Michail Bakunin (1814-1876)

Lebensdaten

Michail Bakunin wurde am 30. Mai 1814 als Sohn einer zum kleinen Landadel gehörenden Familie auf dem elterlichen Gut von Premukhino in der russischen Provinz Twer geboren. Im Alter von fünfzehn Jahren von seinen Eltern auf die Artillerieschule nach Petersburg geschickt, wird er fünf Jahre später zu einem in Polen stationierten Regiment abkommandiert. Er verzichtet jedoch auf eine militärische Karriere und studiert seit 1838 in Moskau Philosophie. Fichte, Hegel und Schelling beeindrucken ihn stark; zu seinem Bekanntenkreis zählen Alexander Herzen und Belinski.

Im Sommer 1840 geht Bakunin zur Fortsetzung seines Studiums nach Berlin. Hier wird er, unter dem Einfluß Feuerbachs und der „Junghegelianer“, Materialist und Revolutionär. Er siedelt dann zu Arnold Ruge nach Dresden über und im Oktober 1842 erscheint in Ruges „Deutschen Jahrbüchern“ unter dem Pseudonym „Jules Elysard“ sein Aufsatz „Die Reaktion in Deutschland“ (s. u.).

Anfang 1843 kommt Bakunin nach Zürich, wo er Wilhelm Weitling kennenlernt. Von den russischen Behörden wird er in Abwesenheit zu unbefristeter Zwangsarbeit verurteilt. 1844 geht er nach Paris; dort intensiver Kontakt mit Proudhon und Bekanntschaft mit Marx. Wegen seiner Aktivität für die Befreiung Polens wird Bakunin Ende 1847 aus Frankreich ausgewiesen, kehrt aber im Februar 1848 nach Ausbruch der Revolution von Brüssel nach Paris zurück. Pfingsten 1848 nimmt er in Prag am dortigen Aufstand, im Juni am „Panslawistischen Kongreß“ teil. Ende 1848 schreibt er seinen „Appell an die Slawen“, in dem er die Untrennbarkeit von nationaler und sozialer Frage betont. [1] An der Seite Richard Wagners (s. u.) beteiligt Bakunin sich im Mai 1849 am Dresdner Aufstand. Er wird in Chemnitz verhaftet, zum Tode verurteilt und nach Begnadigung zu lebenslänglichem Kerker an Österreich ausgeliefert. Auch dort verurteilt man ihn zum Tode, um ihn dann ebenfalls zu lebenslänglichem Kerker zu begnadigen und an Rußland auszuliefern.

Von 18 51 bis 1854 ist Bakunin in der Peter-und-Paul-Festung in Petersburg, anschließend in der Feste Schlüsselburg im Ladoga-See eingekerkert. [2] Nach langwierigen Bemühungen hochgestellter Verwandter kommt er im Frühjahr 1857 nach Tomsk in Westsibirien und zwei Jahre später nach Irkutsk am Baikalsee, wo er in relativer Freiheit lebt. Mitte 1861 gelingt ihm die Flucht nach Nikolajewsk und von dort nach Japan. Über die Vereinigten Staaten erreicht er Ende 1861 London.

Bis 1863 gilt Bakunins Aktivität vor allem der Befreiung Polens. 1864 geht er nach Florenz und gründet dort die erste „Fraternité Internationale“. In Neapel, wo er sich von Oktober 1865 bis September 1867 aufhält, verfaßt er den „Revolutionären Katechismus“ (1866), die „erste Zusammenfassung seiner sozialistischen Ideen, an deren Kern er unverbrüchlich festhielt“ (Max Nettlau). Im September 1867 wird in Genf die internationale „Liga für Friede und Freiheit“ gegründet, deren Zentralkomitee auch Bakunin angehört. Ein Jahr später aber, am 23. September 1868, verlassen Bakunin und seine Sozialrevolutionären Anhänger den zweiten Kongreß der „Liga“ in Bern und brechen endgültig mit dem bürgerlich-demokratischen Radikalismus und dem „Bourgeois–Sozialismus“, der vor der ökonomischen Gleichheit Halt macht. Sie gründen die „Internationale Allianz der Sozialen Demokratie“, deren Zentralbüro in Genf Bakunin selbst leitet. Bereits im Juli 1868 ist er Mitglied der „Internationale“ geworden.

Nach Ablehnung des Ersuchens der „Allianz“ um korporative Aufnahme in die „Internationale“ wird die „Allianz“ im März 1869 als Gesamtorganisation formell aufgelöst; die meisten ihrer Sektionen treten der „Internationale“ als „Allianz“-Sektionen einzeln bei. Genf wird zum Schauplatz heftiger Auseinandersetzungen zwischen der dortigen „Allianz“-Sektion und der dem Londoner „Generalrat“ nahestehenden Sektion der „Internationale“. Auf dem Kongreß der „Internationale“ in Basel im September 1869 kommt es zu einer schwerwiegenden Kontroverse zwischen Marx und Bakunin über die Frage des - von Bakunin prinzipiell abgelehnten - Erbeigentums.

Anfang November 1869 von Genf nach Locarno übergesiedelt, nimmt Bakunin Ende September 1870, in der vergeblichen Hoffnung auf einen revolutionären Volkskrieg der Franzosen, am Aufstand von Lyon teil, nach dessen Scheitern er nach Marseille fliehen kann. Im darauffolgenden Jahr spitzt sich der Konflikt innerhalb der „Internationale“ weiter zu. Im November 1871 fordert die Jura-Föderation in ihrem - von James Guillaume verfaßten - anti-zentralistischen Zirkular von Sonvillier die Beschränkung der Kompetenzen des „Generalrats“ auf die Funktionen eines bloßen Korrespondenzbüros, das heißt die Wiederherstellung der vollen Autonomie der einzelnen Föderationen und Sektionen. Auf dem Kongreß der „Internationale“ in Den Haag Anfang September 1872 werden Bakunin und James Guillaume auf Betreiben von Marx aus der „Internationale“ ausgeschlossen. [3] Unmittelbar nach dem Haager Kongreß konstituiert sich im schweizerischen St. Imier die „Anti-autoritäre Internationale“.

