Peter Kropotkin - Die Ausbreitung der radikal-bürgerlichen und sozialistischen Ideen

Die Lehren, die die Sozialdemokratie dem Proletariat der Großstädte mit Erfolg eingeimpft, hatten die bedauerlichsten Folgen. Man wird uns jedenfalls erwidern, daß wir Unrecht haben; und um dies zu beweisen, wird man uns die drei Millionen Stimmen vorhalten, die die Sozialdemokratie bei den Reichstagswahlen in Deutschland erhält, sowie die 650.000 Mitglieder, die die deutsche Partei zählt. Worauf man uns dann wahrscheinlich triumphierend fragen wird: "Wo wäret ihr in 1869 mit eurer Internationale und ihrer winzigen und schwankenden Zahl wirklicher Mitglieder, sogar in Frankreich?"

Nur wird man vergessen, uns zu sagen, daß seitdem mehr als vierzig Jahre — beinahe ein halbes Jahrhundert — vergangen sind; daß sich während dieser Zeit in Deutschland eine Großindustrie entwickelt hat; daß die Einwohnerzahl der Städte auf Kosten jener des Landes ungeheuer zugenommen hat; daß die Volkserziehung — aus Staatsinteressen — mit vollen Händen verbreitet worden ist. All dies ist von der Sozialdemokratie und ihrer Wirksamkeit vollkommen unabhängig.

Man wird überdies vergessen, daß unter diesen Umständen die Entwicklung einer starken radikalen politischen Partei unvermeidlich war; daß überall, auch anderswo, der Radikalismus während dieses halben Jahrhunderts große Fortschritte gemacht hat; und daß in Deutschland die soz.-dem. Partei im Parlament und bei den Wahlen durch ihr Programm vollkommen jener Partei entspricht, die man anderswo die bürgerlich-radikale oder radikal-demokratische Partei nennt, die mit Sozialismus gar nichts gemein hat. Denn wenn auch die Sozialdemokraten in den Einleitungen zu ihren Programmen (die immer mehr in Vergessenheit geraten) von sozialen Reformen sprechen, vergessen sie nie in ihrer Propaganda zu betonen, daß diese Reformen in weiter Ferne liegen und liegen müssen, da der Kapitalismus noch nicht reif zum Sterben sei; daß es sich inzwischen darum handelt, eine bescheidene Arbeiterschutzgesetzgebung, das allgemeine Wahlrecht, Reformen im Militärdienst und eine Demokratisierung der Einrichtungen zu erhalten — alles Sachen, die, anderswo als in Deutschland, gerade jene Reformen darstellen, die die radikale Bourgeoisie fordert.

Endlich darf man auch das nicht vergessen, daß die Entwicklung gewisser mehr oder weniger unklarer "sozialistischer" Ideen heute ganz unvermeidlich ist. Sogar in Rußland — wo während denselben vierzig Jahren die soz.-dem. Propaganda aufs strengste verboten war, und wo das wenige davon, was im Geheimen eingeschmuggelt wurde, kaum an einigen Orten in die Arbeitermassen drang — vollbrachten die Arbeiter trotzdem, und ohne Dazutun ihrer Führer, gemeinsame organisierte Taten von großer politischer und sozialer Tragweite, sobald sie in 1905 fühlten, daß die Regierung an Kraft verloren hatte. Und diese Taten waren von denselben radikaldemokratischen Ideen durchdrungen, welche überall der bezeichnende Zug unseres bürgerlich-kapitalistischen Zeitalters sind.

In der Tat wußten die russischen Arbeiter, nach einigen Versuchen mit dem Generalstreik, sich im Oktober 1905 trefflich zu verständigen, um einen so allgemeinen und so drohenden Generalstreik ins Werk zu setzen, daß derselbe die gesamte Industrie, den gesamten Verkehr der Eisenbahnen und die ganze Maschine des Staates zum Stillstehen brachte. Und auf die Art zwangen sie die autokratische Regierung zu den ersten politischen Konzessionen und die industrielle Bourgeoisie zu wichtigen wirtschaftlichen Konzessionen.

