Gesetz einen Kultus; sie verbindet Gott und Gesetz der Herrscher zu einer einigen Gottheit. Die Heroen ihrer fabrizierten ‹Geschichte› sind jene, welche den Gesetzen gehorchen und sie gegen die Rebellen schützen. Später, wenn das Kind in das öffentliche Leben tritt, werden ihm durch die Gesellschaft und Literatur, täglich mit jedem Schritt, gleich dem fortgesetzten Fallen des Wassertropfens, der Steine höhlt, diese Vorurteile eingeprägt. Die Bücher der Geschichte, Politik und Ökonomie sind mit diesem Respekt vor dem Gesetz vollgepfropft. Selbst die Naturwissenschaft wird tributpflichtig gemacht, indem man eine, der Theologie und dem Autoritätsprinzip entnommene, falsche Sprache einführt und so auf geschickte Weise unseren Verstand verwirrt, immer zu dem Zwecke, den Respekt vor den Gesetzen in uns zu erhalten. Dasselbe geschieht durch die Zeitungen. Es gibt kaum einen Artikel, der nicht den Gehorsam vor dem Gesetz propagiert, selbst wenn jeden Tag auf der zweiten und dritten Seite die Blödsinnigkeit dieses oder jenes Gesetzes konstatiert und gezeigt wird, wie die Gesetze von Jenen in allen Gosse und Kotlachen gezerrt werden, welche die Aufgabe haben, dieselben aufrecht zu erhalten. Die Servilität vor dem Gesetz ist eine Tugend geworden, und ich zweifle sehr, ob es einen einzigen Revolutionär gibt, der in seiner Jugend nicht damit angefangen hätte, der Verteidiger der Gesetze gegen deren sogenannten «Mißbrauch» zu sein; des «Mißbrauchs», der eine unvermeidliche Folge der Gesetze selbst ist.

Die Kunst stimmt in den Chor der sogenannten Wissenschaft ein. Die Heroen der Skulptur, der Malerei und Musik decken das Gesetz mit ihrem Schilde; mit flammenden Augen, aufgeblasenen Nüstern stehen sie bereit, jeden mit ihrer Lanze zu durchbohren, der es wagt, daran zu rühren. Man baut ihm Tempel, ernennt ihm Hohepriester, an deren Heiligkeit selbst Revolutionäre nicht zu rühren wagen; und wenn die Revolution einmal alle diese Institutionen hinwegfegt, ist es wiederum mittels eines Gesetzes, daß man die Revolution zu weihen sucht.

Die wirre Masse von Verhaltungsmaßregeln, welche uns die Sklaverei, die Leibeigenschaft, Feudalismus und Königtum, an Gesetzen hinterlassen haben, und die man Gesetz nennt, ist heute an die Stelle jener steinernen Götzenbilder getreten, denen man Menschenopfer hinschlachtete und die der geknechtete Mensch aus Furcht, von den Blitzen des Himmels zerschmettert zu werden, nicht zu berühren wagte.

Besonders seit der Erhebung der Bourgeoisie zur Herrschaft, – seit der großen französischen Revolution – wurde dieser Kultus am meisten eingeführt. Unter der alten Herrschaft sprach man wenig vom Gesetz, wenn nicht mit Montesquieu, Rousseau, Voltaire, um sie den königlichen Launen entgegenzusetzen; man war, bei Strafe gehängt oder im Kerker geschleppt zu werden, gehalten, die Launen des Königs oder seiner Lakaien zu befolgen. Aber während und nach der Revolution, taten die zur Macht gelangenden Advokaten ihr Möglichstes, um dieses Prinzip (die Gesetzlichkeit) zu befestigen, welches berufen war, als Grundlage ihrer Herrschaft zu dienen. Die Bourgeoisie akzeptierte dasselbe in vollem Umfange, als einen Rettungsanker, um den Ansturm des Volkes einzudämmen. Die Pfaffen beeilten sich, dasselbe heilig zu sprechen, um ihre gebrechliche Barke zu retten, welche an den Sturmeswogen der berechtigten Volksempörung zu zerschellen droht. Das Volk schließlich akzeptierte dasselbe gleichfalls als einen Fortschritt gegenüber der Willkür und Gewaltherrschaft der Vergangenheit.

Man muß sich im Geiste in das 18. Jahrhundert zurückversetzen um all dies zu verstehen. Das Herz muß einem geblutet haben bei der Erzählung über die Grausamkeiten, welche die damals allmächtige Aristokratie und Geistlichkeit der Kirche an den Männern und Weibern des Volkes jener Zeit ausübten, um den Zauber zu verstehen, welchen die Worte: «Gleichheit vor dem Gesetz, Gehorsam vor dem Gesetz ohne Unterschied von Geburt oder Besitz», auf das Volk, den Armen auszuüben vermochten. Er, den man bis dahin brutaler behandelte als das Vieh, er, der niemals ein Recht hatte, der niemals Recht fand gegenüber den empörendsten Akten des Adels, dem höchstens übrig blieb, sich durch Tötung seiner Peiniger an diesen zu rächen, aber dafür selbst gehängt zu werden –: er sah sich nun plötzlich durch diese gesetzlichen Grundsätze, wenigstens in seinen persönlichen Rechten, und wenigstens in der Theorie, als Gleicher mit dem Adelsherr anerkannt! – Welcher Art das ‹Gesetz› auch immer sein mochte, es versprach ‹Herren› und ‹Knechte› gleichzumachen, es proklamierte die Gleichheit vor den Richtern, ob reich oder arm.

Heute wissen wir, daß dieses Versprechen eine Lüge war; aber in jener Epoche war es ein Fortschritt, ein Tribut an die Wahrheit. So kam es, daß, als die Retter der bedrohten Bourgeoisie, die Robespierre und Danton auf die philosophischen Schriften von Rousseau und Voltaire gestützt, «den Respekt vor dem Gesetz, welches für Alle gleich ist», proklamierten, das Volk, dessen revolutionäre Spannkraft, angesichts der immer mächtiger organisierten Bourgeoisie immer mehr und mehr erschlaffte, diesen Kompromiss annahm. Es beugte seinen Nacken unter das Joch des Gesetzes, um sich aus der Gewaltherrschaft des Adels und der Pfaffen zu retten.

Seitdem hat die Bourgeoisie nicht aufgehört, diese Grundsätze auszubeuten, welche mit dem Prinzip der Vertretungsregierung die ganze Philosophie des Bourgeoisjahrhunderts in sich schließen. Sie lehrt sie in der Schule, sie bildet ihre Wissenschaft und Kunst nach denselben, sie schiebt sie überall ein, wie die fromme Engländerin unter alle Türen und Fensterläden ihre Traktätchen schiebt. Und sie hat so gut gearbeitet, daß wir heute die ekelhafte Erscheinung sehen, wie selbst am Morgen des Erwachens des Widerstandsgeistes die Menschen, welche frei sein wollen, damit beginnen: daß sie ihre Herrscher bitten, sie zu beschützen, indem sie jene Gesetze ändern sollen, welche dieselben Herrscher gemacht und eingeführt haben.

Die Zeiten und Geister haben sich dennoch seit einem Jahrhundert verändert. Überall findet man Denker, welche dem Gesetz nicht mehr gehorchen wollen, wenn man sie nicht wissen läßt, woher dasselbe stammt, welches sein Nutzen ist, woher die Verpflichtung, demselben zu gehorchen und der es umgebende Respekt kommt. Die nahende gesellschaftliche Befreiung ist eben dadurch eine geistige Revolution und kein gewöhnlicher Aufruhr, weil die heutigen Rebellen die gesamten Grundlagen der bestehenden Gesellschaft, welche bis jetzt verehrt wurden, unter ihre Kritik nehmen, besonders aber den modernen Fetisch – das Gesetz.