1873 gibt Bakunin seine Mitgliedschaft in der Jura-Föderation und der „Anti-autoritären Internationale“ aus Altersgründen auf. Im August 1874 beteiligt er sich noch an dem sogleich zusammenbrechenden „Aufstand“ von Bologna. Seine letzten Lebensjahre sind überschattet von physischer Erschöpfung und tiefer Resignation angesichts der Enttäuschung aller revolutionären Naherwartungen. Am 15. Februar 1875 schreibt er an Elyseé Reclus: „Ich stimme mit Dir überein zu sagen, daß die Stunde der Revolution vorüber ist, nicht wegen des schrecklichen Unheils, dessen Zeugen wir waren, und der furchtbaren Niederlagen, deren mehr oder weniger schuldige Opfer wir waren, sondern weil ich zu meiner großen Verzweiflung konstatiert habe und täglich von neuem konstatiere, daß der revolutionäre Gedanke, die revolutionäre Hoffnung und Leidenschaft in den Massen sich absolut nicht vorfinden, und wenn sie fehlen, kann man sich die größte Mühe geben, man wird nichts ausrichten. - Ich bewundere die heroische Geduld und Ausdauer der Jurassier und der Belgier - dieser letzten Mohikaner der verstorbenen Internationale - die trotz aller Schwierigkeiten, Widerwärtigkeiten und Hindernisse inmitten allgemeiner Gleichgültigkeit ihre hartnäckige Stirn dem durchaus entgegengesetzten Lauf der Dinge entgegenstellen und ruhig weiterhin dasselbe tun wie vor den Katastrophen, als die Bewegung im Aufstieg war und die geringste Anstrengung eine Kraft schuf.“ [4]

Am 1 Juli 1876 ist Bakunin in Bern gestorben.

Bedeutung und Persönlichkeit

Bakunin hat mit unvergleichlicher Intensität dem emanzipatorischen Impetus des Anarchismus, der radikalen Empörung gegen jede Entmündigung und Entwürdigung des Menschen wie dem Einspruch gegen jede autoritäre Verfälschung des Sozialismus Ausdruck gegeben. Er ist zugleich aber auch der Ahnherr eines ideologischen Absolutismus, der, kurzschlüssig und kurzatmig, alle geschichtlichen Vermittlungen überspringen zu können wähnt und dabei, die wirkliche Revolution verfehlend, nur allzuoft in blind-ohnmächtige Gewalttätigkeit umschlägt - all dessen also, was den sozial-revolutionären Anarchismus immer wieder zum geschichtlichen Scheitern verurteilt hat. Anders gesagt: Bei Bakunin finden sich in unverwechselbarer Größenordnung und unauflöslich ineinander verschränkt sowohl die heilsame wie auch die heillose revolutionäre Ungeduld des Anarchismus.

Die historische Bedeutung Bakunins läßt sich in drei Hauptpunkten zusammenfassen: 1. Bakunin ist der Begründer des kollektivistischen Anarchismus; er geht einen entscheidenden Schritt über die individualistischen Konzeptionen Godwins und Stirners wie auch über den „Mutualismus“ Proudhons hinaus. 2. Vor allem dank Bakunin wurde der Anarchismus zur organisierten sozial-revolutionären Bewegung im internationalen Maßstab. Zumal die anarchistischen Bewegungen Italiens, Spaniens und der lateinamerikanischen Länder verdanken ihm entscheidende Impulse. 3. Bakunin wurde als Repräsentant des antiautoritären Sozialismus innerhalb der (Ersten) „Internationale“ zum großen Antipoden von Marx. Die Auseinandersetzung zwischen beiden führte zum unwiderruflichen Bruch zwischen marxistischem und anarchistischem Sozialismus.

Die unmittelbare geschichtliche Wirksamkeit Bakunins läßt sich nicht trennen von der offensichtlich enormen Ausstrahlungskraft seiner dynamischen und bizarren Persönlichkeit, von der eine ganz ungewöhnliche Faszination und zugleich eine nicht geringere Irritation ausgegangen sein muß. „Alles an ihm war kolossal, mit einer auf primitive Frische deutenden Wucht“, heißt es in Richard Wagners Schilderung seiner ersten Begegnung mit Bakunin im März 1849 in Dresden. Ein Mann von gewaltiger Statur, spontan und offen, aber auch schlau und verschlagen, lebte Bakunin in vieler Beziehung mit der größten Unbefangenheit jenseits der bürgerlichen Konventionen. Seine Unmittelbarkeit und die bezwingende Liebenswürdigkeit, deren er fähig war, nahmen für ihn ein. Sein glühender Idealismus und seine unbedingte Hingabe an die Sache der sozialen Revolution erweckten Bewunderung auch bei Menschen, die sich mit seinen revolutionären Bestrebungen keineswegs identifizierten. Gleichzeitig befremdete, ja erschreckte aber nicht nur sie die ungestüme Bedenkenlosigkeit, mit der Bakunin die radikale Zerstörung des Bestehenden forderte. „Wie an diesen wie an ähnlichen Zügen es sich herausstellte, daß in diesem merkwürdigen Menschen eine völlig kulturfeindliche Wildheit mit der Forderung des reinsten Ideals der Menschlichkeit sich berührte, so waren die Eindrücke meines Umgangs mit ihm schwankend zwischen unwillkürlichem Schrecken und unwiderstehlicher Angezogenheit“, berichtet Wagner. [5]