Überdies gab es im Jahre 1907, nach blos einem Jahre von verhältnismäßiger Freiheit, in Rußland 700.000 in Gewerkschaften organisierte Arbeiter, die mehr als zwanzig sehr gut redigierte und von sozialistischem Geiste durchdrungene revolutionär-gewerkschaftliche Blätter veröffentlichten; und in den großen Städten hatten die Arbeiter bereits den Achtstundentag erzwungen: nicht den elfstündigen Arbeitstag, der nach vierzig Jahren soz.-dem. Propaganda in Deutschland der gesetzlich festgesetzte Arbeitstag ist, sondern den achtstündigen.

Wenn man schließlich den Fortschritt der sozialistischen Idee durch die Anzahl der soz.-dem. Abgeordneten im Parlament bemessen will, so darf man nicht vergessen, wie viele Abgeordnete dieser Partei in Rußland in die zweite Duma entsendet wurden, besonders durch die Bauern. Ebenso in Finnland. Sobald sich dasselbe in 1907 auf revolutionärem Wege eine auf dem allgemeinen Wahlrecht beruhende Konstitution gegeben, wurden, durch eine zweieinhalb Millionen zählende Bevölkerung, 25 soz.-dem. Abgeordnete ins neue Parlament gesandt, wo doch die finnischen Bauern bis dahin kaum den Namen der Sozialdemokratie gehört hatten. "Welcher unter den Kandidaten ist der fortschrittlichste?" fragten sie. "Dieser und jener, der Sozialdemokrat" antwortete man ihnen. "So werden wir für den stimmen!" Sie hätten aber diesen Kandidaten aufs entschiedenste zurückgewiesen, hätten sie gewußt, was man bei den autorisierten Vertretern der Partei "Sozialdemokratie" nennt. Sie hätten ihn gewiß nicht für den fortschrittlichsten gefunden.

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Wenn wir jede Politik beiseite lassen und die Ereignisse mit den Augen des denkenden Menschen ansehen, der die Folgen der verschiedenen vorhandenen Ursachen zu bestimmen sucht, so müssen wir zu dem Schlusse kommen, daß es in der Geschichte des Fortschrittes während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zwei vorherrschende Tatsachen gibt. Diese sind: das rasche Heranwachsen der Großindustrie in allen Ländern, die bis dahin in ihrer industriellen Entwicklung zurückgeblieben waren; und das noch viel raschere Wachstum der Großstädte auf Kosten der Dörfer. Und diese beiden Tatsachen allein erklären schon die rasche Entwicklung der radikal-bürgerlichen und soz.-dem. Ideen, die die Revolution von 1848 und ihre Vorgänger in Frankreich und England gesät hatten.

Ob es in diesem oder jenem Lande eine sozialdemokratische Propaganda gab oder nicht: das Resultat ist dasselbe. Überall sah man zwei Hauptströmungen heranwachsen und sich verbreiten: Einerseits den Geist der politischen Unabhängigkeit und Gleichheit bei der mittleren Bourgeoisie, zwischen den Intellektuellen, den Arbeitern der Städte und sogar, in einigen Teilen Frankreichs, zwischen den Bauern; und andernteils, bei den Lohnarbeitern der Industrie, das Bewußtsein der Ausbeutung, die sie erdulden und das Bestreben, dieselbe durch ihre gewerkschaftliche Organisationen zu bekämpfen.

Mit andern Worten gesagt sind dies:

  1. der politische bürgerliche Radikalismus, ein Erbteil der großen französischen Revolution von 1789 und der republikanischen Propaganda von 1830 und 1848 (politische Freiheiten, Gleichheit vor dem Gesetz, Verweltlichung des Unterrichts, Demokratisierung der Einrichtungen, Gemeindeautonomie); — und
  2. die sozialistische Idee der Internationalen Arbeiterassoziation von 1864.

Und diese beiden Ideen, der bürgerliche Radikalismus und die soziale Tendenz haben sich in Europa und in Nord- und Südamerika ausgebreitet, ob sie durch die soz.-dem. Propaganda unterstützt wurden oder nicht.

