Peter Kropotkin - Kommunismus und Freiheit

So finden wir keine andere Determination für die Freiheit als diese: die Möglichkeit zu handeln, ohne die Furcht vor einer gesellschaftlichen Züchtigung (körperlicher Zwang, Hungerandrohung oder auch nur Tadel, wenn er nicht von einem Freunde kommt) in den zu treffenden Entscheidungen mitsprechen zu lassen.

Die Freiheit auf diese Weise auffassend - und wir zweifeln, ob man eine weitergehende und zugleich tatsächliche Determination der Freiheit finden kann -, können wir sicherlich sagen, daß der Kommunismus die individuelle Freiheit verringern, ja sogar töten kann, und in manch einer Kommune hat man es versucht; aber er kann auch diese Freiheit bis zu ihren letzten Grenzen erweitern.

Alles wird von den grundlegenden Ideen abhängen, mit denen man sich assoziieren wird. Nicht die Form der Verbindung bestimmt die Knechtschaft: Die Ideen über die persönliche Freiheit, die man in die Verbindung mitbringt, bestimmen den mehr oder weniger freiheitlichen Charakter.

Das ist richtig in betreff jeglicher Gesellschaftsform. Das Zusammenleben zweier Individuen in einer Wohnung kann die Unterwerfung des einen unter den Willen des andern zur Folge haben, wie sie auch die Freiheit für beide mit sich bringen kann. Ebenso verhält es sich, wenn wir uns zu zweien daran begeben, den Boden eines Gemüsegartens umzugraben oder eine Zeitung herauszugeben. Es ist das gleiche für jede Verbindung, wie klein oder wie umfassend sie auch sei. Daher sehen wir im 10., 11. und 12. Jahrhundert die Kommune Gleichstehender, gleich freiheitlicher Menschen - und diese selbe Kommune vier Jahrhunderte später, die Diktatur eines Mönches auf sich nehmend. Die Institution des Richters, des Gesetzes usw. bleibt; die Idee des römischen Rechts, des Staates, herrscht, während die der Freiheit, des Schiedsspruches bei Streitigkeiten und der Föderation in allen Abstufungen schwindet - und das ist die Knechtschaft. Nun also! Von allen Einrichtungen oder sozialen Gruppenformationen, die bis zum heutigen Tage versucht wurden, verbürgt noch immer der Kommunismus dem Individuum die größte Freiheit - vorausgesetzt, daß die Uridee die Freiheit, der Anarchismus sei.

Der Kommunismus ist imstande, alle Formen der Freiheit oder der Unterdrückung anzunehmen - was andre Einrichtungen nicht können. Er kann ein Kloster zeitigen, in dem alle blind ihrem Prior gehorchen; er kann eine absolut freie Verbindung sein, die dem einzelnen seine ganze Freiheit läßt - eine Verbindung, die nur so lange währt, wie die Verbündeten zusammenbleiben wollen, die niemandem einen Zwang auferlegt, sondern im Gegenteil eifersüchtig dazwischentreten will, wenn die Freiheit des Individuums bedroht wird, die sie vergrößern und nach allen Richtungen erweitern will. Er kann regierungsfreundlich sein (in welchen Fall die Gemeinde bald zugrunde geht), und er kann anarchistisch sein. Der Staat dagegen kann das nicht. Er ist autoritativ, oder er hört auf, Staat zu sein.

Der Kommunismus sichert besser als jede andere Gruppierungsform die wirtschaftliche Freiheit, da er den Wohlstand und selbst den Luxus garantieren kann, wenn er vom Menschen nur einige Arbeitsstunden täglich verlangt, anstatt seinen ganzen Tag. Aber, dem Menschen 10 oder 11 Mußestunden von den 16, die wir täglich bewußt leben (8 Stunden für den Schlaf), verschaffen, heißt, die Freiheit des Individuums bis zu einem Grade erweitern, der das Ideal der Menschheit seit Jahrtausenden ist. Heute kann das geschehen. In einer kommunistischen Gesellschaft könnte der Mensch über wenigstens 10 Freistunden verfügen. Und das ist schon die Befreiung von der drückendsten Knechtschaft, die auf dem Menschen lastet. Es ist eine Erweiterung der Freiheit.

Alle als gleichstehend anzuerkennen und auf die Herrschaft des Menschen über den Menschen zu verzichten, heißt wieder, die Freiheit des Individuums bis zu einem Grade vergrößern, die keine andere Gruppierungsform auch nur in ihren Träumen zugelassen hat. Sie wird nur möglich, wenn der erste Schritt getan ist: wenn der Mensch seine Existenz gesichert hat und nicht genötigt ist, seine Kraft und seine Intelligenz demjenigen zu verkaufen, der ihm die Gnade zuteil werden lassen will, ihn auszubeuten.