Kein Zweifel - Bakunin selbst hatte jenen „Teufel im Leib“, von dem er sagt, der wirkliche Revolutionär bedürfe seiner, „um die Menschen aufzurütteln“; er meinte den „Trieb zur Freiheit, die Leidenschaft der Gleichheit, die heilige Empörung.“ [6] Dieser „Teufel im Leib“ drängte ihn immer wieder zur Aktion. Intuition, Impulsivität und Improvisation waren seine Stärke. Der lange Atem systematischer Reflexion ging ihm ebenso ab wie ein situationsgerechter (und doch keineswegs nur „opportunistischer“) Pragmatismus. Seine unermüdliche Aktivität ist imponierend, aber sie hat auch unverkennbar etwas Hektisches, Sprunghaftes und mitunter Unkontrolliertes. Bakunin konnte mitreißen und er ließ sich mitreißen - viel seiner enormen Energie verpuffte in mehr oder minder fruchtlosen, teilweise sogar unsinnigen Unternehmungen. Es fehlten ihm jene Besonnenheit und Geduld, deren es zu einem strategisch-langfristigen, theoretisch fundierten und in der Praxis flexiblen Vorgehen bedarf – „er marschierte mit Siebenmeilenstiefeln über Berge und Meere, über Jahre und Generationen hinweg“ sagt Herzen. Bakunin war stets mehr Agitator als Analytiker, mehr Doktrinär als Theoretiker. Als origineller Denker blieb er sowohl hinter Marx wie auch hinter Proudhon zurück; er hat übrigens die wissenschaftlichen Verdienste des Verfassers des „Kapital“ niemals bestritten. [7] Seine eigenen, durchweg unabgeschlossen gebliebenen größeren Werke sind reich an erhellenden Einsichten und glänzenden Formulierungen, in theoretischer Hinsicht dagegen wenig ertragreich. [8]

Die „qualitative Umwandlung“

Bereits in dem 1842 unter einem Pseudonym in Ruges „Deutschen Jahrbüchern“ erschienenen Aufsatz „Die Reaktion in Deutschland“ findet sich der für Bakunin charakteristische „apokalyptische Ton“ (George Woodcock). Es heißt dort, notwendig sei eine „qualitative Umwandlung, eine neue lebendige und lebendig machende Offenbarung, - ein neuer Himmel und eine neue Erde, eine jugendliche und herrliche Welt, in der alle gegenwärtigen Dissonanzen zur harmonischen Einheit sich auflösen werden.“ [9] Und der Aufsatz schließt mit den Sätzen: „Laßt uns also dem ewigen Geiste vertrauen, der nur deshalb zerstört und vernichtet, weil er der unergründliche und ewig schaffende Quell alles Lebens ist. - Die Lust der Zerstörung ist zugleich eine schaffende Lust.“ [10]

Die „qualitative Umwandlung“ blieb Bakunins Vision und wurde sein konkretes Aktionsprogramm. Das Ziel der „Allianz für die Soziale Demokratie“, sagt er Anfang 1872, sei „nichts geringeres ... als die radikale und unerbittliche Zerstörung der gegenwärtigen sozialen Welt, in ökonomischer wie in religiöser, metaphysischer, politischer, juridischer und bürgerlicher Hinsicht, um alle bestehenden Einrichtungen durch eine von der doppelten Aktion der positiven Wissenschaft einerseits und der spontanen und absolut freien Bewegung der autonomen Assoziation andererseits geschaffene Ordnung zu ersetzen.“ [11] Bakunin glaubte, die „qualitative Umwandlung“ sei in einem einzigen revolutionären Akt zu erreichen - gleichsam als revolutionärer Sprung ins „Reich der Freiheit“. Der Weg in dieses Reich führt durch das Fegefeuer der „schöpferischen“ Destruktion. Der Aspekt eines prozeßhaften, objektiv vermittelten und langfristigen Übergangs von der alten Welt zur neuen, einer evolutionären Umbildung der einen zur anderen, ist ihm fremd. Es gibt für ihn nur die absolute Zäsur, ein kompromißloses tabula rasa - als Sache der kollektiven revolutionären Tat. [12] So schließt Bakunin jede politische Alternative zur unmittelbaren revolutionären Selbstbefreiung der Massen, jede Partizipation an den bestehenden politischen Institutionen, allen Kampf für nur „systemimmanente“ Verbesserungen aus. Er postuliert die „große Verweigerung“, die aktive Verweigerung durch die totale Revolution. In diesem Sinne ist sein revolutionärer und anti-autoritärer Sozialismus, im Gegensatz zu dem von Marx und Engels, dezidiert antipolitisch; ein entscheidendes Moment in der Auseinandersetzung zwischen jenen und ihm innerhalb der „Internationale“.

In „Gott und der Staat“ heißt es, das soziale Leben sei bisher „auf die Gottes Verehrung und nicht auf die Achtung des Menschen gegründet ... auf die Autorität und nicht auf die Freiheit, auf das Vorrecht und nicht auf die Gleichheit, auf die Ausbeutung und nicht auf die Brüderlichkeit der Menschen, auf Unrecht und Lüge und nicht auf Gerechtigkeit und Wahrheit.“ Damit ist das revolutionäre Gesamtprogramm Bakunins umrissen. Die Religion, der Kapitalismus und der Staat sind gemeinsam die großen Entmündiger, Entwürdiger und Ausbeuter der Menschheit und deren volle Autonomie setzt die Abschüttelung dieses dreifachen Joches voraus.

Bakunins anarchistischer Sozialismus ist absoluter, emanzipatorischer und kollektivistischer Humanismus. Er basiert auf der materialistischen Auffassung von der Bedingtheit des Menschen durch die ökonomischen Verhältnisse und fordert die Änderung dieser Verhältnisse im Sinne konkreter, das heißt ökonomischer Gleichheit; dem bürgerlich-demokratischen Radikalismus und dem „Bourgeois-Sozialismus“ wirft Bakunin vor, bei der politischen Gleichheit und beim Privateigentum stehenzubleiben. [13] Die positive Wissenschaft schließlich soll die Basis des Aufbaus der neuen menschlichen Gesellschaft sein, doch lehnt Bakunin die von Comte geforderte Sonderstellung der Wissenschaftler als eine neue Form von Autoritarismus entschieden ab.