Alle politischen Kämpfe des 19. Jahrhunderts und alle Versuche zu einer Revolution seit 1820 bis zur Pariser Kommune von 1871 haben mitgeholfen, um die Idee des politischen Radikalismus zu verbreiten.

Die geheimen politischen Gesellschaften, so einflußreich in der Zeit zwischen 1830 und 1870; der Kampf gegen die religiösen Vorurteile für die Befreiung der Wissenschaft zwischen 1856 und 1870; die Kämpfe gegen die Priesterschaft; und schließlich jene bemerkenswerte Tatsache und mächtige Waffe — die billige Tagespresse und das Zusammenströmen großer Menschenmassen in den Städten — dies ist es, was dazu beigetragen hat, über die Menge des Volkes eine Fülle der Ideen von Freiheit, Gleichheit und Empörung gegen alle politische Bedrückung auszusäen. Die Städte, wo man auf der Straße fortwährend mit anderen Menschen in Berührung kommt, waren immer der Herd der Gleichheitsgedanken. Und die billige Tagespresse, die ihre Leser in den ärmeren Volksschichten suchte, war gezwungen, einen demokratischen Ton anzuschlagen.

Was die sozialistische Gedanken-Strömung selbst anbetrifft, wurde dieselbe durch die ganze lange Reihe der riesigen, großartigen Streiks verbreitet, die die Arbeiter aus ihrer Schlaffheit aufrüttelten, ihre Geisteskraft und besonders ihre Hoffnung erweckten. Man erinnere sich nur der unendlichen Reihe von Streiks, welche die Arbeiter seit vierzig Jahren durchlebt haben! Die großen Streiks von Pittsburg, jene der amerikanischen Eisenbahnarbeiter und Kohlengräber, und die furchtbaren Kämpfe, die aus denselben entstanden, die Ausrottung der "Pinkertonspione" — dieses ersten Keimes einer kapitalistischen Privatarmee — einbegriffen. Dann der erste Versuch eines Generalstreiks am 1. Mai 1886 in Chicago, und die Erhängung der Anarchisten dafür am 11. November 1887. Der Riesenstreik der Londoner Hafenarbeiter, gefolgt von jenem zu Glasgow und anderer großer europäischer Häfen; der Generalstreik in Belgien, der Generalstreik in Barcelona und Bilbao, der Streikaufstand in Mailand usw. — ohne die letzten großen Streiks in Polen, Rußland, Paris zu erwähnen.

Man denke nur an die Tausende von Spalten, die jede Zeitung diesen Streiks gewidmet hat — und diese Zeitungen selbst zählen auch nach Tausenden —, und man wird begreifen, daß die Streiks allein, mit den Racheakten, die sie erweckten und den Prozessen, die sie veranlaßten, genügt hätten, das Selbstbewußtsein und den Geist der Empörung im Proletariat zu zünden. Es gab in der Tat Zeiten, wo ein gutes Viertel jeder Zeitung mit nichts anderem als den Streiks ausgefüllt war.

Vergessen wir auch nicht die sozusagen unterirdische Entfaltung der Ideen, von einem Menschen zum anderen, in den Fabriken und Werkstätten und in den geheimen Gesellschaften der Arbeiter, begonnen durch die amerikanischen "Ritter der Arbeit" und fortgesetzt von ihren Nachfolgern in Europa, in Frankreich, Spanien, Italien.

Man muß von Tag zu Tag diese Propaganda der Streiks und Arbeiterrevolten, die die Bourgeoispresse, ohne sich dessen zu versehen, seit vierzig Jahren macht, verfolgt haben, um die riesige Arbeit, die in dieser Richtung vollbracht wurde, zu verstehen. Dort, wo die sozialistische Presse absolut verboten war, versäumte die sensationslüsterne bürgerliche Presse es nicht, ihre Spalten mit Berichten über die Revolten der Streikenden und die individuellen Empörungstaten der Anarchisten auszufüllen.