Erkennen endlich, daß die Basis allen Fortschritts die Mannigfaltigkeit der Beschäftigungen ist, und sich in der Art organisieren, daß der Mensch in seinen Mußestunden völlig frei ist, aber auch seine Arbeit vielfältig gestalten, und ihn durch seine Kindheit und seine Erziehung auf diese Vielfältigkeit vorbereiten - und das ist unter einem kommunistischen Regime leicht zu erreichen -, das heißt abermals, das Individuum befreien und vor ihm die Pforten für seine vollständige Entfaltung nach allen Richtungen weit öffnen.

Für alles übrige hängt alles von den Ideen ab, mit denen die Kommune gegründet werden wird. Wir kennen eine religiöse Kommune, in der jemand, der sich unglücklich fühlte und seine Traurigkeit durch sein Gesicht verriet, von einem „Bruder“ folgendermaßen angeredet wurde: „Du bist traurig? Zeig' trotzdem ein fröhliches Gesicht, sonst wirst du die Brüder und Schwestern ebenfalls traurig machen.“ Und wir kennen Kommunen von 7 Personen, in denen ein Mitglied die Ernennung von 4 Ausschüssen verlangte: für den Gartenbau, die Ernährung, die Haushaltung und die Ausfuhr - mit unumschränkten Rechten für den Präsidenten jedes Ausschusses. Es gab sicherlich Kommunen, die von „Autoritätsverbrechern“ (besonderer Typus, der der Aufmerksamkeit Herrn Lombrosos anempfohlen sei) gegründet oder nach ihrer Gründung überschwemmt worden sind, und andere zahlreiche Kommunen, die von den Wahnsinnigen, die das Individuum von der Gesellschaft aufsaugen lassen wollten, gegründet wurden. Aber nicht die kommunistische Institution hat sie hervorgebracht, sondern das (seiner Wesensart nach hervorragend regierungsfreundliche) Christentum und das römische Recht, der Staat. Die grundlegende Staatsidee dieser Männer, die glauben, daß eine Gesellschaft ohne Henkersknechte und Richter unmöglich ist, bleibt eine beständige Bedrohung für jede Freiheit, und nicht die dem Kommunismus zugrundeliegende Idee, welche die ist zu verbrauchen und zu produzieren, ohne den genauen Anteil eines jeden abzuwiegen. Diese ist im Gegenteil eine Idee der Freiheit, der Befreiung. Wir können also die folgenden Schlüsse ziehen: Bisher mißglückten die kommunistischen Versuche:

  • weil sie sich auf eine gewisse religiöse Schwärmerei gründeten, anstatt im Kommunismus einfach einen Modus für den wirtschaftlichen Verbrauch und die wirtschaftliche Produktion zu sehen;
  • weil sie sich von der Gesellschaft isolierten;
  • weil sie mit Autoritätsgeist angefüllt waren;
  • weil sie allein standen, anstatt Bündnisse zu schließen;
  • weil sie von den Gründern eine so große Arbeitsmenge forderten, daß ihnen keine Mußestunden blieben;
  • weil sie die patriarchalische, regierungstreue Familie nachahmten, anstatt sich im Gegenteil als Ziel die möglichst vollständige Befreiung des Individuums zu setzen.


Eine hervorragend wirtschaftliche Institution, entscheidet der Kommunismus nirgends vorher über den Anteil an der Freiheit, der dem Individuum, der Initiative der Auflehnung gegen die Gewohnheiten, die sich kristallisieren wollen, zukommen soll. Er kann regierungstreu sein, was mit Notwendigkeit den Untergang der Kommune herbeiführt, und er kann freiheitlich sein, was im 12. Jahrhundert sogar mit dem partiellen Kommunismus der damaligen jungen Städte, die Schöpfung einer jungen Zivilisation voller Lebensstärke, eine Erneuerung Europas herbeiführte.

Die einzige Form des Kommunismus indessen, die Dauer haben könnte, ist jene, bei der, mit Hinsicht auf den schon bestehenden Kontakt zwischen den Bürgern, alles getan würde, um die Freiheit des Individuums nach allen andern Richtungen zu erweitern.

Unter diesen Bedingungen, unter dem Einfluß dieser Idee, würde die Freiheit des Individuums durch all die erworbene Muße vermehrt, nicht mehr beschränkt werden, als sie es heute durch das kommunale Gas, die von den großen Geschäftshäusern ins Haus gesandte Verpflegung, die modernen Hotels ist, oder durch die Tatsache, daß wir in den Arbeitsstunden an die Ellenbogen von Tausenden von Arbeitern stoßen.

Mit dem Anarchismus als Ziel und als Mittel wird der Kommunismus möglich. Ohne ihn würde er mit Notwendigkeit die Knechtschaft bedeuten, und - als solche - könnte er nicht bestehen.

Aus:
Achim v. Borries / Ingeborg Brandies: Anarchismus. Theorie, Kritik, Utopie. Joseph Melzer Verlag, Frankfurt 1970

Nach:
Kommunismus und Anarchismus. Berlin o. J., S. 13-16.

Mit freundlicher Erlaubnis des Abraham Melzer Verlag´s

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