Die revolutionäre Selbstbefreiung der Massen von Ausbeutung und Autoritarismus bedurfte, nach Bakunins Auffassung, einer gewissen „Geburtshilfe“. Darum war der Aufbau einer internationalen revolutionären Kaderorganisation notwendig, einer streng hierarchischen Geheimgesellschaft völlig selbstloser und kompromißloser Revolutionäre. Sie sollte zunächst den revolutionären Geist unter den Massen fördern, also die Revolution psychologisch vorbereiten; dann als eine Art „Generalstab“ der Revolution fungieren, um schließlich, post festum, über deren Errungenschaften zu wachen, das heißt: die Entstehung neuer Autoritäten zu verhindern. [14] Bakunin machte kein Hehl daraus, daß es sich dabei um eine „Diktatur“ handeln sollte, freilich eine Diktatur sui generis, nicht im Widerspruch zu der anti-autoritären Zielsetzung der Revolution, sondern dieser dienend. In einem Brief an Albert Richard, vom 1. April 1870 sagt er: „Als unsichtbare Lotsen im Volkssturm müssen wir ihn leiten, nicht durch eine sichtbare Macht, sondern durch die kollektive Diktatur aller Alliierten. Eine Diktatur ohne Schärpe, ohne Titel, ohne offizielles Recht, die desto mächtiger ist, weil sie keinen Anschein der Macht hat. Dies ist die einzige Diktatur, die ich zulasse.“ [15]

Eine „inoffizielle“ und „unsichtbare“, aber nach Bakunins eigenen Worten, gerade darum um so mächtigere kollektive Diktatur eines revolutionären Ordens also. Handelt es sich dabei nicht auch wieder um Autoritarismus - unter „anti-autoritären“ Vorzeichen? Würde sie nicht de facto jene freie Selbstbestimmung der Massen gefährden, die zu sichern ihr Daseinszweck sein soll? Und müßte sie nicht, über kurz oder lang, zwangsläufig auch wieder zu einer „offiziellen“ und „sichtbaren“ Diktatur werden? Gerade ihr zunächst „unsichtbarer“ und „inoffizieller“ Charakter legt solche Befürchtungen nahe. Bakunins so hellsichtiger Argwohn gegen jede Verfestigung und Verselbständigung unkontrollierter Macht zu etablierter Herrschaft müßte sich hier gegen seine eigene Konzeption richten. Heißt es doch in dem von ihm verfaßten „Protest der Allianz“ vom Juli 1871 warnend: „Die besten Männer können leicht korrumpiert werden, besonders wenn das Milieu selbst diese Korruption provoziert, durch den Mangel ernster Kontrolle und beständiger Opposition.“ [16]

Der Kampf in der „Internationale“

Im Herbst 1868 lösten Bakunin und seine Anhänger alle Verbindungen zur bürgerlichen Demokratie und zum „Bourgeois-Sozialismus“ und gründeten eine eigene Sozialrevolutionäre Organisation, die „Internationale Allianz der Sozialen Demokratie“. Bakunin übernahm die Leitung ihres Zentralbüros in Genf. Die „Allianz“ suchte bald um korporative Aufnahme in die „Internationale“ nach, doch wurde dieser Antrag, den Statuten entsprechend, vom „Generalrat“ in London abgelehnt. Daraufhin löste sie sich als Gesamtorganisation formell wieder auf und die meisten ihrer Sektionen traten nun als „Allianz“-Sektionen einzeln der „Internationale“ bei.

Unabhängig davon, ob - wie Marx behauptete - eine zentrale Leitung der „Allianz“ unter Bakunin weiterexistierte oder ob es sich nur um eine Kooperation der „Allianz“-Sektionen innerhalb der „Internationale“ handelte: jedenfalls gelangte Bakunin nun innerhalb der letzteren zu beträchtlichem Einfluß. Und damit begann in den Reihen der „Internationale“ eine Auseinandersetzung, die sowohl ein sachlicher Konflikt wie ein persönlicher Machtkampf war, in der persönliche Rivalität und nationale Animositäten ebenso eine Rolle spielten wie die Unvereinbarkeit zweier Auffassungen über die unmittelbare Zielsetzung der sozialistischen Revolution, die prärevolutionäre Strategie der internationalen Arbeiterbewegung und die Struktur der „Internationale“ selbst. [17]

Nach Bakunin mußte sich die Sozialrevolutionäre Bewegung als prinzipieller Feind „aller bestehenden Einrichtungen“ verstehen. Daraus folgte die Ablehnung jedes, sei es auch nur taktisch motivierten, Kompromisses mit diesen Einrichtungen, speziell den politischen, das heißt parlamentarischen. Während Marx und Engels eine parteipolitisch-parlamentarische Betätigung der Arbeiterbewegung befürworteten, weil sie sie als eine Möglichkeit betrachteten, deren Macht zu mehren (was für sie eine Revolution, zum gegebenen Zeitpunkt, und die Abschaffung jener Institutionen nicht ausschloß), sahen Bakunin und seine Gesinnungsgenossen in einer solchen nichts anderes als eine Anpassung an die bestehende gesellschaftlich-politische Ordnung.

Es war vor allem die Beurteilung des Staates und der Haltung der Sozialrevolutionären Bewegung zu ihm, an der sich in der „Internationale“ die Geister schieden. Marx und Engels vertraten die Auffassung, das Proletariat müsse den bisher den bürgerlichen Klasseninteressen dienenden Staat erobern und zu einem Instrument seines anti-kapitalistischen Klassenkampfes „umfunktionieren“; das heißt, es sollte sich der Staatsmacht bei der Liquidation der Bourgeois-Herrschaft und beim Aufbau der sozialistischen Gesellschaft bedienen, nachdem es sie der Bourgeoisie entrissen hatte. Die endgültige Aufhebung des Staates als gesellschaftliche Organisationsform fiel für Marx und Engels in eine spätere Phase der nachrevolutionären Entwicklung zum Sozialismus, die zu seinem „Absterben“ führen würde. Anders gesagt: Die anti-kapitalistische Revolution war für sie nicht mehr und nicht weniger als die unerläßliche historische Voraussetzung einer späteren anti-etatistischen Evolution. [18]

In Bakunins Schrift „Das Knutogermanische Kaiserreich und die Revolution“ (1870) heißt es demgegenüber: „Das Mittel und die Bedingung der Revolution, wenn nicht ihr Hauptzweck, ist die Vernichtung des Autoritätsprinzips in all seinen möglichen Ausdrucksformen, die vollständige Abschaffung des politischen und juridischen Staates, weil der Staat, der jüngere Bruder der Kirche, wie Proudhon sehr gut bewiesen hat, die geschichtliche Heiligung aller Despotismen, aller Vorrechte, der politische und soziale Urgrund aller wirtschaftlichen und sozialen Knechtungen, das Wesen und der Mittelpunkt der Reaktion ist.“ [19] Und in seinem bereits zitierten Schreiben an die „Internationalisten“ der Romagna vom 23. Januar 1872 sagt Bakunin: „Wir wollen den Wiederaufbau der Gesellschaft und die Konstituierung der Einheit der Menschheit nicht von oben nach unten, durch irgendwelche Autorität und durch sozialistische Beamte, Ingenieure und andere offizielle Gelehrte - sondern von unten nach oben, durch die freie Föderation der von dem Joch des Staates befreiten Arbeiterassoziationen aller Art.“ [20]

