Michail Bakunin - Die Pariser Kommune und die Idee des Staates
Diese Arbeit, wie übrigens alle diejenigen Schriften, welche ich bisher veröffentlicht habe, ist ein Ergebnis der Geschehnisse. Sie ist die natürliche Fortsetzung meiner "Briefe an einen Franzosen" (September 1870), in denen ich die leichte und traurige Aufgabe hatte, die schrecklichen Unglücksfälle vorauszusagen, die jetzt Frankreich und mit ihm die ganze zivilisierte Welt, betroffen haben: Unglücksfälle, gegen welche nur eine Hilfe möglich war und noch jetzt möglich bleibt: die soziale Revolution.
Der Zweck dieser vorliegenden Arbeit ist es nun, erstens diese, nunmehr unumstößliche Wahrheit zu beweisen, sowohl durch die historische Entwicklung der Gesellschaft, wie durch die Tatsachen selbst, die sich vor unseren Augen in Europa abspielen; sodaß dieselbe von allen ehrlich denkenden Menschen, von Allen, die die Wahrheit suchen, angenommen wird. Und zweitens offen, ohne Rückhalt, ohne Zweideutigkeit die philosophischen Ideen, sowie die praktischen Schlußfolgerungen darzulegen, welche sozusagen die handelnde Seele, die Grundlage und das Ziel dessen ausmachen, was wir diese soziale Revolution nennen.
Ich bin ein leidenschaftlicher Sucher nach Wahrheit und ein ebenso heftiger Gegner der verderblichen Lügen, durch welche die Partei der Ordnung, diese privilegierte, offizielle und interessierte Vertreterin aller religiösen, philosophischen, politischen, gerichtlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Schändlichkeiteil in der Gegenwart und der Vergangenheit, die Welt in Dummheit und Sklaverei zu erhalten versucht. Mit ganzem Herzen liebe ich die Freiheit, welche ich für den einzigen Zustand halte, in welchem der Verstand, die Würde und das Glück der Menschen sich entwickeln und vergrößern können. Natürlich verstehe ich unter Freiheit nicht die bloße Form der Freiheit, aufgezwungen, abgemessen und geregelt vom Staate, diese ewige Lüge, die in Wahrheit nie etwas anderes ist, als das Vorrecht Einiger, welches sich auf der Sklaverei Aller gründet. Auch meine ich nicht jene, "individualistische" selbstsüchtige, kleinliche und scheinbare Freiheit, welche von der Schule J. J. Rousseau's und allen anderen Schulen des bourgeoisen Liberalismus verkündet wird, und welche das angebliche Recht Aller, welches der Staat vertritt, als die Grenze der Rechte ansieht, — denn das führt unvermeidlich und immer zur Vernichtung der Rechte eines jeden Einzelnen.
Nein, ich meine die einzige wahre Freiheit, die dieses Namens würdig ist; die Freiheit, die darin besteht, daß jeder Mensch alle materiellen, geistigen und moralischen Kräfte, die in ihm schlummern, vollkommen entwickeln kann; die Freiheit, die keine anderen Beschränkungen anerkennt, als jene, welche uns unsere eigene Natur vorschreibt. In diesem Sinne gibt es eigentlich keine Beschränkungen, denn die Gesetze unserer eigenen Natur sind uns nicht von irgend einem außen stehenden Gesetzgeber aufgezwungen, welcher neben oder über uns thront; sie sind in uns, sie sind die eigentliche Grundlage unseres körperlichen und geistigen Daseins; anstatt ihnen eine Grenze zu setzen, müssen wir sie als die tatsächlichen Bedingungen und die Grundursache unserer Freiheit betrachten.
Ich meine jene Freiheit eines Jeden, welche nicht durch die Freiheit eines Andern beschränkt wird, sondern durch dieselbe im Gegenteil verstärkt und ins Unendliche ausgedehnt wird; die unbegrenzte Freiheit eines Jeden durch die Freiheit Aller, die Freiheit durch die Solidarität, die Freiheit in der Gleichheit. Die Freiheit, welche die rohe Gewalt und das Prinzip der Autorität, das immer nur der Ausdruck dieser Gewalt war, besiegt hat; die Freiheit, welche, nachdem sie alle himmlischen und irdischen Götzen gestürzt hat, eine neue Welt begründen und organisieren wird, eine Welt, welche auf den Trümmern von allen Staaten und Kirchen die mensch1iche Solidarität errichten wird.
Ich bin ein überzeugter Anhänger der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Gleichheit, denn ich weiß, daß außerhalb derselben die Freiheit, die Gerechtigkeit und die Menschenwürde, die Moral und das Wohlergehen der einzelnen Menschen, sowie der Wohlstand der Völker nie etwas anderes als Lügen sein werden. Aber als Anhänger der Freiheit, dieser Grundbedingung der Menschheit, denke ich, daß die Gleichheit sich in der Welt verwirklichen muß auf dem Wege der freiheitlichen Organisation der Arbeit und des Gemeinbesitzes durch die Vereinigungen der produktiven Arbeiter, welche sich frei organisieren und verbünden in der Gemeinde, der Kommune und durch die ebenso freie Föderation dieser Kommunen — aber nicht durch das oberste bevormundende Eingreifen des Staates.
Das ist der Punkt, welcher hauptsächlich die revolutionären Sozialisten (Anarchisten) von den autoritären Sozialisten (Sozialdemokraten) trennt, welche letzteren die Anhänger der unbedingten Initiative des Staates sind. (1) Ihr Ziel ist dasselbe; beide Parteien wollen gleicher Weise eine neue Gesellschaftsordnung schaffen (2). Die einzige Grundlage dieser neuen Gesellschaft soll sein: erstens die Organisation der gemeinschaftlichen Arbeit, welche, der Notwendigkeit der Natur selbst gehorchend, jeder und alle unter den gleichen wirtschaftlichen Verhältnissen leisten müssen; und zweitens der gemeinsame Besitz an allem, was zur Arbeit notwendig ist (Boden, Werkzeuge, Maschinen usw.).