Diese Revolutionäre im Denkgebiet der Menschheit, die Anarchisten analysieren den Ursprung des Gesetzes und finden da entweder die Vorstellung von einer bestimmten Gottheit; oder eine Ausgeburt der Furcht des Wilden, blöd, falsch, niederträchtig wie die Pfaffen, welche ihren Ursprung aus dem Übernatürlichen ableiten – oder Blut, Unterwerfung durch Feuer und Schwert. Sie studieren seinen Charakter und finden als besonderes Merkmal die Unbeweglichkeit, statt der fortwährenden Vorwärtsentwicklung der Menschen, die deren Lebensgesetz bildet. Sie fragen, wie sich das Gesetz erhielt, und sie sehen die Scheußlichkeiten des Byzantinismus und die Bestialitäten der Inquisition [1], die Torturen des Mittelalters; die durch Peitschen zerfetzte Menschenhaut, die Ketten, Feuerzangen und Henkerbeile im Dienste des Gesetzes; die finsteren unterirdischen Kerker, die Schmerzen, Tränen und Verwünschungen der Gemarterten. – Und heute? – Immer noch das Henkerbeil, der Galgen, der Hinterlader, die Gefängnisse. Auf der einen Seite: die Vertierung der Gefangenen, herabgewürdigt zum wilden Tier im Käfig, sein moralisches Ich erstickt; auf der anderen Seite: die Richter, aller Gefühle, welche dem Menschen seine humane Würde geben, entblößt, wie ein Geisterseher in einer Welt voll juristischer Hirnspinnste lebend, mit Wohlbehagen die trockene oder blutige Guillotine an wendend. Diese Justiz ahnt in ihrer gefühllosen Schändlichkeit kaum den Abgrund der Entwürdigung, in den sie gegenüber ihren verurteilten Opfern gefallen ist.

Dann sehen wir eine Rasse von Gesetzmachern, welche Gesetze macht, ohne zu wissen, worüber. Heute stimmen sie über die Reinigung einer Stadt, ohne die geringste Kenntnis von Hygiene zu besitzen, morgen über Truppenbewaffnung, ohne nur eine Flinte zu kennen; machen Gesetze über Volksunterricht und Lehrmethoden, ohne jemals imstande zu sein, ihren eigenen Kindern eine rechtschaffene Erziehung zu geben oder je irgendeinen Unterricht erteilt zu haben; machen Gesetze aller Art, vergessen jedoch nie die Strafen, welche die Armen zu zahlen haben, oder die Kerker und Arbeitshäuser für diejenigen, welche tausendmal weniger unmoralisch, nur unglücklicher sind, als sie selbst – die Gesetzmacher. Wir sehen schließlich den Gefängnisbüttel, der alle menschlichen Gefühle verloren; Gendarmen zu Bluthunden dressiert; Denunzianten und Spitzel, die sich selbst bewundern; Gemeinheit zur Tugend und die Korruption zu einem System erhoben; alle Laster, alle schlechten Seiten der menschlichen Natur begünstigt, gepflegt und belohnt. Alles für den Triumph des Gesetzes.

Wir Anarchisten sehen dies, und deshalb, anstatt kindisch-gedankenlos die alte Formel: «Respekt vor dem Gesetz» zu wiederholen, rufen wir: «Zeigt uns erst die Wahrheit, Gerechtigkeit, Vernunft und Allgüte des Gesetzes, vor dem wir Verehrung hegen sollen!» An Stelle der Losung: «Unbedingten Gehorsam vor dem Gesetz», setzen wir die Frage: «Ist diese Forderung mit der Vernunft vereinbar, wenn wir aus der Geschichte ersehen, daß die zu ihrer Zeit als die besten anerkannten Gesetze des Staates abgeschafft worden sind und heute als Unsinn, Gewalt und Ungerechtigkeit erkannt werden?»

Wir rufen die Geschichte als Zeugin und wünschen, daß jeder Bewunderer des Gesetzes die im Namen eines jeden historisch bekannten Gesetzes begangenen Schändlichkeiten sich vor Augen hält und diese mit dem angeblich Guten, das alle diese Gesetze scheinbar auszuüben vermochten, vergleicht – dann wird man sehen, ob wir Anarchisten recht oder unrecht haben.

II.

Das Gesetz ist ein verhältnismäßig modernes Produkt; denn die Menschheit bestand Jahrhunderte und Aberjahrhunderte ohne ein geschriebenes Gesetz, selbst ohne solche an den Tempeln symbolisch in Stein graviert zu haben. Die Beziehungen der Menschen untereinander waren zu jener Zeit nach Gewohnheiten und herkömmlichen Gebräuchen geregelt, welche die dauernde Wiederholung ehrbar machte und welche sich jeder in seiner Kindheit aneignete, so wie er sich seine Nahrung durch Jagd, Viehzucht oder Landbau zu verschaffen lernte.

Alle menschlichen Gesellschaften haben diese primitiven Phasen durchgemacht, und bis heute hat noch ein großer Teil der Menschheit kein geschriebenes Gesetz. Die primitiven Völkerschaften haben Sitten, herkömmliche Gebräuche – oder «herkömmliches Recht», wie die Juristen sagen –, haben gesellschaftliche Gewohnheiten und das genügt, um die guten Beziehungen zwischen den Mitgliedern des Dorfes, der Gaue oder der Gemeinde aufrecht zu erhalten. Ein Gleiches gilt bei uns Zivilisierten; es genügt, aus unseren großen Städten herauszutreten, um zu sehen, daß die gegenseitigen Beziehungen nach allgemein angenommenen Gebräuchen geregelt sind, und nicht nach den geschriebenen Gesetzen der Gesetzgeber. Der russische, italienische und spanische Landmann, selbst ein großer Teil in Frankreich und England, haben gar keine Idee von den geschriebenen Gesetzen. Dieselben drängen sich in ihr Leben nur, um ihre Beziehungen zum Staate zu regeln, während ihre Beziehungen untereinander, die oft sehr kompliziert sind, einfach nach herkömmlichen Gebräuchen geregelt werden; früher war dies eben bei, allen Menschen der Fall.

Untersucht man die herkömmlichen Gebräuche der primitiven Völker etwas genauer, so machen sich zwei sehr verschiedene Strömungen bemerkbar.

Da der Mensch nicht allein lebt, entwickeln sich in ihm Gefühle und nützliche Gewohnheiten, um die Gesellschaft zu erhalten und seine Rasse zu vermehren. Ohne diese gesellschaftlichen Gefühle, ohne solidarische Betätigung, wäre das gemeinschaftliche Zusammenleben absolut unmöglich, undenkbar. Diese Gefühle sind nicht aus den Gesetzen entstanden, sie sind älter als alle Gesetze. Es ist auch nicht die Religion, die dieselben vorschreibt; sie sind älter als alle Religionen, sie finden sich bei allen Tieren, welche in Gesellschaft leben. Sie entwickeln sich von selbst durch die Macht der Dinge, so wie die Gewohnheiten, welche die Menschen bei den Tieren ‹Instinkte› nennen; sie entspringen einer nützlichen, sogar notwendigen Fortentwicklung, um die Gesellschaft in ihrem Kampfe ums Dasein, welchen sie führen muß, zusammenzuhalten. Die Wilden hören auf, sich gegenseitig aufzufressen, weil sie es vorteilhafter finden, sich der Bearbeitung des Bodens zu widmen, anstatt sich einmal jährlich das Vergnügen zu verschaffen, einen ihrer alten Verwandten zu verspeisen. Im Schoße der Stammesverbände, welche vollständig unabhängig, weder Gesetze noch Oberhäupter kennen, und von welchen uns schon unzählige Reisende die Sitten beschrieben haben, hören die Angehörigen einer Sippe auf, sich bei jedem Streite mit Messern anzufallen, weil die Gewohnheit in Gemeinschaft zu leben, schließlich ein gewisses Gefühl der Brüderlichkeit und Solidarität entwickelt; sie wenden sich lieber an einen Dritten, um ihre Streitigkeiten zu schlichten. Die Gastfreundschaft primitiver Völker, der Respekt des Lebens eines Menschen, die Gefühle der Gegenseitigkeit, die Nachsicht für die Schwachen, die Tapferkeit bis zur Selbstaufopferung für andere, welche man vorerst für Kinder und Freunde, später für die Angehörigen einer Gemeinde oder eines Stammes auszuüben lernte – alle diese Eigenschaften entwickelten sich im Menschen lange vor den Gesetzen, unabhängig von irgendeiner formalen Religion. Diese Gefühle und Betätigungen sind die unausbleibliche Folge des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Ohne dem Menschen ‹angeboren› zu sein (wie die Priester und Metaphysiker es behaupten), sind diese Eigenschaften die Folge des Lebens in der Gemeinschaft.

