Max Nettlau - Nationalismus und Internationalismus (1924)
Nationalismus und Internationalismus standen sich an der Wiege der alten Internationale, 1864, gegenüber. Orsinis Bombe, Januar 1858, hatte den Nationalismus in sein gefährlichstes Stadium gebracht, dasjenige, in welchem er sich zum blinden Werkzeug der Politik der Großstaaten hergibt, um nur seine Machtträume zu verwirklichen. Der italienische, deutsche, polnische Nationalismus flammte lichterloh auf, und die Pläne Napoleons III., Bismarcks und wahrscheinlich auch Englands gegen Rußland begannen zu reifen. Speziell Napoleon III. erwartete durch nationale Kriege und territoriale Expansion (Nizza und Savoyen) seine Usurpation, 1851, vergessen zu machen und sein Kaisertum endlich auf wirtschaftlicher Popularität* [*Prosperität] fest zu begründen. Daher ließ er auch den Arbeitern die Zügel etwas locker und begünstigte deren freundlichen Kontakt mit englischen Arbeitern (Weltausstellung in London, 1862). Sie begegneten Engländern, die ganz unter dem Einfluß Mazzinis und der polnischen Propaganda standen, d.h. auf jener Stufe, auf der Internationalismus und Nationalismus sich scheinbar berühren, indem das Eintreten für die nationalen Ziele eines fremden Volks bereits für Internationalismus gehalten wird, während es doch nur einen indirekten, durch Parteinahme den Zwiespalt verschärfenden Nationalismus darstellt.
Es ist das unendliche Verdienst einiger wirklicher Londoner Sozialisten verschiedener Länder und Pariser Republikaner (Henri Lefort), die Gefahr des Arbeiternationalismus zugunsten der Pläne Napoleon III. und Mazzinis abgewendet zu haben; der Haß gegen Napoleon III. wir in erster Linie das treibende Motiv. Sie mußten aber mit den vorhandenen Kräften rechnen und wurden überdies durch den erst bei der unmittelbaren Gründung der Organisation hinzugezogenen Karl Marx bald in die Opposition gedrängt und dann ganz eliminiert. Marx' internationales Ideal war eine internationale Entente gegen Rußland; zu diesem Zweck förderte er die Verständigung zwischen den anderen Völkern, also die Beseitigung des italienischen, französischen und deutschen Nationalismus vor allem; er hoffte, daß England durch Irland in Schach gehalten werde. Da er aber die Kampfbereitschaft und der Kampf gegen Rußland wünschte, konnte er eine Schwächung der Macht der vorhandenen west- und mitteleuropäischen Staaten nicht zugeben. Er war eben von seinem eigenen Axiom, dem der ungeheuren Macht Rußlands und dessen akuter Bedrohung Europas, hypnotisiert und konnte sich eine Rußland einschließende europäische oder Weltsolidarität nicht vorstellen.
Bakunin ging seit jeher von der vollständigen Gleichwertigkeit der Russen und aller übrigen Slaven mit den Völkern Mittel- und Westeuropas aus und stand stets auf dem Boden einer totalen Neuordnung der Gruppierung der Völker nach ihrem eigenen gegenwärtigen Willen ohne Rücksicht auf historisch entwickelte Verhältnisse, mit Zusammenschluß zu einer europäischen oder die Erde umfassenden Föderation, deren einzelne Bestandteile das Recht der Sezession besitzen würden, d.h. sie würden sich jederzeit nach ihrem eigenen Willen umgruppieren können, wodurch Unterdrückung und Eroberung, also auch Kriege, ausgeschlossen wären und jeder Versuch dazu von der Gesamtheit verhindert würde.
Für Bakunin waren also Internationalismus und Anarchismus untrennbar verbunden, weil nur eine die Staatsgrenzen brechende, sich frei gruppierende Menschheit in friedlichen gegenseitigen Beziehungen leben kann, also das Minimum von Internationalismus, mutual good will (gegenseitiges Wohlwollen) ohne Hintergedanken verwirklicher kann. Jeder unabhängige Staat ist sich allein Selbstzweck und sieht die übrige Welt nur als Feind an, über die er Vorteile erringen will oder denen er sich als Schwächerer momentan grollend fügt. Die Größe der Staaten ändert hieran gar nichts; wird der große Staat durch seine Allmacht brutal, so wird der kleine Staat durch seine Ohnmacht erst recht verbissen und tückisch und gibt ohnedies seine Unabhängigkeit preis, indem er sich stets in den Schatten einer größeren Mächtekombination begibt und Brocken von deren reichem Tisch aufliest, seiner notgedrungenen Knechtschaft fluchend und nach Rachegelegenheiten ausspähend.
Durch die industrielle Entwicklung des neunzehnten Jahrhunderts und die alle Länder, wie nie zuvor, verbindenden, sie aber desto intensiver als Konkurrenten trennenden und neue Monopole begründenden modernen Verkehrsverhältnisse zu Land und zu Wasser wurden die besitzenden Klassen aller Länder an dem beständigen Kampf der Staaten untereinander auf das äußerste materiell interessiert und um die Machtmittel jedes Landes voll ausnützen zu können, mußte die Mentalität der arbeitenden und der landbebauenden Bevölkerung ganz und gar auf Staatlichkeit und Nationalität eingestellt werden, was durch Erziehung, Presse und die nie ruhende Hetz und Haßpolitik vom Wiegenlied bis zur Grabrede pünktlich in allen Ländern vor sich geht.