Nun bilden sich die Sozialdemokraten ein, daß sie dieses Ziel durch die Entwicklung und Organisation der politischen Macht der Arbeiterklasse, besonders des städtischen Proletariats, mit Hilfe der radikalen Parteien erreichen können; während die Anarchisten, als Gegner aller Kompromisse und verwirrender Bündnisse, im Gegenteil davon überzeugt sind, daß sie dieses Ziel nur durch die Entwicklung und Organisation der nicht politischen, sondern gesellschaftlichen — und infolge dessen jeder Politik entgegengesetzten — Macht der Arbeitermassen — sowohl jener in den Städten; wie auf dem Lande erreichen können, mit der Zusammen Wirkung aller jener Mitglieder der oberen Klassen, die den guten Willen haben und bereit sind, mit ihrer ganzen Vergangenheit zu brechen und sich offen an sie anschließen und ihre Forderungen ganz zu den ihrigen zu machen.
Daraus entstehen zwei verschiedene Methoden. Die Sozialdemokraten halten es für ihre Aufgabe, die Kräfte der Arbeiterschaft zur Eroberung der politischen Macht im Staate zu organisieren. Die Anarchisten organisieren sich zur Abschaffung der politischen Macht und der Staaten. Die Sozialdemokraten sind im Prinzip sowie im täglichen Leben, die Anhänger der Autorität; die Anarchisten haben nur in der Freiheit Vertrauen. Die einen wie die anderen sind Anhänger der Wissenschaft, die den Aberglauben töten, und an Stelle des religiösen Kirchenglaubens treten soll. Aber die Ersteren möchten dieselbe aufzwingen, die Letze Gruppen der Menschen durch die Wahrheit überzeugt, sich freiwillig treu werden sich bemühen, dieselbe zu verbreiten, damit sie organisieren und verbünden — frei, von unten nach oben, durch eigenen Antrieb und ihren wahren Interessen gemäß, aber nie nach einem im Voraus und von oben vorgezeichneten Plan, welcher den "unwissenden Massen" von einigen "geistig höher Stehenden" aufgezwungen wird.
Die Anarchisten denken, daß in den instinktiven Bestrebungen und wahren Bedürfnissen der Volksmassen viel mehr gesunder Menschenverstand und Vernunft steckt, als in der tiefen Weisheit all dieser Doktoren und "Erzieher" des Menschengeschlechts, die nach so vielen mißlungenen Versuchen der Menschheitsbeglückimg sich noch immer an dieser Aufgabe abmühen. Die Anarchisten denken, daß im Gegenteil, die Menschheit sich lange genug, ja zu lange, beherrschen und regieren ließ, und daß die Quelle ihrer Leiden nicht in dieser oder jener Form der Herrschaft liegt, sondern im Wesen und Bestehen der Herrschaft selbst, was immer für eine Form dieselbe auch annehmen mag.
Dies ist der historische Gegensatz zwischen den sozialdemokratischen Ideen, wissenschaftlich entwickelt durch die deutsche Schule und teilweise angenommen von den englischen und amerikanischen Sozialisten; — und den durch Joseph Pierre Proudhon begründeten Ideen des anarchistischen Kommunismus (3) die das Proletariat der romanischen Länder (Frankreich, Spanien, Italien) vorbereitet und geistig bis zu ihren letzten Konsequenzen geführt hat. Dieser letztere revolutionäre Sozialismus hat soeben zum ersten Mal versucht, seine Ideen in der Pariser Kommune machtvoll und praktisch zu betätigen.
Ich bin ein Anhänger der Pariser Kommune, die, niedergemetzelt, im Blute erstickt, durch die Henker der klerikalen und monarchistischen Reaktion nur desto lebendiger, desto mächtiger in der Einbildungskraft und im Herzen des europäischen Proletariats geworden ist; ich bin ihr Anhänger hauptsächlich deshalb, weil sie eine mutige, entschiedene Verneinung des Staates war.
Es ist eine Tatsache von ungeheuerer Bedeutung, daß diese Verneinung des Staates in Frankreich geschehen ist, das bis jetzt das Land der stärksten politischen Zentralisation war; und das gerade Paris das Haupt und die Schöpferin dieser großen französischen Zivilisation, es war, die den Anfang damit gemacht hat. Paris, sich selbst entthronend und mit Begeisterung seinen Sturz verkündend, um Frankreich, Europa, der ganzen Welt das Leben zu geben; Paris, aufs neue die historische Bedeutung seiner Initiative geltend machend, um allen versklavten Völkern (und wo sind die Volksmassen, die keine Sklaven sind?) den einzigen Weg zur Befreiung und zum Heil zu weisen; Paris, einen tödlichen Streich gegen die politischen Überlieferungen des bürgerlichen Realismus führend und dem revolutionären Sozialismus eine feste Gundlage gebend; Paris, aufs neue die Verwünschungen aller Reaktionäre von Frankreich und Europa verdienend! Paris, sich unter seinen eigenen Ruinen begrabend, um die triumphierende Reaktion Frankreichs rettend und der Menschheit tröstende Verheißung gebend, daß, wenn das Leben, die Vernunft, die moralische Kraft aus den herrschenden Klassen verschwunden sind, sich dieselben kräftig und hoffnungsvoll im Proletariat erhalten haben! Paris, das neue Zeitalter einleitend, das Zeitalter der endgültigen und vollständigen Befreiung der Volksmassen und ihrer in Zukunft zur Wahrheit gewordenen Solidarität, über und trotz allen staatlichen Grenzen; Paris, den Patriotismus tötend und auf dessen Ruinen die Religion der Menschheit begründend; Paris, seinen Humanismus und Atheismus verkündend und die göttlichen Lügen durch die großen Wahrheiten des gesellschaftlichen Lebens und der Wissenschaft ersetzend, an Stelle der Falschheit und des Unrechtes der religiösen, gerichtlichen und politischen Moral die Grundsätze der Freiheit, der Gerechtigkeit, der Brüderlichkeit, diese ewigen Grundlagen der menschlichen Sittlichkeit setzend! Paris, heldenhaft, vernünftig und festvertrauend seinen starken Glauben an die Zukunft der Menschheit, durch seinen glorreichen Fall und Tod verkündend, und denselben stärker und lebendiger als je den kommenden Geschlechtern überliefernd! Paris, im Blute seiner besten Kinder erstickt — das ist die Menschheit, gekreuzigt durch die internationale, verbündete Reaktion Europas, unter der unmittelbaren Eingebung aller Kirchen und der Hohepriester von allen Unrechten. Aber die nächste internationale und solidarische Revolution der Völker wird die Auferstehung von Paris sein. Das ist der wahre Sinn, und dies sind die wohltätigen und unermeßlich wichtigen Folgen des zweimonatlichen Bestehens und des ewig denkwürdigen Falles der Pariser Kommune.