Aber an der Seite dieser, für das gesellschaftliche Leben und die Erhaltung des Menschengeschlechts notwendigen Gewohnheiten und Sitten, entstehen in den Vereinigungen der Menschen auch noch andere Wünsche, andere Leidenschaften, und in der Folge andere Sitten und Gewohnheiten: der Wunsch, über andere zu herrschen, seinen Willen aufzudrängen; der Wunsch, sich der Arbeitsfrüchte benachbarter Stämme zu bemächtigen, um sich schließlich mit allen Genüssen zu umgeben, ohne selbst zu arbeiten, während die Sklaven das Notwendige erzeugen und ihren Herren alle Annehmlichkeiten und Vergnügen verschaffen. – Alle diese persönlichen, selbstsüchtigen Wünsche erzeugen eine andere Strömung von Gebräuchen und Gewohnheiten. Einerseits sind es die Priester, welche, nachdem sie sich selbst von der Teufelsfurcht befreit, den Aberglauben anderer ausbeuten und diese Furcht zu verbreiten suchen; und andererseits die Krieger, welche großprahlerisch ihre Stammes- oder Gemeindegenossen zum Überfall und zur Plünderung friedlicher oder schwächerer Nachbarn aneifern, um mit Beute beladen und von Sklaven gefolgt zurückzukehren. – Diese beiden vermochten Hand in Hand den primitiven Gesellschaften Sitten und Gewohnheiten aufzudrängen, welche ihnen von Vorteil waren, und welche die Tendenz haben, deren Herrschaft über die Massen zu verewigen. Die Gleichgültigkeit, Furcht und Vertrauensduselei der Menge ausnützend, und dank einer fortgesetzten Wiederholung derselben Handlungen gelang es ihnen schließlich diese Gebräuche und Sitten, welche die beste Stütze ihrer Herrschaft bildeten, dauernd zu begründen.

Zu diesem Zwecke beuteten sie vorerst den Hang zum gewohnheitsmäßigen Handeln aus, welcher so stark beim Menschen entwickelt ist und bei Kindern, bei wilden Völkern und Tieren, einen so auffälligen Grad erreicht. Der Mensch, besonders wenn er abergläubisch ist, hat immer Furcht, etwas Bestehendes zu verändern und verehrt allgemein, was alt ist. – «Unsere Väter haben es so gemacht und sind damit ausgekommen, wir haben euch ebenfalls so erzogen und waren nicht unglücklich dabei: tut ein Gleiches!» sagen die Alten zu den jungen Leuten, falls diese etwas verändern wollen. Das Unbekannte setzt sie in Schrecken; sie ziehen vor, sich an die Vergangenheit zu klammern, wenn auch diese Vergangenheit Elend, Unterdrückung und Knechtschaft war. Man kann sogar sagen: Je unglücklicher der Mensch ist, desto größer ist seine Furcht vor einer Änderung, befürchtend, er könnte noch unglücklicher werden. Ein Hoffnungsstrahl, eine Spanne Wohlsein müssen seine Hütte erwärmen, damit er anfängt, es besser haben zu wollen, seine alten Lebensgewohnheiten zu kritisieren und dieselben zu verändern. Solange dieser Hoffnungsstrahl bei ihm nicht eingedrungen, solange er nicht von der Vormundschaft jener frei ist, welche seinen Aberglauben und seine Furcht vor dem Neuen ausnützen, solange zieht er vor, in seiner alten Lage zu bleiben. Wollen die Jungen etwas ändern, stoßen die Alten einen Lärmruf auf. Mancher Wilder ließe sich eher töten, bevor er die herkömmlichen Gebräuche seines Stammes übertreten würde; denn von frühester Jugend wurde ihm erzählt, daß die geringste Verletzung der bestehenden Gebräuche Unglück für ihn und Untergang des ganzen Stammes zur Folge haben würde. Und sogar heute noch – wie viele Politiker, Ökonomen und sogenannte Revolutionäre handeln nicht unter den gleichen Einflüssen, indem sie sich krampfhaft an eine verschwindende Vergangenheit klammem? – Bei wie vielen besteht ihre größte Sorge nicht in der Suche nach schon Dagewesenem! Wie viele wütende Revolutionäre sind nichts anderes als ganz gewöhnliche Nachäffer vergangener Revolutionen!

Dieser Hang zum Gewohnten, welcher seine Quelle im Aberglauben, in der Nachlässigkeit und Feigheit hat, bildete zu allen Zeiten die Macht der Unterdrücker; in der primitiven menschlichen Gesellschaft wurde derselbe schlauerweise von den Priestern und Kriegshäuptlingen ausgebeutet, um jene Sitten und Gebräuche zu verewigen, die sie den Volksstämmen aufzwingen konnten und welche bloß für sie allein von Nutzen waren.

Solange dieser geschickt ausgenützte Geist des Konservativismus genügte, um die Übergriffe des Häuptlings auf Kosten der Freiheit der übrigen Menschen zu sichern; solange die Ungleichheiten zwischen den Menschen bestanden, und diese noch nicht durch Macht und Reichtumskonzentration verzehn- und verhundertfacht waren – solange bedurfte es noch nicht der Gesetze und der gewaltigen Gerichtsapparate und der sich fort und fort vermehrenden Strafen, um denselben Geltung zu verschaffen.

Aber sobald sich die Gesellschaft mehr und mehr in zwei feindliche Klassen zu spalten begann, – eine, die ihre Herrschaft über die andere festzusetzen, die andere, die sich derselben zu entziehen sucht –, begann der Kampf. Der Sieger von heute beeilt sich, die vollbrachte Tatsache unwandelbar zu gestalten, er bestrebt sich, dieselbe durch alles, was den Besiegten Ehrfurcht einflößen kann, unbestreitbar, ehrbar, heilig zu machen. Das Gesetz tritt auf, gesegnet von den Pfaffen; die Waffen der Krieger in seinem Dienste. Es trachtet alle, der herrschenden Minorität vorteilhaften Gebräuche zu verewigen; und die militärische Autorität übernimmt es, dem Gesetze Gehorsam zu verschaffen. Der Krieger findet in dieser neuen Funktion gleichzeitig ein neues Mittel, seine Macht zu beseitigen; denn er stützt sich nun nicht mehr allein auf die rohe Gewalt; er ist ja der Beschützer des Gesetzes geworden! Allein, würde das Gesetz eine Sammlung von nur dem herrschenden Teile vorteilhaften Sitten- und Gewohnheiten sein, so würde dasselbe von der Menge schwerlich anerkannt und befolgt werden; darum haben die Gesetzmacher schlauerweise beide oben erwähnten Strömungen vermischt: Die Maximen der Moral und Solidaritäts-Grundsätze, welche sich aus dem gemeinsamen Zusammenleben entwickelt haben; und die Vorschriften zur Verewigung der Ungleichheit. In den Gesetzbüchern sind die für das gesellschaftliche Zusammenleben absolut notwendigen Gebräuche geschickt mit den von der herrschenden Klasse aufgezwungenen Gebräuchen vermischt; und für beide wird von der Masse dergleiche Respekt verlangt. Da heißt es im Gesetzbuch: «Du sollst nicht töten» – man beeilt sich aber hinzuzufügen: «Zahle dem Priester die ihm gebührenden Abgaben!» «Du sollst nicht stehlen!» heißt es weiter, daneben steht aber: daß der, wer dem Staat die Steuern zu zahlen verweigert, gerädert, gehängt, geköpft, gepfändet usw. wird.