So forderten Marx und Engels den Kampf des Proletariats gegen den bürgerlichen Staat als den politischen Überbau der kapitalistischen Gesellschaftsordnung, nicht aber gegen jede Staatsmacht überhaupt. Die sozialistische Revolution sollte unmittelbar „nur“ eine radikal anti-kapitalistische, damit freilich auch der Ausgangspunkt einer neuen gesellschaftlichen Entwicklung sein, die später auch den Staat zum Verschwinden bringen würde. Für Bakunin dagegen fielen Anti-Kapitalismus und Anti-Etatismus in ein und dieselbe Revolution; diese Revolution war nur dann wirklich emanzipatorisch, wenn sie beide Tendenzen einschloß. Die revolutionäre Selbstbefreiung der Massen konnte nicht Befreiung von einer bestimmten historischen und klassenpolitischen Form des Staates und deren Ersetzung durch eine andere, sondern nur Emanzipation vom Staats-Prinzip sein. Das bedeutete die unwiderrufliche Zerschlagung der alten politischen Zentralmacht und gleichzeitig die Verhinderung der Entstehung einer neuen. Die kompromißlose Außerkraftsetzung des Autoritäts-Prinzips durch die Beseitigung seines Inbegriffs, des Staates, war für Bakunin und die anti-autoritären Sozialisten nicht ein evolutionäres Fern-, sondern ein revolutionäres Nahziel: Die Revolution, auf die sie hinarbeiteten, sollte Kapitalismus und Staat, Autoritarismus und Ausbeutung buchstäblich auf einen Schlag vernichten.

Der unüberbrückbare Gegensatz zwischen beiden Konzeptionen fand einen klaren Ausdruck in der dritten Resolution des Kongresses von St. Imier im September 1872, unmittelbar nach dem Ausschluß Bakunins und James Guillaumes aus der „Internationale“. Die „Anti-Autoritären“ erklärten dort, daß „die Zerstörung jeder politischen Macht die erste Pflicht des Proletariats“ sei und daß „jede Organisation einer sogenannten provisorischen und revolutionären Macht, um diese Zerstörung herbeizuführen, nur ein Betrug mehr sein kann und für das Proletariat ebenso gefährlich wäre als alle heute bestehenden Regierungen.“ [21]

Im April 1868 schrieb Bakunin an „La Democratie“ (Genf): „Möge uns also die Zukunft vor der Gunst des Despotismus bewahren, möge sie uns aber retten vor den verderblichen und verdummenden Folgen des autoritären, doktrinären oder Staatssozialismus. Seien wir Sozialisten, aber werden wir nie Herdenvölker. Suchen wir die Gerechtigkeit, die ganze politische, ökonomische und soziale Gerechtigkeit nur auf dem Wege der Freiheit. Es kann nichts Lebendiges und Menschliches außerhalb der Freiheit geben, und ein Sozialismus, der sie aus seiner Mitte verstößt oder der sie nicht als das einzige schöpferische Prinzip und als Grundlage akzeptiert, würde uns ganz direkt zur Sklaverei und zur Bestialität zurückführen.“ [22] Bakunin wurde nicht müde, vor allem die „deutsche Schule“ der Tendenz zur Etablierung eines neuen Autoritätssystems, zu einer neuen Gängelung der Massen und damit der Verfälschung des Sozialismus durch eine faktische Mißachtung des Freiheits-Prinzips zu beschuldigen. [23]

Die Auseinandersetzung innerhalb der „Internationale“ wurde je länger desto mehr auch eine solche über die Struktur der „Internationale“ selbst. Während Marx (in seiner „Confidentiellen Mitteilung“ an Kugelmann vom 28. März 1870) behauptete, Bakunin versuche - mit Hilfe der im geheimen weiterbestehenden Organisation der „Allianz“ - „die Internationale in sein Privatwerkzeug zu verwandeln“, beschuldigte Bakunin seinerseits Marx, den Londoner „Generalrat“ in eine Art „Zentralregierung“ der „Internationale“ umwandeln, deren einzelne Föderationen einem ideologischen und administrativen Zentralismus unterwerfen und der ganzen „Internationale“ die Konzeption der deutschen Kommunisten oktroyieren zu wollen. In der Tat war der von Marx beherrschte „Generalrat“ bestrebt, seine Kompetenzen zu erweitern und die „Internationale“ auf eine einheitliche Doktrin und Strategie festzulegen. Eine solche „Gleichschaltung“ wurde von Bakunin, seinen eigentlichen Anhängern und auch verschiedenen andersgesinnten Mitgliedern der „Internationale“ abgelehnt. Bakunin bestritt, daß die letztere ein einheitliches, für alle ihre Mitglieder verbindliches theoretisches und praktisches Programm, eine „offizielle Lehre“, haben könne oder haben solle. Er machte geltend, der Absolutheitsanspruch einer bestimmten Doktrin innerhalb der „Internationale“ müsse zum Versuch einer ideologischen Zwangsuniformierung führen, der der emanzipatorischen Zielsetzung der Bewegung widerspreche und sie verhängnisvoll schwächen werde. Denn die Stärke der „Internationale“ beruhte, nach Bakunin, gerade nicht auf einer ideologisch-programmatischen Einmütigkeit, sondern auf der praktischen Solidarität ihrer Glieder - und diese werde durch das Monopol einer „offiziellen Doktrin“ in Frage gestellt. [24]