Die Pariser Kommune hat zu kurze Zeit gedauert, sie wurde in ihrer inneren Entwicklung zu sehr durch den tödlichen Kampf gehemmt, welchen sie gegen die Versailler Reaktion führen mußte: so konnte sie ihr sozialistisches Programm nicht einmal theoretisch ausarbeiten, geschweige denn, anwenden. Übrigens muß man es zugestellen, daß die Mehrzahl der Mitglieder der Kommune nicht im eigentlichen Sinne Sozialisten waren; und wenn sie sich als solche gezeigt haben, so ist das deshalb, weil sie unvermeidlich mitgerissen wurden durch die unwiderstehliche Macht der Dinge, durch die Natur ihrer Umgebung, durch die Notwendigkeit ihrer Stellung und nicht durch ihre innerste Überzeugung. Die Sozialisten, an deren Spitze natürlich unser Freund Var1in steht, bildeten in der Kommune nur eine verschwindend kleine Minderheit; sie waren nicht mehr als höchstens vierzehn oder fünfzehn Mitglieder. Der übrige Teil bestand aus Jakobinern (4). Aber wir müssen einen Unterschied zwischen Jakobinern und Jakobinern machen. Es gibt advokatorische und doktrinäre Jakobiner, wie Gambetta, dessen anmaßender herrschsüchtiger und starrer Republikanismus den alten revolutionären Glauben verloren und vom Jakobinismus nur die Verehrung der zentralistischen Einheit und der Autorität behalten hat und die so das Frankreich des Volkes den preußischen Eroberern und später der einheimischen Reaktion überliefert haben. Und es gibt aufrichtig revolutionäre Jakobiner, die letzten heldenhaften Vertreter der demokratischen Überzeugungen von 1793, die fähig sind, eher ihre zentralistische Einheit und ihre wohlbewaffnete Autorität den Bedürfnissen der Revolution zu opfern, als ihr Gewissen vor der frechen Reaktion zu beugen, Diese großzügigen Jakobiner, an deren Spitze wir naturgemäß Delecluse, einen großen und edlen Charakter stellen müssen, wollen vor allem den Triumph der Revolution; und da ohne Volksmassen keine Revolution möglich ist, und da diese Massen entschieden dem Sozialismus zuneigen und keine andere Revolution vollbringen können, als eine wirtschaftliche und soziale Revolution, so lassen sich die ehrlichen Jakobiner immer mehr durch die Logik der revolutionären Bewegung mitreißen und werden schließlich, ohne es zu wollen, zu echten Sozialisten-Anarchisten.
Dies ist gerade die Lage, in welcher sich die Jakobiner befanden, die der Pariser Kommune angehörten. Delecluse und manche andere mit ihm unterschrieben Programme und Aufrufe, deren allgemeiner Geist und deren Versprechungen entschieden sozialistisch waren. Aber trotz ihrer Ehrlichkeit und ihrem guten Willen war ihr Sozialismus vielmehr eine Folge der äußeren Umstände, als ihre innere Überzeugung; sie hatten weder die Zeit noch die Fähigkeit, in sich selbst eine Menge von bourgeoisen Vorurteilen zu besiegen, welche mit ihrem neuerworbenen Sozialismus in Widerspruch standen (5) und so ist es verständlich, daß sie durch diesen inneren Kampf gelähmt wurden, daß sie nie über die allgemeinen Theorien hinauskommen konnten und nicht fähig waren, irgend eine entscheidende Maßnahme zu treffen, welche ein für allemal ihre Solidarität und alle ihre Verbindungen mit der bürgerlichen Gesellschaft abgebrochen hätte.
Dies war ein großes Unglück für die Kommune und für diese Männer selbst; auch sie wurden dadurch gelähmt und sie lähmten die Kommune. Aber man soll ihnen deshalb keinen Vorwurf machen. Die Menschen verändern sich nicht von einem Tag auf den andern, und sie können nicht nach Belieben ihre Natur und ihre Gewohnheiten wechseln. Die Jakobiner der Kommune haben ihre Aufrichtigkeit bewiesen, indem sie sich für die Kommune töten ließen. Wer darf mehr von ihnen verlangen?
Sie sind umsomehr zu entschuldigen, als das Volk von Paris, unter dessen Einfluss sie dachten und handelten, selber viel mehr dem Gefühl nach, als aus wohlerwogener Überzeugung sozialistisch gesinnt war. All sein Begehren ist im höchsten Grade und ausschließlich sozialistisch; aber seine Gedanken, oder besser gesagt, die hergebrachten Formen derselben, sind noch weit davon entfernt, auf dieser Höhe angelangt zu sein. Unter dem Proletariat der französischen Großstädte und sogar von Paris, gibt es noch viele jakobinistische Vorurteile, viele falsche Ideen über die Notwendigkeit der Diktatur und der Regierung, die Verehrung der Autorität — das unvermeidliche Ergebnis der religiösen Erziehung, dieser ewigen Quelle alles Unglücks, aller Erniedrigung, aller Knechtschaft des Volkes — ist noch nicht vollkommen aus seiner Mitte ausgerottet worden. Dies ist soweit der Fall, daß es sogar den intelligentesten Söhnen des Volkes, den überzeugtesten Sozialisten der damaligen Zeit noch nicht gelungen ist, sich vollkommen von derselben zu befreien. Wenn man ihr Innerstes durchsucht, wird man den Jakobiner, den Verfechter der Regierung in ihnen finden, der sich zwar in eine ganz dunkle Ecke verkriecht und sehr bescheiden geworden, aber dennoch nicht ganz tot ist.
Übrigens war die Lage der kleinen Anzahl überzeugter Sozialisten und Anarchisten, welche sich in der Kommune befand, äußerst schwierig. Sie fühlten sich nicht genügend durch die große Masse der Pariser Bevölkerung unterstützt. Die Organisation der "Internationalen Arbeiterassoziation", welche aber sehr unvollkommen war, umfaßte kaum einige tausend Menschen: und so mußten sie tagtäglich gegen die jakobinistische Mehrheit ankämpfen. Und noch dazu unter welchen Umständen! Sie mußten einigen hunderttausenden von Arbeitern Arbeit und Brot verschaffen, mußten dieselben organisieren und bewaffnen — und zu gleicher Zeit mußten sie die reaktionären Umtriebe bewachen, in einer Stadt wie Paris, belagert, vom Hunger bedroht, und allen schmutzigen Angriffen der Reaktion ausgesetzt, die sich mit der gnädigen Erlaubnis der preußischen Sieger in Versailles festsetzen konnten. Sie waren gezwungen, der Versailler Regierung und Armee eine revolutionäre Regierung und Armee entgegenzustellen, das heißt, um die monarchistische und klerikale Reaktion zu bekämpfen, mußten sie selber die ersten Bedingungen des revolutionären Sozialismus vergessen und verletzen und sich als jakobinistische Reaktion organisieren.