Das ist das Gesetz; und diesen Doppelcharakter hat es bis zum heutigen Tage bewahrt. Sein Ursprung war der Wunsch der Herrscher, die ihnen vorteilhaften, durch sie selbst dem Volke aufgezwungenen Sitten zu verewigen. Sein Charakter ist die schlaue Vermischung von, der Gesellschaft nützlichen Gebräuchen – welche kein Gesetz zu sein brauchen, um respektiert zu werden – mit anderen Gebräuchen, welche nur den Beherrschern von Nutzen, der Masse jedoch verderblich sind, und nur durch die Furcht vor der Gewalt aufrecht erhalten werden.

Ebensowenig wie das kapitalistische Privateigentum, welches durch Betrug und Gewalt entstanden ist und sich unter dem Schutze der Autorität entwickelte, hat das abstrakte Gesetz einen Anspruch auf den Respekt der Menschen. Entsprungen aus Gewalt und Aberglauben, eingeführt im Interesse der Priester, Eroberer und reichen Ausbeuter, muß es am Tage, wo das Volk entschlossen ist, seine Ketten zu brechen, gänzlich abgeschafft werden.

Wir werden uns im nächsten Kapitel, bei der Untersuchung der weiteren Entwicklung des Gesetzes unter den Einflüssen der Religion, der Autorität und des herrschenden parlamentarischen Regimes, noch mehr davon überzeugen.

III.

Wir haben oft gesehen, wie das Gesetz aus bestehenden Sitten und Gebräuchen entsprang, und wie dasselbe von allem Anfang an eine geschickte Mischung war aus geselligen Sitten, welche zur Erhaltung der Menschheit notwendig sind, mit anderen Gebräuchen, welche von jenen auf gezwungen wurden, die den Aberglauben des Volkes und das Recht des Stärkeren in ihrem eigenen Vorteil ausnützten. Dieser Doppelcharakter des Gesetzes entschied auch dessen weitere Entwicklung bei den immer mehr verpolizeilichten Völkern. Während sich aber der im Gesetze enthaltene Kern gesellschaftlich nützlicher Gebräuche im Laufe von Jahrhunderten nur sehr wenig und sehr langsam veränderte, entwickelte sich der andere Teil des Gesetzes – zum Vorteil der herrschenden und zum Verderben der beherrschten Klasse – mit Riesenschritten. Nur mit schwerer Mühe ließen sich die herrschenden Klassen von Zeit zu Zeit ein Gesetz entreißen, welches für die Enterbten einen gewissen Schutz darstellt, oder auch nur darzustellen scheint. Aber ein solches Gesetz schafft nur ein zum Vorteil der Unterdrückerklasse schon früher gemachtes Gesetz ab. – «Die besten Gesetze», sagt Buckle, «waren jene, welche die vorhergehenden abschafften.» Allein, welcher furchtbaren Anstrengungen hat es bedurft, welche Ströme Blut mußten nicht vergossen werden, sobald es sich um die Abschaffung von Einrichtungen handelte, welche das Volk in Fesseln hielten. Um die letzten Reste der Feudalherrschaft und Leibeigenschaft zu beseitigen, um die Macht der königlichen Kamarilla zu brechen, brauchte Frankreich vier Jahre Revolution und zwanzig Jahre Krieg. Um eines der geringsten der scheußlichen Gesetze, welche uns die Vergangenheit überliefert hat, zu beseitigen, bedurfte es jahrzehntelanger Kämpfe; und größtenteils verschwanden dieselben erst während revolutionärer Perioden.

Unzählige Male haben die Sozialisten die Abstammungsgeschichte des Kapitals nachgewiesen. Sie haben gezeigt, wie dasselbe aus Krieg und Beute, aus Sklaverei und Leibeigenschaft, dem Betrug und der modernen Ausbeutung entsprang. Sie wiesen nach, wie dasselbe durch Arbeiterblut genährt, nach und nach die ganze Welt eroberte. Ein Gleiches haben sie noch über den Ursprung und die Entwicklung des Gesetzes zu tun. Der Geist des Volkes, der auch hier, wie immer, den Stubengelehrten vorauseilt, beginnt bereits die Philosophie seiner Geschichte auszuarbeiten und deren Hauptstufen aufzubauen.

Um die Früchte jenes historischen Gewaltprozesses, den sogar das Gesetz gewöhnlich Plünderung oder Wucher nennt, um die Ausbeutung sicherzustellen, hat das Gesetz dieselben Entwicklungsstufen durchlaufen wie das Kapital. Als Zwillingsgeschwister gingen sie Hand in Hand, sich von dem Leiden und Elend der Menschheit ernährend. Ihre Geschichte ist fast in allen Ländern Europas die gleiche. Nur die Einzelheiten sind verschieden, in der Hauptsache sind sie sich gleich. Man werfe nur einen Blick auf die Entwicklungsgeschichte der Gesetze in Deutschland oder Frankreich und man kennt die wesentlichsten Entwicklungsphasen der Gesetze aller Nationen Europas.

In seiner Entstehung war das Gesetz nur ein nationaler Pakt oder Vertrag. Die Legionen und das Volk gaben dem Vertrag ihre Zustimmung auf dem Marsfelde. Die Maiwiesen der alten Schweizergemeinden sind heute noch, trotz aller Veränderungen, welche dieselben durch die Einmischung der zentralisierenden Bourgeoiszivilisation erlitten haben, Erinnerungen jener Epoche. Allerdings war dieser Vertrag auch nicht immer freiwillig angenommen; die Reichen und Mächtigen zwangen dem Volke schon zu jener Zeit ihren Willen auf, aber zum wenigsten begegneten sie bei ihren gewaltsamen Übergriffen einem Hindernis in den Volksmassen, welche ihnen auch oft genug ihre Kraft fühlen ließen.

In demselben Maße als es einerseits der Kirche, andererseits dem Feudalherrn gelang, das Volk zu verknechten, entschwand auch das Recht der Gesetzgebung aus den Händen des Volkes, um auf die privilegierten Stände überzugehen. Die Kirche erweiterte ihre Macht; von ihren angesammelten Reichtümern unterstützt, mischte sie sich mehr und mehr in das Privatleben, um unter der Vorspiegelung der Seelenrettung sich der Arbeitsfrüchte der Leibeigenen zu bemächtigen, sie erhob Steuern von allen Klassen; erweiterte ihre Gerichtsbarkeit; vermehrte die Delikte und Strafen und bereicherte sich so, da alle Strafgelder in ihre Kassen flössen, im gleichen Verhältnis als die begangenen Vergehen Zunahmen. Die Gesetze nahmen keine Rücksicht mehr auf die nationalen Interessen; «man möchte dieselben eher einem Konzil religiöser Fanatiker, als von Gesetzgebern entstammend halten», wie ein bekannter Geschichtsschreiber des französischen Rechtes schrieb. [2]

Gleichzeitig, wie seinerseits der Feudalherr seine Macht über die Landarbeiter und Handwerker der Städte ausgedehnt, wird er Richter und Gesetzgeber zugleich. Wenn es aus dem zehnten Jahrhundert noch Spuren öffentlicher Rechte gibt, so bestehen dieselben in Verpflichtungen, Arbeitsleistungen und Abgaben der Leibeigenen und Hörigen an ihre Herren. Die Gesetzgeber jener Zeit waren eine Handvoll Räuber, die sich vermehrten und organisierten, um ein Volk zu berauben, das um so friedlicher gesinnt war, je mehr es sich dem Landbau widmete. Sie beuteten die im Volke lebenden Rechtsgefühle zu ihrem Vorteile aus, warfen sich zum Rechtsvollzieher auf, machten sich selbst aus den Grundsätzen der Gerechtigkeit eine Einnahmequelle und formulierten die Gesetze so, um ihre Herrschaft aufrecht zu erhalten.