Auf die zentralistisch-dirigistischen Bestrebungen des „Generalrats“ reagierte die anti-autoritäre Jura-Föderation im November 1871 mit einem Schreiben an alle Föderationen der „Internationale“, dessen Verfasser James Guillaume war. In diesem „Zirkular von Sonvillier“ wurde erklärt, der „Generalrat“ sei dabei, sich als „Regierung“ der „Internationale“ zu etablieren und betrachte bereits alle ihm nicht genehmen Meinungen als Ketzerei: „So bildete sich allmählich eine Rechtgläubigkeit heraus, deren Sitz London und deren Vertreter die Mitglieder des Generalrats waren.“ [25] Die Jurassier forderten demgegenüber das unbedingte Festhalten am Prinzip der Autonomie der Föderationen und Sektionen sowie die Reduzierung der Kompetenzen des „Generalrats“ auf die Funktionen eines einfachen Büros für Korrespondenz und Statistik. Die Einheit, die der „Generalrat“ durch „Zentralisation“ und „Diktatur“ herstellen wolle, strebe die Jura-Föderation durch die „freie Föderation der autonomen Gruppen“ an. Programmatisch hieß es abschließend: „Die künftige Gesellschaft soll nichts anderes sein als die allgemeine Durchführung der Organisation, die die Internationale sich gegeben haben wird. Wir müssen also Sorge tragen, diese Organisation so viel als möglich unserem Ideal zu nähern. Wie könnte eine egalitäre und freie Gesellschaft aus einer autoritären Organisation hervorgehen? Das ist unmöglich. Die Internationale, Embryo der künftigen menschlichen Gesellschaft, ist gehalten, schon von jetzt an das treue Bild unserer Grundsätze von Freiheit und Föderation zu sein und jedes der Autorität, der Diktatur zustrebende Prinzip aus ihrer Mitte herauszuwerfen.“ [26]

Die italienische und die spanische Föderation stimmten diesem Zirkular zu, das auch von belgischer Seite unterstützt wurde. Weniger als ein Jahr später, Anfang September 1872, kam es dann in Den Haag zum Bruch zwischen beiden Lagern. Der Antrag der Anti-Autoritären, den „Generalrat“ in ein bloßes Korrespondenzbüro umzuwandeln, verfiel der Ablehnung. Bakunin und James Guillaume wurden aus der „Internationale“ ausgeschlossen. Der „Generalrat“ sollte fortan in New York residieren. Das Ende der „Ersten Internationale“ hatte begonnen. [27]

Fußnoten:

[1] Die drei Hauptpunkte des „Appells“ sind: Ablehnung der westlich-liberalen Demokratie; Befreiung der Slawen; Glaube an die revolutionären Fähigkeiten der Bauern.
[2] In der Peter-und-Paul-Festung schrieb Bakunin sein erst 1921, aus den Archiven des Zarenhofes, veröffentlichtes und seither heftig umstrittenes „Bekenntnis“, in dem er den Zaren um Gnade bat.
[3] In seiner Ausschluß-Kampagne brachte Marx vor allem bestimmte unbürgerliche Lebensgewohnheiten Bakunins, dessen nahezu monomane „Geheimbündelei“ und insbesondere seine unbestreitbare Leichtfertigkeit in der berühmt-berüchtigten „Affäre Netschajew“ vor. - Netschajew, ein fanatischer Revolutionär, der vor keiner Form der Konspiration und des Terrors zurückschreckte, war im März 1869 aus Rußland nach Genf geflohen, wo er alsbald starken Einfluß auf den bisweilen ungemein leichtgläubigen Bakunin gewann. Beide arbeiteten bei der Abfassung revolutionärer Pamphlete für Rußland zusammen, wohin Netschajew Ende August 1869 zur Fortsetzung seiner revolutionären Tätigkeit zurückkehrte. Er gründete eine eigene Geheimorganisation, kam aber Mitte Dezember 1869 wieder in die Schweiz, nachdem er einen ihm als „verdächtig“ geltenden Mitverschworenen, den Studenten Iwanow, ermordet hatte. Bakunin, nun in Locarno, blieb in engem Kontakt mit Netschajew. Er hatte zu dieser Zeit Schwierigkeiten mit dem schweizerischen Vertreter eines russischen Verlages, für den er, aus finanziellen Gründen, eine russische Übersetzung des Marx'schen „Kapital“ übernommen hatte; diesen Kontrakt wünschte er jetzt zu lösen. Netschajew schaltete sich ein und warnte den Verlagsagenten, Bakunin weiter zu bedrängen - anderenfalls ihn die „Rache des Volkes“ treffen werde! Der Drohbrief geriet in Marxens Hände und diente ihm als willkommene Waffe in seinem Kampf gegen Bakunin. Netschajew floh dann aus der Schweiz nach England, unter Mitnahme vertraulicher Dokumente Bakunins. Dieser sagte sich schließlich im Juli 1870 von ihm los, ohne daß das an seiner Kompromittierung durch Netschajew noch viel hätte ändern können. Bei der späteren Verhaftung des letzteren in der Schweiz - von wo er an Rußland ausgeliefert wurde - fand man das Manuskript eines zweiten „Revolutionären Katechismus“, dessen Verfasser entweder Netschajew selbst oder Bakunin war und in dem die Schaffung einer streng zentralistisch-hierarchisch aufgebauten revolutionären Geheimorganisation gefordert wurde, die sich, um der Revolution willen, jedes erdenklichen Mittels bedienen sollte.
[4] Siehe: Michail Bakunin, Gesammelte Werke. Band I, Berlin 1921. Deutsch von Erwin Rholfs; Band II, Berlin 1923, Band III, Berlin 1924; beide ins Deutsche übersetzt von Max Nettlau. A. a. O. III, 272. Am 21. Juni 1876, wenige Tage vor seinem Tode, sagte Bakunin zu seinem alten Mitkämpfer Reichel: „Heute haben die Völker aller Nationen den Instinkt (die Initiative) der Revolution verloren. Sie sind alle mit ihrer Lage zu sehr zufrieden und die Furcht, das, was sie haben, noch zu verlieren, macht sie inoffensiv und untätig. Nein, wenn ich noch ein bißchen Gesundheit wiederfinde, möchte ich eine auf die Prinzipien des Kollektivismus gegründeten Ethik schreiben, ohne philosophische oder religiöse Phrasen.“ (III, 274)
[5] Nach: Hans Gal, Richard Wagner. Versuch einer Würdigung. Frankfurt 1963 (Fischer Bücherei), S. 32.
[6] Nettlau II, 27; 60.
[7] In einem Schreiben an die „Brüder“ der „Allianz der Sozialen Demokratie“ in Spanien sagt Bakunin: „Marx ist kein gewöhnlicher Mensch. Er ist ein überlegener Geist, ein Mann von großer Gelehrtheit, besonders in den ökonomischen Fragen und dazu ein Mann, der nach meiner Kenntnis seit 1845, der Zeit meines ersten Zusammentreffens mit ihm in Paris, stets aufrichtig und voll und ganz der Sache der Befreiung des Proletariats ergeben war, einer Sache, der er unbestreitbare Dienste erwies, die er nie bewußt verriet, die er aber heute ungeheuer kompromittiert durch seine furchtbare Eitelkeit, seinen gehässigen, bösartigen Charakter und seine Tendenz zur Diktatur im Schoß der sozialistischen Partei selbst ... Erkennen wir nur an, daß Marx ein sehr ernster, sehr tiefer ökonomischer Denker ist. Er hat den ungeheuren Vorteil über Proudhon, ein Realist, ein Materialist zu sein ... Marx als Denker ist auf dem richtigen Weg. Er stellte den Grundsatz auf, daß alle religiösen, politischen und juridischen Entwicklungen in der Geschichte nicht Ursachen, sondern Wirkung der ökonomischen Entwicklungen sind. Dies ist ein großer und fruchtbarer Gedanke, den er nicht ganz und gar erfunden hat: er wurde von vielen anderen aus der Ferne gesehen und zum Teil zum Ausdruck gebracht, aber ihm gehört schließlich die Ehre, ihn fest begründet und seinem ganzen ökonomischen System zugrunde gelegt zu haben. Andererseits hatte Proudhon die Freiheit viel besser als er begriffen und gefühlt. Wenn Proudhon sich nicht mit Doktrin und Metaphysik abgab, hatte er den wahren Instinkt des Revolutionärs - er betete Satan an und proklamierte die Anarchie. Es ist leicht möglich, daß Marx sich theoretisch zu einem noch rationelleren System der Freiheit erheben kann als Proudhon, aber Proudhons Instinkt fehlt ihm. Als Deutscher und als Jude ist er von Kopf zu Füßen ein Autoritär.“ (III, 115/16)
[8] Erwähnt seien: „Gott und der Staat“; „Das Knutogermanische Kaiserreich und die Soziale Revolution“ (1870/71); „Staatlichkeit und Anarchie“ (1873; nur russisch).
[9] Siehe jetzt: Michail Bakunin, Philosophie der Tat. Eingeleitet und herausgegeben von Rainer Beer. Köln 1968. S. 66/67.
[10] das. S. 95/96.
[11] An die Mitglieder der „Internationale“ in der Romagna, 23. Januar 1872. (III, 177) Bakunin betont, diese Zielsetzung sei keineswegs für die ganze „Internationale“ verbindlich, sondern nur für die „Allianz“ als ihren schon bewußt revolutionären Kern.
[12] Albert Camus hat, in „L'Homme Revolté“, auf die totalitären Konsequenzen dieses revolutionären Absolutismus hingewiesen: „Bakunin wollte gewiß die totale Freiheit, aber er suchte sie durch die totale Zerstörung hindurch. Alles zerstören heißt, ohne Grundmauern bauen zu wollen; dann muß man die Mauern mit ausgestreckten Armen aufrecht halten. Wer die ganze Vergangenheit verwirft, ohne zu bewahren, was dazu dienen kann, die Revolution mit Leben zu füllen, verurteilt sich dazu, nur in der Zukunft eine Rechtfertigung zu finden, und beauftragt mittlerweile die Polizei mit der Rechtfertigung des Vorläufigen. Bakunin kündigte die Diktatur an, nicht entgegen seinem Wunsch nach Zerstörung, sondern in Übereinstimmung mit ihr.“ (Der Mensch in der Revolte. Reinbek 1969, S. 310.)