Ist es nicht begreiflich, daß unter diesen Umständen die Jakobiner, die die stärkeren waren, da sie die Mehrzahl in der Kommune bildeten, und die außerdem die politische Verschlagenheit, die Tradition und Erfahrung in der Organisation der Regierung in viel höherem Maße besaßen, einen riesigen Vorteil über die wenigen echten Sozialisten hatten? Worüber man sich wundern muß, ist, daß sie diesen Umstand nicht viel mehr ausgenützt haben, daß sie dem Aufstand von Paris nicht einen ausschließlich jakobinistischen Charakter gaben, sondern sich im Gegenteil in eine soziale Revolution hineinreißen ließen.
Ich weiß, daß viele Sozialisten, äußerst konsequent in ihren Theorien, unseren Pariser Genossen vorwerfen, daß sie in ihrem revolutionären Handeln sich nicht genügend sozialistisch gezeigt haben; während die Kläffer der Bourgeoispresse sie im Gegenteil dessen anklagen, sich ihrem sozialistischen Programm nur allzu treu gezeigt zu haben.
Lassen wir für den Moment letztere elenden Denunzianten bei Seite; ich will den strengen Theoretikern der Befreiung der Arbeiterschaft zeigen, daß sie ungerecht gegen unsere Brüder von Paris sind; denn zwischen den besten Theorien und ihrer praktischen Verwirklichung gibt es einen riesigen Abstand, den man nicht in ein paar Tagen überschreiten kann. Wer das Glück hatte, z.B. unseren Freund Varlin zu kennen — um nur jenen zu nennen, dessen Tod gewiß ist — der weiß, wie mächtig, wohl durchdacht und tief in ihm und seinen Freunden die Überzeugung des Sozialismus war. Es waren Männer, deren Begeisterung, Aufopferung und Redlichkeit niemand, der sie kannte, bezweifeln konnte. Aber gerade deshalb, weil es redliche Menschen waren, waren sie voller Mißtrauen gegen sich selber, gegenüber der Riesenarbeit, welcher sie ihre Gedanken und ihr Leben geweiht: sie rechneten sich selbst für so wenig an! Sie hatten überdies die richtige Überzeugung, daß in der sozialen Revolution — welche in diesem, wie in allem anderen gerade das Gegenteil der politischen Revolution ist — die Taten der einzelnen führenden Persönlichkeiten beinahe verschwinden und die selbständige, unvermittelte Betätigung der Volksmassen alles sein müsse. Das Einzige, was jene Einzelnen tun können, sei, daß sie die Ideen, welche den Bedürfnissen und Bestrebungen des Volkes entsprechen, ausarbeiten, klarer machen und verbreiten und daß sie durch unermüdliche Arbeit zur revolutionären Organisierung der natürlichen Kräfte des Volkes beitragen — aber nichts weiter. Alles übrige muß und kann nur durch das Volk selbst vollbracht werden. Sonst würde man zur politischen Diktatur gelangen, das heißt zur Wiederaufrichtung des Staates, der Vorrechte, der Ungleichheiten, aller Bedrückungen des Staates, und man würde auf einem langen, aber unfehlbaren Umweg die politische, soziale und wirtschaftliche Sklaverei wieder herstellen.
Varlin und alle seine Freunde, wie alle aufrichtigen Sozialisten, und wie im allgemeinen alle Arbeiter, die im Volke geboren und aufgewachsen sind, teilten im höchsten Maße diese vollkommen begründete Angst vor der fortgesetzten Initiative der selben Menschen, vor der Herrschaft der hervorragenden Persönlichkeiten: und da sie vor allen Dingen gerecht waren, kehrten sie diese Angst, dieses Mißtrauen ebenso gegen sich selbst, als gegen andere.
Im Gegenteil zu jener, meiner Ansicht nach, vollkommen falschen Idee der Sozialdemokraten, daß eine Diktatur (unumschränkte Herrschaft einzelner Menschen) oder eine konstituierende Versammlung (Parlament) — welche aus einer politischen Revolution hervorgegangen sind — die soziale Revolution durch Gesetze und Verordnungen aussprechen und organisieren kann, waren unsere Freunde, die revolutionären Sozialisten von Paris, überzeugt, daß dieselbe nur durch die selbständige und fortwährende Betätigung der Massen, der Gruppen und Vereinigungen des Volkes entstehen und sich voll entwickeln kann.
Unsere Pariser Freunde hatten tausendmal Recht. Denn wahrlich, wo ist der Kopf, sei er noch so genial — oder, wenn man von kollektiver Diktatur einer gewählten Versammlung spricht, bestünde sie auch aus mehreren Hundert außergewöhnlich begabten Menschen: wo ist der Verstand, der mächtig und umfassend genug ist, um die unendliche Anzahl und Mannigfaltigkeit der wahren Interessen, der Bestrebungen, der Willen und Bedürfnisse zu umfassen, deren Summe den kollektiven Willen des Volkes ausmacht? Und wer könnte eine gesellschaftliche Organisation erfinden, welche jeden Menschen befriedigen könnte? Eine solche Organisation wäre nie etwas anderes als eine Folterbank, auf welcher die mehr oder weniger offenkundige Gewalt des Staates die unglückliche Gesellschaft spannen würde. Dies ist bis jetzt immer geschehen; und die soziale Revolution muß gerade diesem veralteten System der Organisation ein Ende machen. Die soziale Revolution muß den Volksmassen, den Gruppen, den Gemeinden, den Vereinigungen, sogar den einzelnen Menschen ihre volle Freiheit wiedergeben, indem sie ein für allemal die Ursache aller Gewalttätigkeit, nämlich die politische Macht und das Bestehen des Staates selbst beseitigt. Der Fall des Staates muß das Verschwinden aller Ungesetzlichkeiten des gesetzlichen Rechtes, aller Lügen der verschiedenen Religionen mit sich ziehen; denn das Recht und die Religion waren immer nur die erzwungene Bestätigung und Verstärkung aller Gewalttaten, welche vom Staate vertreten, geschützt und privilegiert sind.
