Milly Witkop-Rocker - Erinnerungen an Peter Kropotkin

Als ich in der Presse die verschiedenen Nachrufe las, die Kropotkin gewidmet waren, konnte ich mich eines starken und geradezu peinlichen Gefühles nicht erwehren. Man erzählte die wunderbarsten Dinge über Kropotkin, den großen Verkünder der gegenseitigen Hilfe usw., aber wenig, sehr wenig wurde gesagt über den Menschen Kropotkin. Sogar seine intimsten Freunde haben diese Seite kaum berührt. Man pries die großen Verdienste, die er sich um die leidende Menschheit erworben hatte und bewundert seine unermüdliche Tätigkeit auf den verschiedensten Gebieten - damit begnügte man sich zumeist. Und ich erinnerte mich unwillkürlich der Worte, die mir einer unserer besten einst geschrieben hatte: "Man sieht nur mein Werk, meine besonderen Fähigkeiten, die Dienste, die ich der Bewegung geleistet habe, mich selbst bemerkt man nicht." - Das klang bitter. Ich bemühte mich, ihn durch allerhand fadenscheinige Argumente, wie man sie in solchen Fällen anzuwenden pflegt, eines besseren zu belehren; ob es mir gelungen ist, weiß ich nicht.

Es scheint mir das Schicksal aller großen Persönlichkeiten zu sein, dass sie unter der Last ihres Genies begraben werden. Man vergisst nur allzu leicht über ihren Vorzügen und Verdiensten das rein Menschliche in ihnen, und gerade dieses ist es, was sie unseren innersten Empfindungen am nächsten bringt. Aus diesem Grunde wäre es mir zu begrüßen, wenn man auch in den Beschreibungen über Kropotkin dieser Seite seines Wesens etwas mehr Aufmerksamkeit schenken würde, die nach meiner Ansicht die wichtigste und wertvollste ist. Seine Tätigkeit in der revolutionären Bewegung und die Werke, die er uns schenkte, bedürfen keiner Kommentare; sie sprechen für sich selbst. Die Klarheit seiner Gedanken, die schlichte Schönheit seiner Schreibweise sind Dinge, die man nicht missverstehen kann und die besondere Hinweise und Erläuterungen vollständig erübrigen. Dafür aber ist ein näheres Eingehen auf seine rein menschlichen Eigenschaften um so wichtiger.

Ich kann mich nicht rühmen, zu den intimen Freunden Kropotkins gehört zu haben, doch kannte ich ihn persönlich über 25 Jahre und traf öfter mit ihm zusammen in Versammlungen, Gruppenkonferenzen, an Unterhaltungsabenden und in privaten Gesprächen. Das letzte Mal, als ich ihn sah, war kurz nach Ausbruch des Krieges. Ich besuchte ihn damals in seinem Häuschen in Brighton zusammen mit unserem alten Freunde M. Cohn und seiner Frau aus New York. Ich werde den Eindruck dieses Besuches nie vergessen. Wir sprachen über das Problem des Krieges; es war noch, bevor er selbst in der Öffentlichkeit Stellung zu dieser Frage genommen hatte. Seine Ausführungen berührten mich im tiefsten Grunde meines Herzens. (Kropotkin befürwortete den Krieg der Alliierten gegen die Achsenmächte, Anm. d. Tippers) Ich wünschte, dass ich diese Worte niemals gehört hätte, die mir wie eine offene Wunde in der Seele brannten. Und doch regte sich in mir kein bitteres Gefühl gegen diesen Mann, denn ich wusste, dass er nur seiner tiefsten inneren Überzeugung Ausdruck gab. Gerade damals, als sich unsere Ansichten so schroff gegenüberstanden, kam mir das Große und rein Menschliche in Kropotkins Persönlichkeit erst recht zum Bewusstsein.

Ich kam als junges 17- jähriges Mädchen aus einem kleinrussischen Städtchen nach London und stand vollständig unter dem Banne einer streng religiösen Weltanschauung. Wie so viele andere machte ich im großen Ghetto des East End die erste Bekanntschaft mir den Ideen des modernen Sozialismus und kam allmählich zu Überzeugungen, die meinen früheren Anschauungen diametral entgegenstanden. Ich hatte bereits in der "Zukunft", dem Organ der jiddischen Sozialisten in Amerika; einige Abhandlungen von Lassalle, Marx und Engels gelesen, als mir die kleine Schrift Kropotkins "An die jungen Leute" in die Hände fiel. Der Eindruck, den ich daraus empfing, war unbeschreiblich. Ich fühlte, dass dem Manne, der diese Zeilen geschrieben hatte, jedes Wort aus der Seele kam, und ich verehrte ihn mit der ganzen Leidenschaft, deren nur eine junge Idealistin fähig ist. Es wäre die Tragödie meines Lebens gewesen, wenn ich Kropotkin als Mensch anders gefunden hätte, als er mir in diesen Blättern entgegentrat.