Später dienten diese Gesetze, von Rechtsgelehrten gesammelt und klassifiziert, als Grundlage unserer modernen Gesetzbücher. Und da spricht man noch davon, diese Gesetze – das Erbe der Priester und Junker – seien geheiligten Ursprungs und müssen deshalb respektiert werden!

Der ersten Revolution – der Revolution der Kommunen – gelang es nur zum Teil, diese Gesetze abzuschaffen; denn die Charter (Freibriefe und Gerechtsame) der Kommunen sind zum größten Teil nur Kompromisse zwischen der feudalherrlichen oder bischöflichen Gesetzgebung und den neuen Beziehungen, welche sich im Schoße der freien Gemeinde gebildet hatten. Und doch, welcher Unterschied zwischen diesen und den heutigen Gesetzen!

Die Kommune erlaubte sich nicht, die Bürger aus politischen Staatsgründen einzusperren oder hinzurichten; sie begnügte sich damit, diejenigen auszuweisen und deren Häuser niederzureißen, welche mit den Feinden der Kommune konspirierten. Bei dem größten Teile der sogenannten «Delikte und Verbrechen» begnügte sie sich mit Geldstrafen. Man fand sogar in den Kommunen des zwölften Jahrhunderts den so gerechten, aber heute vergessenen Grundsatz, daß die ganze Gemeinde die Verantwortung einer Missetat eines ihrer Mitglieder übernahm. Die damalige Gesellschaft betrachtete ein ‹Verbrechen› vielmehr als ein Unglück oder einen Unfall – was heute noch die Meinung des russischen Bauern ist – und ließ den Grundsatz der, von dem alten Testament in der Bibel gepredigten, persönlichen Rache nicht gelten; daher begriff sie, daß die Schuld für jede Missetat auf die Gesellschaft selbst zurückfällt.

Es bedurfte des ganzen Einflusses der byzantinischen Kirche, welche die raffinierte Grausamkeit orientalischer Despoten in den Abendländern einführten, um in die Sitten der Gallier und Germanen die Todesstrafe, sowie die schrecklichen Strafen, welche später für die sogenannten Verbrechen angewandt wurden, einzuführen; ebenso bedurfte es des ganzen Einflusses des römischen Zivilrechtes – ein Fäulnisprodukt des römischen Kaiserreichs – um die Begriffe des unbegrenzten monopolisierten Grund- und Bodeneigentums einzuführen, welche die kommunistischen Gewohnheiten und Einrichtungen der primitiven Völker; gewaltsam verdrängten.

Bekanntlich konnten sich die freien Kommunen nicht halten, sie wurden Opfer des Königtums. Im gleichen Grade als das Königtum an neuer Kraft gewann, fiel das Recht der Gesetzgebung in die Hände einer Koterie von Höflingen. Ein Appell an die Nation wird nur noch gemacht, um die vom König geforderten Steuern gutzuheißen. Parlamente, je nach der Laune des Hofes alle zwei Jahrhunderte einmal einberufen, außerordentliche Rats- und Adelsversammlungen, wo die Klagen der ‹Untertanen› von den Ministern kaum angehört wurden – das war die Gesetzgebung der damaligen Zeit. Und noch später, als alle Macht sich in einer einzelnen Person konzentrierte, welche sagen konnte: «Der Staat bin ich!», wurden in den «geheimen Räten» der Fürsten, je nach der Phantasie eines Ministers oder der Laune eines blödsinnigen Königs, die Edikte fabriziert, welche von den ‹Untertanen› unter Todesstrafe befolgt werden mußten. Jeder gerichtliche Schutz ist vernichtet. Die Nation ist dem König und einer Handvoll Höflinge leibeigen; die furchtbarsten Strafen wie: Rad, Scheiterhaufen, Vierteilen, Torturen aller Art – die Produkte kranker Mönchsphantasien und Tollhäusler, welche sich an den Schmerzen anderer weiden – das waren die in jener Epoche zu Tage tretenden ‹Fortschritte›.

Der großen französischen Revolution gebührt die Ehre, die Zerstörung dieses ungeheuerlichen Gesetzgerüstes begonnen zu haben, welches uns vom Feudalsystem und dem absoluten Königtum hinterlassen wurde. Allein, nachdem die Revolution einige Teile des alten Baues abgerissen, übergab sie der Bourgeoisie die Macht der Gesetzgebung, welche ihrerseits sofort wieder einen neuen Bau von Gesetzen zu errichten begann, um ihre Herrschaft über die Masse zu befestigen und zu verewigen. Sie macht in ihren Parlamenten ins Unabsehbare Gesetze auf Gesetze und die Papierwische sammeln sich mit erschreckender Schnelligkeit zu ganzen Bergen. Aber was sind im Grunde alle diese Gesetze?

Der größte Teil davon hat nur den einen Zweck: das monopolisierte Privateigentum, d.h. die aus der Ausbeutung der Menschen durch die Menschen entstandenen und von Einzelnen an sich gerissenen Reichtümer zu beschützen; dem Kapital neue Ausbeutungsgebiete zu eröffnen; die neuen Formen zu befestigen, welche die Ausbeutung fortwährend annimmt, in dem Maße, wie sich das Kapital der neuen Zweige des sozialen Lebens bemächtigt, der Eisenbahnen, Telegraphen, des elektrischen Lichtes, der chemischen Industrie, des Gedankenaustausches durch die Literatur und Wissenschaft usw. Der Rest der Gesetze hat im Grunde genommen den gleichen Zweck, d.h. die Erhaltung der Regierungsmaschine, welche dem Kapital die Ausbeutung und Aneignung der produzierten Reichtümer ermöglicht: Gerichte, Polizei, Militarismus, öffentlicher Unterricht, Finanzen, alles steht im Dienste derselben Gottheit: des Kapitals! Alles hat nur den einen Zweck: die Ausbeutung des Arbeiters durch den Kapitalisten zu schützen und zu erleichtern. Man analysiere alle seit beinahe hundert Jahren gemachten Gesetze und man wird nichts anderes finden. Der Schutz der Personen, welchen man nun als den wahren Zweck der Gesetze darzustellen sucht, nimmt einen kaum sichtbaren Raum in den Gesetzsammlungen ein; denn die aus Brutalität oder Leidenschaft gemachten Angriffe auf die Personen verschwinden in der bestehenden Gesellschaft immer mehr und mehr. Wenn heute jemand getötet wird, geschieht es, um ihn zu plündern, selten aus persönlicher Rache und wenn sich diese Sorte Verbrecher immer mehr verringert, so haben wir dies keineswegs der Gesetzgebung zu verdanken. Es ist dies die Folge der menschlichen Entwicklung unserer Gesellschaft, der mehr und mehr gesellschaftlichen Gewohnheiten und nicht der gesetzlichen Verbote. Man beseitige morgen alle zum Schutze der Personen gemachten Gesetze, man hebe morgen jede Verfolgung wegen Verbrechen an der Person auf und die Zahl der aus Rache oder Brutalität ausgeführten Attentate auf Personen, wird sich nicht um einen einzigen Fall vermehren.