Es ist klar, daß die Freiheit nur dann der Menschheit zurück gegeben werden kann, und daß die wahren Interessen der Gesellschaft, aller Gruppen, aller lokalen Organisationen, sowie aller einzelnen Menschen nur dann wahrhaft befriedigt werden können, wenn es keine Staaten mehr gibt. Alle die sogenannten "allgemeinen Interessen der Gesellschaft", welche angeblich vom Staate vertreten werden, sind in Wirklichkeit nichts anderes, als die allgemeine und fortwährende Unterdrückung der wahren Interessen der Bezirke, Gemeinden, Vereinigungen und des größten Teiles der einzelnen Menschen, die dem Staate unterworfen sind. Sie sind eine Einbildung, eine abstrakte Idee, eine Lüge: der Staat gleicht einem riesigen Schlachthaus oder einem Friedhof, wo im Schatten und unter dem Vorwande dieser Idee der allgemeinen Interessenvertretung durch den Staat, alle wahren Bestrebungen, alle lebendigen Kräfte eines Landes sich als willige Opfer hinschlachten lassen. Aber eine abstrakte Idee kann nie für sich selbst und durch sich selbst bestehen. Sie hat keine Füße zum gehen, keine Arme zum schaffen, keinen Magen um diese Menge von Opfern zu verdauen. So wie die religiöse Idee, Gott, in Wirklichkeit die sehr handgreiflichen und wahren Interessen einer privilegierten Klasse, der Geistlichkeit vertritt: so vertritt die irdische Ergänzung der Gottesidee, der Staat (die politische Abstraktion), die ebenso wirklichen und handgreiflichen Interessen jener Klasse, welche heute die hauptsächlichste und beinahe ausschließlich ausbeuterische Klasse ist, die alle anderen zu verschlingen trachtet — nämlich der Bourgeoisie. Die Priesterschaft zerfällt immer mehr in eine sehr reiche und sehr mächtige Minorität und eine sehr untergeordnete und ziemlich ärmliche Majorität. Ebenso die Bourgeoisie; ihre politischen und sozialen Organisationen in der Industrie, der Landwirtschaft, den Banken und dem Handel, sowie in der administrativen finanziellen, gerichtlichen, erzieherischen, polizeilichen und militärischen Tätigkeit des Staates, spalten sich jeden Tag mehr in eine wirklich herrschende Oligarchie und eine unzählige Masse von mehr oder weniger eitlen und zu Grunde gegangenen Geschöpfen, die in einer fortwährenden Illusion leben, durch die unwiderstehliche Kraft der wirtschaftlichen Entwicklung unvermeidlich und immer mehr in das Proletariat hinabgerissen werden und gezwungen sind, der allmächtigen Oligarchie als blinde Werkzeuge zu dienen.
Die Abschaffung der Kirche und des Staates muß die erste und unentbehrliche Vorbedingung zur wahren Befreiung der Gesellschaft sein. Erst danach kann und muß sie sich auf eine andere Art organisieren; aber nicht von oben nach unten, nach einem mehr oder weniger schönen Plan einiger Weisen oder Gelehrten, oder, Kraft der Verordnungen einer herrschenden Gewalt, oder einem durch allgemeines Stimmrecht erwählten Parlament. Ein solches Vorgehen würde unvermeidlich zur Schaffung einer neuen Regierungsaristokratie führen: das heißt einer Klasse von Menschen, die nichts mit dem Volke gemein hat. Und diese Klasse würde das Volk unter dein Vorwande des allgemeinen Wohls oder um ihren neuen Staat zu retten, unfehlbar aufs neue ausbeuten und unterdrücken.
Die gesellschaftliche Organisation der Zukunft darf und kann nur von unten nach oben entstehen, durch die freie Vereinigung und Föderation der Arbeiter, in Gruppen, Verbände und Gemeinschaften, welche sich wiederum in Bezirken, Gemeinden, Völkergemeinschaften vereinigen und schließlich eine große allgemeine, internationale Föderation bilden. Nur dann wird sich die wahre und belebende Ordnung der Freiheit und des Glückes für Alle verwirklichen, jene Ordnung, welche den Interessen der einzelnen Menschen und der Gesellschaft nicht entgegengesetzt ist, sondern im Gegenteil dieselbe fördert und miteinander in Einklang bringt.
Man sagt, daß die Übereinstimmung und die allgemeine Solidarität zwischen den Interessen der Individuen und der Gesellschaft sich nie im Leben verwirklichen kann, weil diese Interessen mit einander im Gegensatz stehen und sich nie von selbst im Gleichgewicht erhalten oder sich irgendwie verständigen können. Auf diese Einwendung antworte ich, daß, wenn bis jetzt die Interessen niemals und nirgends in Harmonie waren, dies die Schuld des Staates ist, der die Interessen der Mehrzahl der Menschen dem Nutzen einer kleinen privilegierten Minderheit geopfert hat. Deshalb ist dieser oft angeführte Gegensatz und Kampf der persönlichen Interessen mit den Interessen der Gesellschaft nur ein Betrug und eine politische Lüge — entstanden aus der religiösen, theologischen Lüge, welche auch das Dogma vom ersten Sündenfall erfand, um den Menschen zu erniedrigen und das Bewußtsein seines eigenen Wertes in ihm zu zerstören. Dieselbe falche Idee von dem Gegensatz der Interessen wurde auch durch die Spekulationen der metaphysischen Philosophie hervorgebracht, welche ja der Theologie nahe verwandt ist. Die Metaphysik übersah die Tatsache, daß der Mensch ein gesellschaftliches Wesen ist, und betrachtete die Gesellschaft als eine mechanische und ganz künstliche Anhäufung von einzelnen Menschen, die sich plötzlich vereinigten, indem sie aus freiem Willen oder unter dem Einfluß irgend einer höheren Macht, einen feierlichen oder geheimen Vertrag untereinander schlossen. Ehe sie sich zu einer Gesellschaft vereinigten, hätten diese Menschen, mit einer Art unsterblichen Seele verschen, in angeblich unumschränkter Freiheit gelebt.