Mein Herz war voller Freude, als ich eines Tages im "Arbeiterfreund" annonciert fand, dass Kropotkin einen Vortrag für uns halten werde. Die allgemeine Begeisterung, mit der sein Erscheinen begrüßt wurde, sagte mir deutlich, dass alle , die hier versammelt waren, ihm mit derselben ungewöhnlichen Liebe zugetan waren, die ich selbst für ihn empfand. Aber es wäre durchaus falsch, anzunehmen, dass sein außergewöhnliches Wissen und Können die Ursache dieser tiefen Sympathie gewesen sei. Nein, daran dachte im Augenblick wohl keiner. Es war dieses feine gewinnende Lächeln, der milde Blick seiner Augen, die natürliche Art, wie er sich gab, sein warmer und brüderlicher Handschlag, welche ihm die ungeteilte Liebe und Sympathie aller erwarben, die mit ihm in Berührung kamen, und wir alle, die wir hier versammelt waren, Schneider, Fuhrleute, Dockarbeiter, Näherinnen, wir fühlten, dass er uns mit denselben Gefühlen gegenüberstand, die wir für ihn empfanden als Freund und Bruder.

Kropotkin war in erster Linie Mensch. Er liebte den einfachen Mann aus dem Volke mit der ganzen Kraft, deren seine große Seele fähig war. Er glaubte an das Volk mit jener tiefen und leidenschaftlichen Überzeugung, die alle, die mit ihm bekannt wurden, emporhob und inspirierte. Die meisten sogenannten "großen Männer", darunter auch viele Sozialisten, genießen lediglich den Ruhm ihres Werkes und eine nähere Berührung mit ihnen führt nur allzu oft zu bitteren Enttäuschungen. Bei Kropotkin war gerade das Gegenteil der Fall: je näher man ihm kam, desto mehr liebte und schätzte man ihn.

"Mit ihm zusammen zu arbeiten, unter dem Einfluß seiner Gegenwart, ist eine wahre Inspiration", sagte mir einst ein georgischer Kamerad. Es war in den ersten Monaten des Krieges und unser Freund stand der Haltung Kropotkins ebenso schroff gegenüber, wie ich selbst. - "Ich habe oft mit ihm zusammen gearbeitet", sagte er, "ich brachte seine Bücherei in Ordnung und ordnete sein zahlreichen Notizen. Was immer seine Stellung sein mag, ich muß ihn lieben so lang ich lebe" - Was für eine Persönlichkeit musste das sein, die imstande war, solche tiefen und unvergänglichen Empfindungen bei anderen hervorzurufen.

Manche Kameraden waren der Meinung, dass es ein Glück gewesen sei, dass Kropotkin seiner Gesundheit wegen gezwungen war, während der letzten zwanzig Jahre seine öffentliche Tätigkeit in der Bewegung fast gänzlich einzustellen, da er nur auf diese Weise imstande gewesen sei, seine besten Werke zu vollenden. Ich wage es, anderer Meinung zu sein. Die Gegenwart eines Mannes wie Kropotkin in einer Bewegung, seine tägliche Berührung mit dem Volke können größere Wunder bewirken, als seine besten Werke. Der persönliche Einfluß eines solchen Charakters kann gar nicht hoch genug gewertet werden. Es ist tief zu bedauern, dass solche Männer so selten sind in unserer Mitte. Überhaupt heute, wo die ganze Welt im Zeichen einer vom Skeptizismus zerfressenen Mittelmäßigkeit und des blödesten und kleinlichsten Groschen-Materialismus zu stehen scheint. Heute, da die Liebe zur Menschheit, die Kropotkin im Herzen trug, zur sinnlosen Phrase wurde, und da jeder echte Idealismus von denen verlacht wird, welche die Massen benutzen, um zur Macht emporzusteigen. Möge das Andenken an die prachtvolle Persönlichkeit unseres großen Toten dazu beitragen, in jedem von uns jenen Geist des tief Menschlichen wachzuhalten, der allein imstande ist, uns einer freien Zukunft entgegenzuführen.

Milly Witkop-Rocker

Aus: "Der Frauen-Bund", Nr.2 -1923 - Monatsbeilage im "Syndikalist" Nr.5 - 1923

Originaltext: www.fau-bremen.de.vu


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