[13] „Der bürgerliche Sozialismus wird immer an einem Zeichen erkannt: er ist ein enragierter Individualismus, und er empfindet eine ungeheure Wut jedesmal, wenn er vom Kollektiveigentum reden hört. Als Feind desselben ist er natürlich auch Feind der Kollektivarbeit, und da er sie nicht ganz aus dem sozialistischen Programm ausscheiden kann, beansprucht er im Namen dieser Freiheit, die er so schlecht versteht, der individuellen Arbeit einen sehr großen Platz einzuräumen ... Was man in der Industrie gegenwärtig individuelle Arbeit nennt, ist nichts anderes als die Kollektivarbeit der Arbeit durch einzelne privilegierte Inhaber, sei es des Kapitals, sei es der Wissenschaft. Aber sobald diese Ausbeutung aufhören wird ... wird es in der Industrie keine andere als Kollektivarbeit geben können, folglich auch kein anderes Eigentum als Kollektiveigentum. Die Einzelarbeit wird also nur in der intellektuellen Produktion, bei den geistigen Arbeitern möglich bleiben. Und auch da!“ (In „Egalite“, Genf, 17. Juli 1869; II, 100/101.)
[14] Am 21. Mai 1872 schrieb Bakunin an den Spanier Morago: „Unser Ziel ist die Schaffung einer mächtigen, aber stets unsichtbaren revolutionären Gemeinschaft, welche die Revolution vorbereiten und leiten soll, von der aber nie, selbst nicht bei offener Revolution, ihre Gesamtheit oder eines ihrer Mitglieder irgendeine offizielle öffentliche Regierungsstellung einnehmen wird, da sie in Wirklichkeit kein anderes Ziel hat, als alle Regierungen zu zerstören und überall für immer unmöglich zu machen: sie läßt der revolutionären Bewegung der Massen ihre volle Entwicklung und ihren sozialen Aufbau von unten nach oben durch freiwillige Föderation und die unbedingteste Freiheit, aber sie wacht stets darüber, daß hierbei nie Autoritäten, Regierungen und Staaten wiedergebildet werden können und bekämpft jeden Ehrgeiz, sei er kollektiv (Koterien wie die von Marx) oder individuell, durch den natürlichen, nie offiziellen Einfluß aller Mitglieder unserer Allianz, die in allen Ländern zerstreut und durch ihre solidarische Aktion und Einheit von Grundsätzen und Zielen, wie sie stets unter ihnen bestehen müssen, mächtig sind.“ (III, 103 f.) Und: „Da wir übrigens nur eine Volksrevolution wollen, eine nicht nur für das Volk, sondern ausschließlich vom Volk gemachte Revolution, so ist unsere Armee das Volk und wir brauchen nur einen Generalstab zu organisieren, der ihm helfen kann, sich zu organisieren.“ (105)
[15] III, 98/99.
[16] III, 129.
[17] Am 15. Dezember 1868 schrieb Marx an Engels: „Herr Bakunin ... ist so herablassend, die Arbeiterbewegung unter russische Leitung nehmen zu wollen.“ (Briefwechsel, IV, 169) Und am 27. Juli 1869 wiederum an Engels: „Dieser Russe will offenbar Diktator der europäischen Arbeiterbewegung werden. Er soll sich in acht nehmen. Sonst wird er offiziell exkommuniziert.“ (IV, 256) - Siehe dazu vor allem: Fritz Brupbacher, Marx und Bakunin. Ein Beitrag zur Geschichte der internationalen Arbeiter-Assoziation und zur Diskussion über antiautoritären und autoritären Kommunismus. München 1922. Nachdruck Berlin 1969.
[18] Siehe dazu Engels an Ph. van Pattern, 18. April 1883: Die Arbeiterklasse müsse „zuerst die organisierte politische Gewalt des Staates in Besitz, nehmen und mit ihrer Hilfe den Widerstand der kapitalistischen Klasse niederstampfen, und die Gesellschaft neu organisieren ... Die Anarchisten stellen die Sache auf den Kopf.“ (Marx-Engels, Äusgewählte Briefe, S. 433)
[19] I.33.
[20] III, 188. In einem Schreiben an die Genossen von Le Locle und La Chaux-de-Fonds sagt Bakunin, der Staat sei „durch sein Prinzip ein ungeheurer Friedhof, auf dem alle Äußerungen des persönlichen und lokalen Lebens, alle Interessen der Teile, aus denen sich die Gesellschaft zusammensetzt, sich opfern, sterben und begraben werden. Er ist der Altar, auf dem die wirkliche Freiheit und die Wohlfahrt der Völker politischer Größe geopfert wird; je vollkommener diese Opferung, desto vollkommener der Staat.“ (II, 17)
[21] III, 255.
[22] III, 76.
[23] In einem Schreiben Bakunins an „Brüder“ der „Allianz“ in Spanien heißt es dazu: „Wir haben dieses System (von Marx) aus zwei Ursachenzurückgewiesen: zuerst weil es, statt die Staatsmacht zu vermindern, sie durch Konzentration aller Macht in den Händen des Staates vermehrt. Sie sagen zwar: ihr Staat werde der Volksstaat sein, regiert von Versammlungen und Beamten, die direkt vom Volk gewählt und der Volkskontrolle unterworfen sind. Dies ist das parlamentarische, das Repräsentativsystem, das des allgemeinen Stimmrechts, korrigiert durch das Referendum und die direkte Volksabstimmung über alle Gesetze. Wir wissen aber, was von der Aufrichtigkeit dieser Vertretungen zu halten ist. Klar ist, daß das System von Marx wie das von Mazzini zur Errichtung einer sehr starken sogenannten Volksmacht führt, das heißt zur Herrschaft einer intelligenten Minderheit, die allein fähig ist, die bei einer Zentralisation unvermeidlich sich ergebenden verwickelten Fragen zu erfassen, und folglich zur Knechtschaft der Massen und ihrer Ausbeutung durch diese intelligente Minderheit. Das ist das System revolutionärer Autoritäten, der aufgezwungenen und von oben geleiteten Freiheit - das heißt, es ist eine schreiende Lüge.“ (III, 117)
[24] In dem bereits erwähnten Schreiben an die „Brüder“ der „Allianz“ in Spanien sagt Bakunin, die notwendige praktische Solidarität könne sich „nur unter der einen Bedingung behaupten, daß keine politische oder sozialistische oder philosophische Theorie je die offizielle, obligatorische Theorie der „Internationale“ wird. - Zunächst ist jede offizielle Theorie ein nonsens. Um den Mut und einen Vorwand zu besitzen, sich aufzuzwingen, muß sie sich als absolut proklamieren, und die Zeit des Absoluten ist vorüber, wenigstens im Lager der Revolution - das Absolute ist für Männer der Freiheit und der Menschheit das Absurde. Ferner, da eine bestimmte Theorie nie wirklich das Produkt des individuellen Denkens aller war und sein kann, da alle Theorien, insoweit als sie ausführliche und abgeschlossene Theorien sind, stets von einer kleinen Zahl Menschen ausgearbeitet sind und sein werden, wird sie sogenannte absolute Theorie in Wirklichkeit nie etwas anderes darstellen als den von dem Denken einiger auf das Denken aller ausgeübten Despotismus - einen theoretischen Despotismus, der nie verfehlen wird, in praktischen Despotismus und Ausbeutung umzuschlagen.“ (III, 111f.)
[25] III,167.
[26] III, 169.
[27] In der „Confidentiellen Mitteilung“ an Kugelmann vom 28. März 1870 hatte Marx von Bakunin als einem „höchst gefährlichen Intriganten“ gesprochen, dessen Spiel, wenigstens auf dem Terrain der „Internationale“, bald ausgespielt sein werde ... Marx scheute denn auch vor keiner Intrige und Verleumdung zurück, um Bakunin ins Zwielicht zu bringen; wiederholt wurde der „Verdacht“ verbreitet, letzterer sei ein zaristischer Geheimagent. Das Ausschlußverfahren gegen Bakunin, von Marx systematisch vorbereitet, stellt so etwas wie einen ersten, aber schon prototypischen „Ketzerprozeß“ innerhalb der „Internationale“, eine erste „Säuberung“ derselben von „Abweichlern“ dar.

Aus: Achim v. Borries / Ingeborg Brandies: Anarchismus. Theorie, Kritik, Utopie. Joseph Melzer Verlag, Frankfurt 1970

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Mit freundlicher Erlaubnis des Abraham Melzer Verlag´s


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