Wenn aber die Metaphysiker behaupten, daß die Menschen, besonders jene, welche an die Unsterblichkeit der Seele glauben, außerhalb der Gesellschaft vollkommen freie Wesen sind, so folgt daraus unvermeidlich, daß sich dieselben nur unter der Bedingung in Gesellschaften vereinigen können, daß sie ihre Freiheit und ihre natürliche Unabhängigkeit verleugnen und ihre Interessen — zuerst die persönlichen, dann die lokalen Interessen — aufopfern. Diese Verleugnung und Aufopferung des eigenen Selbst wäre naturgemäß desto zwingender, je größer die Gesellschaft und je verwickelter ihre Organisation ist. Von diesem Standpunkte aus betrachtet, ist der Staat der Ausdruck des individuellen Opfers, das alle zu bringen hatten. In dieser abstrakten und dennoch gewalttägigen Form hindert er natürlich immer mehr und mehr die persönliche Freiheit im Namen jener Lüge, welche man das "Allgemeine Wohl" nennt, obgleich dieselbe unverkennbar immer nur ausschließlich die Interessen einer herrschenden Klasse vertritt. So erscheint uns der Staat, nach dieser Auffassung, als eine unvermeidliche Verneinung und Vernichtung aller Freiheit, aller persönlichen, individuellen sowohl, als allgemeinen Interessen.
Wie man sieht, verknüpft und erklärt sich in den metaphysischen und theologischen Systemen alles von selbst. Deshalb können und müssen sogar die Verteidiger dieser Systeme mit ruhigem Gewissen die Volksmassen durch die Kirche und den Staat ausbeuten. Indem sie ihre Taschen füllen und alle ihre schmutzigen Gelüste befriedigen, können sie sich zur selben Zeit mit dem Gedanken beruhigen, daß sie für die Ehre Gottes, den Triumph der Zivilisation und das ewige Wohl des Proletariats arbeiten.
Aber wir Anarchisten, die weder an Gott noch an die Unsterblichkeit der Seele, noch an den freien Willen glauben, wir sagen, daß die Freiheit in ihrem vollsten Sinne als das Ziel des menschlichen Fortschrittes aufgefaßt werden muß. Unsere "idealistischen" Gegner, die Theologen und Metaphysiker, nehmen die abstrakte "Freiheit" als Grundlage ihrer Theorien und ziehen daraus dann ganz bequem die Schlußfolgerung, daß die Sklaverei der Menschen unentbehrlich sei. Wir, die in unserer naturwissenschaftlichen Anschauung Materialisten sind, sind in der Praxis bestrebt, einem vernünftigen und edlen Idealismus zum Siege zu verhelfen. Wir sind überzeugt davon, daß der ganze Reichtum der intellektuellen, moralischen und materiellen Entwicklung der Menschheit, sowie auch seine scheinbare Unabhängigkeit — daß all dies dadurch entstanden ist, daß der Mensch in Gesellschaften zusammenlebt. Außerhalb der Gesellschaft wäre der Mensch nicht nur nicht frei gewesen, sondern hätte sich gar nicht zum wahren Menschen entwickeln können; das heißt zu einem Wesen, welches sich seiner selbst bewußt ist, welches denken und sprechen kann. Das gemeinsame Denken und die gemeinsame Arbeit allein waren fähig, den Menschen aus dem tierischen Zustand emporzuheben. Wir sind vollkommen überzeugt davon, daß das ganze Leben des Menschen — seine Interessen, Bestrebungen, Bedürfnisse, Träume, sogar seine Dummheiten; sowie die Gewalttätigkeiten, Ungerechtigkeiten und alle Handlungen, welche scheinbar vom freien Willen abhängen — daß all dies nur die unvermeidlichen Folgen der Kräfte sind, die sich im gesellschaftlichen Leben betätigen. Die Menschen sind nicht unabhängig von einander, sondern beeinflußen sich gegenseitig und stehen mit einander und mit der sie umgebenden Natur in fortwährenden Wechselbeziehungen.
In der Natur selbst vollzieht sich dieses wunderbare Zusammenwirken und Ineinandergreifen der Geschehnisse keineswegs ohne Kampf. Im Gegenteil, die Harmonie der Natufkräfte ist nur das Ergebnis dieses fortwährenden Kampfes, welcher die Bedingung alles Lebens und aller Bewegung ist. In der Natur und in der Gesellschaft Ist die Ordnung ohne Kampf gleichbedeutend mit dem Tod.
Wenn im Weltall die Ordnung naturgemäß und möglich ist, so ist dies gerade deshalb der Fall, weil dieses Weltall nicht durch ein vorher ausgedachtes und durch einen höheren Willen aufgezwungenes System regiert wird. Die jüdisch-religiöse Einbildung einer göttlichen Gesetzgebung führt zu Unsinn sondergleichen, und zur Verneinung aller Ordnung und der Natur selbst. Die Naturgesetze sind nur so weit wahr, so weit sie ein Ziel der Natur selber sind, das heißt durch keinerlei äußere Autorität bestimmt werden. Diese "Gesetze" sind nichts anderes, als die fortwährende, sichtbare Betätigung der Naturkräfte, die fortwährende Anpassung in der Entwicklung der Dinge und im Zusammenwirken dieser unendlich verschiedenen, vorübergehenden aber wirklichen Tatsachen. Die Summe von all diesem ist das, was wir "Natur" nennen. Das Denken des Menschen und seine Wissenschaft beobachteten diese Tatsachen, kontrollierten sie und experimentierten mit ihnen, und schließlich vereinigten sie dieselben in ein System und nannten die einzelnen Teile derselben Gesetze. Aber die Natur selbst kennt keine Gesetze. Sie handelt unbewußt, zeigt in sich selbst die unendliche Verschiedenheit der notwendigerweise erscheinenden und sich wiederholenden Tatsachen. Dies ist der Grund, wodurch dank dieser Unvermeidlichkeit der Geschehnisse, die allgemeine Ordnung bestehen kann und tatsächlich besteht.
Diese Ordnung erscheint aber auch in der menschlichen Gesellschaft, welche zwar dem Schein nach sich sozusagen gegen die Natur entwickelt, aber in Wahrheit sich in den Gang der natürlichen und unvermeidlichen Ordnung der Dinge einfügt. Nur die Herrschaft des Menschen über die übrigen Tiere und seine hochentwickelte Denkfähigkeit brachten in seine Entwickhing einen besonderen Zug hinein — welcher, nebenbei gesagt, ganz natürlich ist, da ja der Mensch, wie alles Bestehende, das materielle Ergebnis des Zusammenwirkens und der Vereinigung der Kräfte ist. Dieser besondere Zug ist das berechnende Denken, die Fähigkeit der Verallgemeinerung und Abstraktion, durch welche der Mensch durch seine Gedanken sich nach außen versetzen und so sich selbst wie einen äußeren und fremden Gegenstand beobachten und untersuchen kann. Indem er sich so in Gedanken über sich selbst und über die ihn umgebende Welt erhebt, kommt er zur Idee der vollständigen Abstraktion, des reinen Nichts. Und diese Idee des Absoluten ist nichts anderes, als die eigene Fähigkeit des Menschen zum abstrakten Denken welche auf alles Bestehende herabblickt und in der vollständigen Verleugnung von Allem ihre Ruhe findet. Dies ist schon die letzte Grenze der höchsten Abstraktion des Gedankens, dies ist Gott.