Vielleicht will man uns nun einwenden, daß doch seit fünfzig Jahren eine gute Anzahl freiheitlicher Gesetze gemacht wurden. Allein, man analysiere dieselben und man wird finden, daß alle diese freiheitlichen Gesetze nichts weiter sind, als Aufhebung alter Gesetze, welche uns die Barbarei vergangener Jahrhunderte hinterlassen. Alle liberalen Gesetze, alle Programme der radikalen Politiker, lassen sich in die Worte zusammenfassen: Beseitigung der Gesetze, welche der Bourgeoisie selbst hinderlich geworden und Rückkehr zu den Freiheiten der Kommunen des 12. Jahrhunderts, auf alle Bürger ausgedehnt. Die Abschaffung der Todesstrafe, Schwurgerichte für alle ‹Verbrechen› (im 12. Jahrhundert bestanden dieselben bereits viel liberaler als heute), gewählte Richter, das Recht, öffentliche Funktionäre in den Anklagestand zu versetzen, Abschaffung der stehenden Heere, Versammlungs- und Redefreiheit, freier Unterricht etc., alles was man als Erfindungen des modernen Liberalismus und der Demokratie ausgibt, ist nichts anderes, als eine Rückkehr zu den Freiheiten, welche bereits bestanden, bevor Kirche und Könige die Menschheit mit ihren Krallen umklammerten.

Schutz der Ausbeutung – durch die Monopoleigentumsgesetze und Erhaltung des Staates –, darin bestehen Materie und Geist unserer heutigen Gesetzbücher und die Hauptsorge unserer kostspieligen Gesetzgebungsmaschinen. Es ist höchste Zeit, uns darüber nicht mehr mit Phrasen zu täuschen, sondern uns klar zu werden, was Gesetze eigentlich sind. Das Gesetz, welches sich bei seiner Einführung als eine Sammlung gesellschaftlich nützlicher Sitten und Gebräuche darstellte, ist nichts anderes mehr als ein juridisches Instrument, um die Herrschaft des Reichtums über die arbeitende Masse aufrecht zu erhalten. Seine zivilisatorische Mission ist heute so gut wie gar nicht vorhanden. Es hat nur eine Mission: die Aufrechterhaltung der Privilegien der Machthaber über das Volk.

Das ist es, was uns die Entwicklungsgeschichte der Gesetze lehrt. Und da fordert man Achtung vor dem Gesetz und zwingt uns dazu! Aber diese Achtung vor dem Gesetz ist dieselbe, die wir vor dem Kapitalismus besitzen, der Wirtschaftsform der Gewalt, Übervorteilung und Versklavung der Besitzlosen, der arbeitenden Massen des Volkes. Dessen sind wir gewiß, daß die Befreiung der Menschheit in ihrer helleren und schöneren Zukunft nur darin bestehen kann, sich vor allen Dingen von sämtlichen existierenden Kodexgesetzen, gleichwie sämtlichen Monopolprivilegien des Eigentums zu befreien, sie in den sie verzehrenden Flammen der geschichtlichen Erfahrung aufgehen zu lassen.

IV.

Die Millionen Gesetze, welche die Menschheit beherrschen, lassen sich bei genauerer Analyse in drei Hauptkategorien einteilen: Schutz des Eigentums, Schutz der Regierungen und Schutz der Personen. Und wenn man diese drei Kategorien genau untersucht, kommt man in Betreff einer jeden von ihnen zur logischen und somit notwendigen Schlußfolgerung: alle Gesetze erweisen nur ihre Nutzlosigkeit und Schädlichkeit gegenüber ihren vorgeblichen Zwecken!

Revolutionäre Sozialisten und Anarchisten wissen Bescheid darüber, was das Gesetz unter «Schutz des Eigentums» versteht. Die Eigentumsgesetze sind nicht dazu gemacht, um den einzelnen Menschen oder der Gesellschaft den Genuß der Früchte ihrer Arbeit, also ihr wirkliches Eigentum, zu sichern. Sie sind im Gegenteil derart gemacht, den Arbeiter zu zwingen, den größten Teil seines Arbeitsertrages dem Kapitalisten und Staat abzutreten, somit diesen Gesellschaftsminoritäten, die dem Arbeiter oder der ganzen Gesellschaft gewaltsam entrissenen Arbeitsfrüchte zu sichern. Erteilt das Gesetz z.B. einem Herrn So und So das Eigentumsrecht auf ein Haus, so erteilt es ihm dieses Recht nicht etwa auf eine Hütte, die er sich selbst gebaut, auch nicht auf ein Haus, welches er mit Hilfe einer Anzahl Freunde baute – niemand, kein Sozialist oder Anarchist, wollte ihm in diesem Falle das Eigentumsrecht streitig machen –, sondern das Gesetz erteilt ihm im Gegenteil dieses Recht auf ein Haus, welches nicht das Produkt seiner und seiner Freunde Arbeit ist; einerseits, weil er das Haus von anderen bauen ließ, denen er nicht den vollen Ertrag ihrer Arbeit bezahlte oder anderseits, weil dieses Haus einen sozialen Wert repräsentiert, welchen er gar nicht selbst hervorzubringen vermochte. Das Gesetz erteilt ihm Rechte auf persönlichen Besitz über gesellschaftliche Güter, die allen zum freien Benützungsgebrauch gehören sollten, aber Keinem im Besonderen gehören dürften, da er dadurch alle anderen vom freien Benützungsgebrauch ausschließen kann. Dasselbe Haus hat in der Mitte Sibiriens nicht den gleichen Wert wie in einer großen Stadt; und sein Wert stammt – wie bekannt – aus der Arbeit von ungefähr fünfzig Generationen, welche die Stadt gebaut, verschönert, mit Wasser und Gas versehen, schöne Promenaden, Universitäten, Theater, Magazine, nach allen Richtungen ausstrahlende Eisenbahnen, Straßen mit Kanalisierung etc. gebaut haben. Mit der Zuerkennung des Eigentumsrechtes auf ein Haus in London, Paris oder Wien an einen Herrn So und So, eignet ihm das Gesetz – ungerechterweise – einen Teil der Arbeitsfrucht der gesamten Menschheit zu und gerade deshalb, weil diese Aneignung eine so schreiende Ungerechtigkeit ist (und alle anderen kapitalistischen Eigentumsformen haben denselben Charakter), bedurfte es eines ganzen Arsenals von Gesetzen, ganzen Armeen von Soldaten, Polizisten und Richtern, um sie gegen die gesunden Gerechtigkeitsgefühle der Menschheit aufrecht zu erhalten.

Nun, die Hälfte unserer Gesetze – die bürgerlichen Gesetzbücher aller. Länder – haben keinen anderen Zweck, als diese Aneignung, dieses Monopol, welches der Gegensatz von wahrem Eigentum ist, zum Vorteile Einzelner, gegen die gesamte übrige Menschheit aufrecht zu erhalten. Dreiviertel aller Gerichtsprozesse sind nichts als Streit der Monopolisten untereinander: ein Streit um die Beute, um das der Gesamtheit entrissene Gut. Und ein großer Teil unserer Strafgesetze hat auch nur den gleichen Zweck. Sie dienen dazu, den Arbeiter in Abhängigkeit von seinem Herrn zu erhalten, um dem Letzteren die Ausbeutung des Ersteren zu ermöglichen.

Um dem Produzenten die Frucht seiner Arbeit zu schützen, dafür gibt es gar kein Gesetz. Das ist so einfach und natürlich, so fest in den Sitten und Gewohnheiten der Menschen enthalten, daß das Gesetz gar nicht daran gedacht hat! Die offene Räuberei mit bewaffneter Faust ist in unserem Jahrhundert außer Mode gekommen; sie gilt nur mehr im Kriege. Eben so wenig nimmt ein Arbeiter dem anderen die Frucht seiner Arbeit weg. Streitigkeiten werden in der Regel geschlichtet, ohne das Gesetz in Anspruch zu nehmen, indem sie sich an einen Dritten wenden; wenn jemand einen Teil der Arbeitsfrucht eines anderen beansprucht, so ist es nur der ‹Eigentümer›, der dank dem von der Staatsgewalt geschützten Gesetz einen Löwenanteil gesetzlich einstreifen kann. Die Menschheit in ihrer Gesamtheit respektiert aber überall das Recht auf die Frucht der Arbeit eines jeden einzelnen, ohne daß hiefür spezielle Gesetze gebraucht würden.