Denn man darf auch nicht vergessen, welchen Widerhall diese Taten in der ganzen weiten Welt fanden! Es gab kein Dorf in Europa und Amerika, wo man nicht über dieselben gesprochen hätte. Und während die Leitartikel der Zeitungen den Haß gegen die Anarchisten ausstreuten, sahen die Arbeitermassen in diesen Empörungstaten der Arbeiter ganz etwas anderes. Sie sahen darin das Erwachen der Menschenwürde -das Vorzeichen des geistigen Erwachens und der Empörungstaten der großen Masse.

Es ist der große Widerhall der Arbeitererhebungen, der großartigen, oft hoheitsvollen Streiks und der Taten der individuellen Empörung auf der ganzen Welt, was den Geist der Empörung in der ausgebeuteten Masse verbreitete — wie immer streng auch die Zensur und die Polizei gegen jede von den Sozialisten und Anarchisten organisierte Propaganda vorgehen mochte.

In allen Ländern der Welt, bis in die fernsten Dörfer, wo man nie einen Sozialdemokraten oder eine sozialdemokratische Broschüre gesehen, begannen die Ausgebeuteten zu verstehen, daß die Zeit gekommen sei, wo die ausgeraubten Armen sich endlich zum Widerstand gegen das räuberische System der Ausbeutung rüsten und ihr Recht auf Brot, aufs Leben, fordern werden. Man versteht auch, wie lächerlich es ist, die allgemeine Ausdehnung solcher revolutionär-sozialistischer Ideen jener besonderen Form der sozialistischen Propaganda zuzuschreiben, die die Sozialdemokraten angewandt haben. Dieselbe Anzahl von Arbeitern, die sich heute wirklich als Sozialisten fühlt, würde sich unter der Fahne was immer für einer sozialistischen Bewegung gruppiert haben, vorausgesetzt, daß diese die Befreiung des Proletariats auf ihre Fahne schrieb.

Der Ruf: Arbeiter der ganzen Welt, vereinigt euch! — zuerst in 1831 von Robert Owen, ausgestoßen, aufgenommen 1866 von der Internationale — welche zu jener Zeit antiparlamentarisch war und in Wahrheit danach strebte, die Proletarier zu vereinigen — dieser Ruf gehört nicht der Sozialdemokratie allein an. Deshalb können wir, wenn wir das Werk der Sozialdemokraten beurteilen wollen, dasselbe nicht durch den Fortschritt der Gedankenwelt des Sozialismus im Allgemeinen beurteilen. Wir müssen im Gegenteil die speziellen Ideen der Sozialdemokratie ins Auge fassen: die falsche Wendung, welche diese dem Sozialismus gab — ihre "Ideologie" — d.h. die falschen Ideen, die sie bestrebt war, ihren Anhängern beizubringen, den Erfolg, den sie aus den "Millionen von Willen" zog, welche die Arbeiter ihr zur Verfügung stellten. Dann erst erkennen wir, wie wenig die Sozialdemokratie mit der wirklichen Ausdehnung des Sozialismus zu tun hat.

Es ist nicht nach  der Ausdehnung des Katholizismus, des Protestantismus, oder der griechisch-russischen Kirche, noch weniger nach der Ausdehnung des gesamten Christentums, daß wir eine jede dieser Religionen beurteilen. Es ist nach dem Prinzip, das eine jede von ihnen verbreitet, dem Einfluß, den sie auf ihre Anhänger ausgeübt hat. Dasselbe müssen wir mit der Sozialdemokratie tun.

Anmerkung der Redaktion: Obiger Aufsatz, den wir aus unserem französischen Bruderblatt "Les Temps Nouveaux" übersetzen, ist für sich abschließend. Dennoch ist er eigentlich die Fortsetzung einer besonderen Studie Kropotkins über "Die Anarchie und ihre Kampfesmittel", deren einzelne, voi hergehende Teile unsere Leser im 2. Jahrg. des "W. f. A.", Nr. 17, 19 und 3. Jahrg. Nr. 2 finden.

Aus: "Wohlstand für Alle", 3. Jahrgang, Nr. 5 (1910). Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ae zu ä, That zu Tat, Krapotkin zu Kropotkin usw.) von www.anarchismus.at.


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