Dies ist der Sinn und die historische Begründung jeder theologischen und religiösen Doktrin. Die Menschen verstanden die Natur und den materiellen Grund ihrer eigenen Gedanken nicht, sie waren sich gar nicht der natürlichen Umstände und Kräfte bewußt, welche ihnen eigentümlich waren; und so konnten diese ersten Menschen und Gesellschaften nicht einmal ahnen, daß ihre abstrakten Ideen nichts anderes waren, als ihre eigene Fähigkeit zum abstrakten Denken. Deshalb betrachteten sie dieselben als etwas wirklich Vorhandenes, wovor die Natur selbst in nichts versinkt. Dann fingen sie an, diese unwirklichen Einbildungen anzubeten und ihnen allerlei Ehren zu erweisen. So wurde es aber notwendig, diese abstrakte Idee des sinnlich nicht Wahrnehmbaren, eines Gottes, sich irgendwie vorzustellen und begreiflich zu machen; deshalb erweiterten sie diese Gottesidee und überhäuften sie nach und nach mit allen Kräften und Eigenschaften, guten und schlechten, die sie nur in der Natur und der menschlichen Gesellschaft finden konnten. Dies war der Ursprung und die Entwicklung aller Religionen, von der Fetischanbetung angefangen bis zum Christentum.
Wir wollen hier nicht die Geschichte der religiösen, theologischen und metaphysischen Unsinnigkeiten untersuchen und von den aufeinander folgenden göttlichen Inkarnationen und Visionen sprechen welche von den Jahrhunderten menschlicher Unwissenheit hervorgebracht wurden. Jedermann weiß, daß aus diesem Aberglauben immer die gräßlichsten Leiden entstanden sind, daß Ströme von Blut und Trauer sie begleitet haben. Wir wollen nur sagen, daß all diese schrecklichen Verirrungen der armen Menschheit im Wachstum und der Entwicklung der gesellschaftlichen Organisation unvermeidlich waren. Sie waren die notwendige Folge jener alles beherrschenden Idee, daß das Weltall von einer übernatürlichen Kraft, einem übernatürlichen Willen regiert wird. Jahrhundert folgte auf Jahrhundert und die Menschen gewöhnten sich so sehr an diesen Glauben, daß derselbe schließlich jede Bestrebung zu einem höheren Fortschritt und jede Fähigkeit dazu ertötete.
Die Herrschsucht einiger Menschen, dann einer gesellschaftlichen Klasse, stellte als Grundprinzip der Gesellschaft die Sklaverei und die Eroberung auf und befestigte, mehr wie alles andere, diesen fürchterlichen Glauben an ein göttliches Wesen. Dadurch konnte keine Gesellschaftsordnung bestehen, deren Grundlagen nicht die Kirche und der Staat waren. Diese beiden Gewaltseinrichtungen der Gesellschaft werden von allen Doktrinären verteidigt.
Mit der Entstehung dieser zwei Einrichtungen entstanden die herrschenden Klassen der Priester und Aristokraten, deren erste Sorge es war, dem versklavten Volk die Unentbehrlichkeit, den Nutzen und die Heiligkeit der Kirche und des Staates so recht ins Blut einzuimpfen. All dies hatte den Zweck, die rohe gewaltsame Sklaverei in eine gesetzliche, vom Willen des höchsten Wesens vorausbestimmte und gutgeheißene Sklaverei umzuwandeln.
Aber glaubten die Priester und Aristokraten wirklich aufrichtig an diese Einrichtungen, welche sie mit aller Gewalt, zu ihrem eigenen Nutzen, aufrechterhielten? Oder waren sie bloß Lügner und Betrüger? Nein, ich glaube, daß sie zu gleicher Zeit Gläubige und Betrüger waren.
Auch sie glaubten, denn sie teilten natürlich die Irrtümer der Massen; und nur später, zur Zeit des Niederganges der alten Welt, wurden sie ungläubige und schamlose Betrüger. Auch die Gründer der Staaten können wir als aufrichtige Leute ansehen. Der Mensch glaubt immer leicht an das, was er wünscht und was seinen Interessen nicht zuwiderläuft. Ob er intelligent und gebildet ist, bleibt sich gleich: Durch seine Eigenliebe und seinen Wunsch, mit seinen Mitmenschen zu leben und aus ihrer Achtung Nutzen zu ziehen, wird er immer daran glauben, was ihm angenehm und nützlich ist. Ich bin z.B. davon überzeugt, daß Thiers und die Versailler Regierung sich mit aller Gewalt einzureden versuchten, daß, indem sie in Paris einige Tausend Männer, Frauen und Kinder töten ließen, sie dadurch Frankreich retteten.
Wenn aber auch die Priester, Wahrsager, Aristokraten und Bourgeois in alten und neuenZeiten ehrlich glauben konnten, so waren sie trotzdem immer Schmarotzer. Man kann auch nicht annehmen, daß sie an jeden Unsinn der Religion und Politik geglaubt haben, den sie den Massen lehrten. Ich spreche nicht einmal von den Zeiten, wo "zwei Auguren (6) sich nicht ins Auge schauen konnten, ohne zu lachen". Auch zu Zeiten der allgemeinen Unwissenheit und des Aberglaubens ist es schwer, anzunehmen, daß die Erfinder der täglich sich wiederholenden Wunder von der Wahrheit überzeugt waren. Dasselbe kann man von der Politik sagen, in welcher die Regel gilt: "Man muß das Volk auf die Art unterdrücken und ausbeuten, daß es sich nicht zu sehr über sein Los beklagt, daß es nicht vergißt, sich zu unterwerfen und keine Zeit hat an Widerstand und Empörung zu denken".