Alle jene juristischen, weil nicht natürlichen Eigentumsgesetze, welche zur Freude der Advokaten dicke Folianten füllen, haben also keinen anderen Zweck, als den Schutz für die ungerechte Aneignung der Arbeitsprodukte der gesamten Menschheit durch einige Monopolisten zu bewirken; somit haben sie keine Existenzberechtigung; und die Anarchisten sind fest entschlossen, darin besteht das Ziel des Anarchismus, eine Gesellschaft freier Menschen zu errichten, in der es keinerlei juridische Eigentums- in Wirklichkeit: Monopolschutz-Gesetze geben soll. Tatsächlich ersehen wir in allen Gesetzen, welche Bezug auf das kapitalistische Eigentumsrecht haben, in allen Rechtstiteln, allen Archiven, kurz in allem, was mit diesem zusammenhängt, keine Gerechtigkeit, sondern nur eine Ungerechtigkeit, die in der Geschichte der Menschheit bald genug, gleich der Sklaverei und Leibeigenschaft, nur noch als Schandflecken betrachtet werden wird.

Dasselbe, was wir in Bezug auf die juridischen Eigentumsgesetze gesagt, trifft in allem auch auf die zweite Kategorie: die Gesetze zum Schutze der Regierungen oder sogenannten konstitutionellen Gesetze zu.

Auch hier ist es wieder ein ganzes Arsenal von Gesetzen, Dekreten, Ordonnanzen, Erlässen usw., welche zum Schutze der verschiedenen Formen der repräsentativen Regierung – einerlei, ob dieselbe auf Vertretung oder Anmaßung der Herrschenden beruht – dienen und welche noch die menschliche Gesellschaft bedrücken. Wir wissen ganz gut – die Anarchisten haben es bei ihrer unablässigen Kritik aller Regierungsformen oft nachgewiesen –, daß es die Aufgabe jeder Regierung (ob absolutistisch, konstitutionell oder republikanisch) ist, die Privilegien der besitzenden Klasse, von Pfaff, Adel und Bourgeoisie mit Gewalt zu verteidigen. Ein gutes Drittel unserer Gesetze: die Staatsgrundgesetze, die Gesetze über Steuern und Abgaben, Organisation der Ministerien und deren ‹Verantwortlichkeit›, über Armee, Kirche, Polizei etc. – davon gibt es einige Zehntausende in jedem Lande – haben keine anderen Zwecke, als die Regierungsmaschine zu erhalten, aufzuputzen und zu erweitern, was der herrschenden, besitzenden Klasse wiederum dazu dient, sie in ihren Machtvorrechten zu beschützen. Man analysiere diese Gesetze, beobachte deren Anwendung von Tag zu Tag und man wird die Wahrnehmung machen, daß auch nicht ein einziges einen anderen Zweck verfolgen kann.

Kurz, auch in Bezug auf diese Gesetze kann kein Zweifel existieren. Nicht nur die Anarchisten, sondern ebenso die mehr oder weniger demokratisch gesinnte Bourgeoisie ist sich darüber einig, daß der einzige Gebrauch, den man von allen, die Regierungsorganisation betreffenden Gesetzen machen kann, nur der ist: als Mittel zur Wahrung der bestehenden Gesellschaft in ihrer Ungerechtigkeit zu dienen. Daß aber solche Mittel in einer gerechten anarchistisch-kommunistischen Gesellschaft keinen Raum finden können, ist klar.

So verbleibt also nur noch die dritte Kategorie der Gesetze, welche die wichtigste ist, weil sich an dieselbe die meisten Vorurteile knüpfen: jene Gesetze, die den Schutz der Personen, die Bestrafung und Verhütung der ‹Verbrechen› verbürgen sollen. Tatsächlich ist diese Kategorie die wichtigste von allen; denn, wenn sich die Gesetze überhaupt einer gewissen Anerkennung und Achtung erfreuen, geschieht dies darum, weil man diese Art Gesetze als absolut unentbehrlich hält für die Sicherheit der Individuen in der Gesellschaft. Es sind dies jene Gesetze, welche sich aus den, der Gesellschaft nützlichen Gewohnheiten und Gebräuchen entwickelt haben und welche von den Herrschenden zur Sanktionierung ihrer Herrschaft ausgebeutet wurden. Die Autorität der Stammeshäuptlinge, des Königs, der reichen Familien in einer Gemeinde stützt sich auf ihre Tätigkeit als Richter, welche sie ausübten; und auch jetzt noch, so oft man von der Notwendigkeit einer Regierung spricht, ist es ihre Tätigkeit als höchste richterliche Macht über Recht und Unrecht, welche darunter verstanden wird. – «Die Menschen würden sich ohne Regierung gegenseitig totschlagen», kannegießert der Spießbürger. «Das Endziel jeder Regierung ist, jedem Angeklagten zwölf ehrliche Geschworene zu geben», sagt Burke.

Allein, trotz aller Vorurteile, welche über diese Dinge herrschen, wird es für uns Anarchisten höchste Zeit, frei und offen zu erklären, daß auch diese Sorte von Gesetzen ebenso unnütz und verderblich ist, wie die vorhergehende!

Was vor allen Dingen all die obenerwähnten ‹Verbrechen› die Attentate gegen Personen betrifft, so ist allgemein bekannt, daß zwei Drittel und oft drei Viertel aller Verbrechen aus der Absicht entspringen: sich der Reichtümer eines anderen zu bemächtigen. Diese ungeheure Kategorie von Verbrechen und Delikten verschwindet, sobald der Kapitalismus mit seinem monopolistischen Privateigentum zu existieren aufgehört hat.

«Aber», wird man uns sagen, «es wird immer rohe Menschen geben, welche bei dem geringsten Streit mit dem Messer dreinstechen, welche die geringste, oft nur vermeintliche Beleidigung mit einem Morde rächen; was sollte man tun, wenn es keine Gesetze gäbe, dies zu verhüten oder zu bestrafen?» Dies ist der ewige Refrain, welchen man uns vorsingt, sobald wir der Gesellschaft das Recht auf Bestrafung entziehen wollen.

Doch Eines ist darüber heute schon ganz unzweifelhaft festgestellt, nämlich: daß die Strenge der Strafen die Zahl der ‹Verbrechern› nicht verringert. Hängt oder meinetwegen rädert die Mörder, die Zahl der Morde wird sich nicht um einen einzigen verringern und umgekehrt. Schafft die Todesstrafe ab, und es gibt nicht einen Mörder mehr als zuvor! Statistiker wie Gesetzgeber wissen, daß die verringerte Strenge in den Gesetzbüchern niemals die Attentate auf das Leben der Bürger vermehrte. Ist andererseits die Ernte gut, das Brot billig, das Wetter schön, sinkt sofort die Zahl der Morde. Die Statistik hat bewiesen, daß die Zahl der ‹Verbrechen› je nach den Lebensmittelpreisen und je nach dem das Wetter gut oder schlecht ist, steigt oder fällt! Nicht, als ob alle Morde vom Hunger inspiriert wären; durchaus nicht! Sondern weil, wenn die Lebensmittelpreise niedrig, das Wetter schön, die Menschen fröhlicher sind, sie sich weniger elend fühlen als gewöhnlich, sich weniger den düsteren Leidenschaften hingeben und daher auch weniger geneigt sind, nichtiger Dinge wegen ihresgleichen ein Messer in den Leib zu stoßen.