Wie kann man danach sich denken, daß die Leute, die aus der Politik ein Gewerbe gemacht haben, und deren Ziel — welches die Ungerechtigkeit, die Gewalttätigkeit, die Lüge, der Verrat, der vereinzelte und der massenhafte Mord ist — kennen, aufrichtig daran glauben, daß die Weisheit und die Regierungskunst des Staates fähig ist, das allgemeine Glück zu verwirklichen? Trotz all ihrer Grausamkeit können sie nicht so dumm sein. Kirche und Staat waren zu allen Zeiten die großen Schulen aller Laster. Die Geschichte bezeugt ihre Verbrechen; immer und überall waren Priester und Staatsmann die bewußten, systematischen, unnachgiebigen blutdürstigen Feinde und Henker der Völker.
Wie können wir aber zwei scheinbar so entgegengesetzte Sachen, wie Betrüger und Betrogene, Lügner und Gläubige mit einander vereinbaren? In Gedanken erscheint das schwer; im Leben aber findet man diese Eigenschaften oft zusammen. Die riesige Mehrheit der Menschen lebt im Widerspruche mit sich selber und unter fortwährenden Mißverständnissen. Sie merken es gewöhnlich nicht, bis nicht irgend ein außergewöhnliches Ereignis sie aus ihrer gewohnten Schläfrigkeit weckt und sie zwingt, sich selbst und ihre Umgebung ein wenig zu betrachten.
In der Politik wie in der Religion sind die Menschen bloße Maschinen in den Händen der Ausbeuter. Aber Diebe und Bestohlene, Bedrücker und Unterdrückte, leben Seite an Seite, regiert von einer Handvoll Leuten, in denen man die wahren Ausbeuter sehen muß. Es sind immer dieselben Menschen, die, selbst frei von allen politischen und religiösen Vorurteilen, die übrigen Menschen bewußt quälen und bedrücken. Im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert bis zum Ausbruch der großen Revolution, sowie heute, befehlen sie in Europa und tun, was sie wollen. Wir dürfen aber hoffen, daß ihre Herrschaft nicht mehr lange dauern wird.
Während die Geschichte uns lehrt, die obersten Herrscher der Kirche mit vollem Bewußtsein das Volk betrügen und ins Verderben führen. sind ihre Diener, die Kreaturen von Kirche und Staat mit Eifer bestrebt, die Heiligkeit und Unantastbarkeit dieser fluchwürdigen Einrichtungen aufrecht zu erhalten. Die Kirche ist nach dem Ausspruch der Priester und der meisten Staatsmänner notwendig zum Seelenheil der Menschen; und ebenso ist, nach ihnen, der Staat zur Erhaltung des Friedens, der Ordnung, der Gerechtigkeit unentbehrlich. Und die Doktrinäre aller Schulen rufen im Chor: "Ohne Kirche oder Regierung gibt es keinen Fortschritt und keine Zivilisation."
Wir haben nichts über das Problem des himmlischen Jenseits zu sagen, da wir nicht an eine unsterbliche Seele glauben. Aber wir sind überzeugt, daß für die Menschheit, die Wahrheit, den Fortschritt nichts so gefährlich ist, als die Kirche. Wie könnte es anders sein? Ist es nicht die Kirche, die die Aufgabe hat, die Jugend, besonders die Frauen geistig zu betäuben? Ist es nicht sie, die mit ihren Dogmen das vernünftige Denken und die Wissenschaft tötet? Erniedrigt sie nicht die Würde des Menschen, indem sie seine Ideen über Recht und Gerechtigkeit verwirrt? Ist nicht sie es, die die ewige Sklaverei der Massen zum Nutzen der Herrschenden und Ausbeuter predigt? Ist nicht sie es, die das heutige Reich der Dunkelheit, von Unwissenheit, Elend und Verbrechen verewigen will?
Wenn der Fortschritt unserer Zeit kein leerer Traum ist, muß er zuerst die Kirche aus dem Wege räumen!
Fußnoten:
1.) In der vorliegenden Abhandlung nennt Bakunin (dem Sprachgebrauch seiner Zeit gemußt die Anhänger jener Richtung, die wir jetzt als Anarchismus bezeichnen, "socialistes ou collectivistes révolutionnaires", die der entgegengesetzten Richtung hingegen, die der jetzigen Sozialdemokratie entspricht, "communistes autoritaires". Um die Begriffe nicht zu verwirren, wenden wir in der Übersetzung die allgemein verständlichen und heute landläufigen Namen: Anarchisten für die ersteren, Sozialdemokraten für die letzteren an. Die Red.
2.) Bakunin hat die vorliegende Schrift im Sommer 1871 verfaßt; würde er heute leben und die heutige Sozialdemokratie international kennen lernen, so würde er diesen Satz nicht mehr schreiben. Die Sozialdemokratie hat nämlich ihr ehemaliges Ziel, Einführung einer neuen Gesellschaftsordnung, vollständig aufgegeben und ist die Partei bürgerlicher Sozialreform und Anpassung an die bestehende Gesellschaftsordnung, Einfügung in dieselbe, durch Ausnutzung ihrer politischen Beutemöglichkeiten, geworden. Die Red.
3.) Statt des Wortes "Proudhonismus", das Bakunin gebraucht, stellen wir in die vorliegende Übersetzung dasjenige, was Bakunin wirklich meinte, nämlich den kommunistischen Anarchismus. Im übrigen ist der Proudhonismus der kollektivistische Anarchismus und bekämpfte den Kommunismus nur in seiner autoritären Staatsform. Die Red
?) Und auch der jeder Politik von Grund aus feindliche Geist der slavischen Völker. Bakunin.
4.) Die Jakobiner (sogenannt nach dem Dominikanerkloster St. Jakob, wo sie ihre Versammlungen hielten), waren die bürgerlich-republikanische Partei der großen französischen Revolution (1789-1795), die Verfechter der starren Zentralisation und der Allmacht des demokratischen Staates mit stark sozialistischem Einschlag. Nach ihnen werden noch jetzt die Anhänger jener Bestrebungen genannt, welche de gesellschaftlichen Zustände durch die Änderung der Form der Herrschaft des Staates, durch Gesetze und Verordnungen einer revolutionären Regierung ändern zu können glauben. Anm. d. Red.
5.) Wir ersuchen den Leser, diesen Teil der Abhandlung sehr achtsam zu lesen, denn in ihm finden wir die Psychologie der heutigen Sozialdemokratie
6.) Im alten Rom die Mitglieder eines Priesterkollegiums, die den Schwindel der Wahrsagerei betrieben. Die Red.
Aus: "Wohlstand für Alle", 2. Jahrgang, Nr. 6 (1909). Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ae zu ä, That zu Tat, Michael Bakunin zu Michail Bakunin usw.) von www.anarchismus.at.