Ferner ist auch bekannt, daß die Furcht vor der Strafe noch keinen einzigen Mörder zurückgehalten hat. Derjenige, der seinen Nebenmenschen aus Rache oder Elend töten will, überlegt nicht viel die Folgen; und kaum einen vorerwägenden Mörder dürfte es je gegeben haben, der nicht von der Überzeugung ausging, nicht gefangen zu werden. – Übrigens möge jeder selbst über diesen Gegenstand nachdenken, möge die Verbrechen und Strafen, deren Motive und Folgen analysieren und wenn man ohne Einfluß einer vorgefaßten Meinung zu denken vermag, so wird man notgedrungen zu folgender Schlußfolgerung kommen:

Sehen wir ganz ab von einer Gesellschaft, in der der Mensch eine bessere Erziehung erhält, ihm die Entwicklung aller seiner Fähigkeiten und die Möglichkeit, dieselben zu verwenden, so viele Genüsse verschafft, daß er diese doch nicht durch einen Mord verlieren wollen wird – also ohne von der zukünftigen Gesellschaft zu sprechen – sogar in der heutigen Gesellschaft, selbst mit allen ihren traurigen Folgen des Elends, wie wir sie heute in den Pesthöhlen der größeren Städte sehen, würde sich, von dem Tage, wo alle Strafen für die Mörder abgeschafft würden, die Zahl der Morde oder sonstigen Verbrechen nicht um einen einzigen Fall vermehren; sehr wahrscheinlich ist sogar, daß sich diese Durchschnittszahl eher noch um alle jene Fälle verringern würde, welche auf die in den Zuchthäusern gezüchteten ‹Rückfälligen› entfallen.

Man erzählt uns immer von den Wohltaten der Gesetze und der heilbringenden Wirkung der Strafen. Aber hat man jemals die ‹Wohltaten›, welche den Gesetzen und Strafen zugeschrieben werden und die erniedrigenden Wirkungen, welche diese Strafen auf die Menschheit ausüben, in die Waagschale zu stellen versucht? – Man addiere nur einmal alle die schlechten, bösartigen Leidenschaften, welche unter den Zuschauern durch die Strafen auf offenem Markte erweckt wurden; oder, wie dies heute geschieht, durch das Lesen in den Zeitungen darüber und das Aussprechen derselben in den Gerichtshöfen. Wer hat die grausamsten Instinkte im Menschen gepflegt und entwickelt (Instinkte, welche den Tieren unbekannt sind und die den Menschen schon zur grausamsten Bestie machen), wenn es nicht Könige, Richter und Pfaffen waren, welche, bewaffnet mit dem ‹Gesetz›, den Menschen die Haut in Fetzen vom lebendigen Leibe rissen, brennendes Harz in Wunden gossen, Glieder ausbrachen, die Knochen zerschmetterten, die Menschen vierteilten usw. usw., um ihre Autorität aufrecht zu erhalten! – Man betrachte die Flut menschlicher Verderbtheit, welche unter dem Vorwande, zur Entdeckung von Verbrechen behilflich zu sein, durch die Angeberei (Spionage und Denunziantentum) in die menschliche Gesellschaft eingeführt wurde, beschirmt und geachtet vom Staat und seinen Richtern, bezahlt mit den klingenden Silberlingen der Regierungen! Man gehe in die Gefängnisse und studiere, was aus den Menschen gemacht wird, welchen alle Freiheit entzogen, die eingesperrt mit schon Verdorbenen werden, die sich gegenseitig mit allen Lastern anstecken, wie sie heute durch alle Mauern durchsickern; und man erinnere sich nur, daß, je mehr man daran reformiert, sie nur desto verwerflicher werden. Unsere modernen Muster-Strafanstalten sind tausendmal korrumpierender, als die mittelalterlichen Turmverließe. Schließlich erwäge man, welche geistige Verkommenheit und Korruption im Schoße der Menschheit aufrecht erhalten wird durch die Idee des Gehorsams – das Wesen jedes Gesetzes –, der Züchtigung, der Autorität, welche das Recht hat, zu strafen und ohne alles Gewissen zu richten; durch die Tätigkeit der Henker, Büttel, Kerkermeister und Denunzianten – kurz durch den ganzen kolossalen Apparat der Gesetze und ihrer Autoritätsgewalt. Wer alles dies in Erwägung zieht, wird gewiß mit uns übereinstimmen, daß Gesetz und Strafe Greuel sind, welche die menschliche Vernunft bald als gefährlicher und verderblicher als alle Verbrechen, da alle diese in sich einbegreifend, erkennen und aus der Gesellschaft verbannen wird.

Übrigens haben solche Völker, welche weniger verbüttelt und daher auch weniger durch autoritäre Vorurteile verdorben sind als wir, sehr richtig erkannt, daß die sogenannten «Verbrecher» einfach Unglückliche sind, daß es nicht gilt, dieselben zu peitschen, in Ketten zu legen, auf den Schafotten und in den Gefängnissen zu töten, sondern daß dieselben durch brüderliche Pflege, menschenwürdige Behandlung und einen lebhaften geselligen Verkehr mit rechtschaffenen Leuten gebessert werden. Und wir hoffen, die nächste Revolution, wie sie der menschheitserlösende Gedanke des Anarchismus voraussieht, läßt den Ruf ertönen: «Ins Feuer mit allen Schafotten! Hinweg und nieder mit jenen schauderhaften Bastillen der Menschenqual und finstersten Brutalität, die wir Gefängnisse, Kerker, Strafhäuser nennen! Keine Berufsrichter, Polizisten und Spitzel – die, in Amt und Würde, die größten Schändlichkeiten in Ehren begehen dürfen und durch ihr Tun jeder natürlichen Menschlichkeit und Gerechtigkeit ins Antlitz schlagen – keine mehr in der Gesellschaft! Wir wollen die Unglücklichen oder Unvernünftigen in brüderlicher Liebe behandeln, welche durch böse Leidenschaften ihren Nächsten Leid zugefügt haben; vor allen Dingen aber wollen wir den großen Verbrechern der Gewalt, der Ausbeutung, Unterdrückung, des Raubes und Krieges, diesen scheußlichen und doch so sehr geachteten und geehrten Produkten der Bourgeoisschlemmerei, die Gelegenheit, nehmen, ihre verderblichen Laster verführerisch und alles beherrschend zur Schau zu stellen. Und wir können überzeugt sein, daß wir dann nur sehr wenige ‹Verbrecher› in der Gesellschaft zu verzeichnen haben werden. Gesetz und Autorität schützen den Müßiggang des ausbeutenden Genusses, obgleich dieser ein Verbrechen ist, dem alle anderen entfließen. Und doch sind ihm alle Gesetze geweiht: die Gesetze über das Privateigentum, die Gesetze über die Regierungen, die Gesetze über Vergehen und Strafen und die Autorität, welche diese Gesetze zu machen und anzuwenden übernimmt.»

Darum lehrt der Anarchismus: Eine freie und gerechte Gesellschaft kann nur dort sein und erstehen, wo es keine Gesetze, keine Richter mehr gibt! Die Freiheit, die Gleichheit und Ausübung der Solidarität sind die einzigen wirksamen Schutzwehren, welche wir den antisozialen Instinkten Einzelner innerhalb der Gesellschaft entgegenstellen können.

Fußnoten:
[1] Byzantinismus – die prostitutive Unterwürfigkeit und der Personenkult, die als Charaktermerkmale des byzantinischen Hofes gelten. – Inquisition – seit 1215 die Untersuchungsverfahren der katholischen Kirche zur Reinerhaltung des Glaubens und des Dogmas gegen Ungläubige und Ketzer. Die Inquisitionsgerichte, meist unter dem Vorsitz von Dominikanern, verwendeten Folter und straften mit Feuertod und Gütereinziehung. Erst durch die Aufklärung beseitigt.
[2] Zit. konnte nicht aufgefunden werden.

Quelle: Aus: Peter Kropotkin - Worte eines Rebellen. rowohlt 1972. S.116-136. Französischer Originaltitel: "La Loi et l’Autorité". Erschienen in Original-Ausgabe unter dem Titel: Kropotkin, Petr A.: Paroles d'un révolté. (1882) Aus dem Französischen von Pierre Ramus (Rudolf Grossmann).

Originaltext: http://anarchistischebibliothek.org/library/peter-kropotkin-gesetz-und-autoritat


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