Wie verhalten sich nun die Arbeiter hierzu, soweit sie politisch denken und organisiert sind? Die meisten Arbeiter wünschen stets zweierlei: sie hoffen auf eine künftige sozialistische Gesellschaft und sie wünschen in der gegenwärtigen Gesellschaft möglichst menschenwürdig zu leben. So unendlich berechtigt der letztere Wunsch ist und so sehr seine relative Befriedigung dazu beiträgt und dazu notwendig ist, die Arbeiter kampffähig und kampffreudig zu machen und zu erhalten, so ist doch damit unauflöslich verbunden, daß die Interessen der Arbeiter mit den Interessen der Borgeoisie, des Staates, der Nation zusammenfallen, der sie gerade angehören, wodurch also die Arbeiterbewegungen nach der einen Seite hin fest im Staat wurzeln und sich mit dem Wohlergehen des Staates und dem der nationalen Bourgeoisie verwachsen fühlen. Hieran ändert der politische Kampf, der Klassenkampf und der Idealismus einzelner gar nichts; der Sozialpatriotismus ist darin fest begründet, daß nach der allgemeinen Auffassung ein siegreiches Land auch bessere Arbeitsbedingungen bietet, weil es den Besiegten nicht nur seinen politischen, sondern auch seinen ökonomischer Willen aufzwingen kann und dies natürlich nie zu tun unterläßt.
Was bleibt hier noch von Internationalismus übrig? Nicht der leiseste Rest außer dem irreführenden Namen, den sich mit gleichem Recht eine internationale Schuhfabrik zulegt, weil sie in mehrerer Ländern Niederlagen hat, und internationale Arbeiterorganisationen weil sie sich aus lokalen nationalen Patrioten verschiedener Länder zusammensetzen. Der den Staat, also viele Staaten anerkennnde autoritäre Sozialismus führt, wie Bakunin einmal schrieb (1872) "direkt zur Errichtung neuer großer Nationalstaaten, die, getrennt und notwendigerweise rivalisierend und einander feindlich sind, zur Negation der Internationale der Menschheit" ... Es gibt da absolut keinen Ausweg; denn auch innerhalb einer Föderation der jetzt bestehenden Staaten würde die Kräfteungleichheit die alten Hegemonien nur fortsetzen. Nur das vollständige Zertrümmern der alten Staatsapparate und die gleichzeitige Beseitigung der sich auf die zufällige lokale Lage von Naturschätzen, Rohstoffen usw. stützenden ökonomischen Monopole und Privilegien kann den Zustand des einfachsten friedlichen Nebeneinanderlebens der Menschen anbahnen, der allein Internationalismus genannt werden kann. Wer aber will dies außer den Anarchisten, d.h. auch nur solchen Anarchisten, die hierüber nachgedacht haben und sich vom Bann der lokalen Unabhängigkeitsfiktionen, die immer zum Staatstum zurückführen, befreit haben?
Daher sind staatlicher Sozialismus, Nationalismus und Krieg so eng verbunden und sich gegenseitig bedingend, wie anarchistischer Sozialismus, Internationalismus und Friede. Diese Tatsache unbeachtet zu lassen, bedeutet nicht, sie zu beseitigen, sondern nur ein hoffnungsloses Herumirren und Sichabquälen mit dem Unmöglichen.
Ebensowenig kann, meiner Ansicht nach, der Syndikalismus dieser Wahl entgehen; betrachtet er sich lokal gebunden, die Interessen einer territorialen Arbeiterbevölkerung vertretend, dann haftet er am Staat und verewigt den Krieg. Nur wenn er auf viele, derart über Schwächere im Ausland leicht zu erringende Siege verzichtend, wirklich den Genossen der schwächeren Länder Opfer bringt, um hierdurch bewußt die Staatsgrenzen niederzubrechen und die freie menschliche Solidarität der Stärkeren und Schwächeren den gemeinsamen Feinden, Kapital und Staat, gegenüber herzustellen, — nur dann wird er den ersten Baustein zur freien Gesellschaft gelegt haben. Er muß lernen, gerecht und edel zu sein und es verschmähen, die durch kapitalistische Konkurrrenz, Staatspolitik und Kriege geschaffene Hierarchie der Staaten dadurch anzuerkennen und mitzugenießen, daß er diese Zerklüftung der Menschheit als gegebene Tatsache hinnimmt. Sonst bleibt er eben Mitschuldiger und Mitprofiteur der menschheitszerreißenden Staaten und verewigt seine eigene Ohnmacht, Haß, Elend und Krieg.
Es mag praktisch noch so schwer sein, neben dem gewiß absolut notwendigen Gegenwartskampf des Syndikalismus um lokal Erreichbares und zur Verteidigung des bereits Gewonnenen diesen bewußt gegen das die Bourgeoisie, die Staaten und sehr viele Arbeiter befriedigende System der Konkurrenz, der Unterdrückung der Schwächeren, der Kriege und der fortschreitenden Verelendung und Verrrohung der Menschheit gerichteten, viel größeren Kampf aufzunehmen, — aber es muß eben geschehen oder es bleibt alles beim alten, genauer gesagt, es wird alles immer schlechter. Oder erwartet man eine Lösung in dem Sinn, daß durch die immer steigende Verelendung der wirtschaftlich schwächeren Nationen diese schließlich eliminiert werden und eine einheitliche siegende Rasse schließlich durch ihr Alleinvorhandensein das Problem der Internationalität aus der Welt schafft, etwa so, wie die Ureinwohner Amerikas ausstarben, in der Wildnis blieben oder in Reservationen interniert wurden? Dies wünscht gewiß kein fühlender Mensch und Arbeiter, auch der stärksten Länder, und doch läßt man der darauf hinauslaufenden kapitalistischen und staatlichen Vernichtungspolitik gegen die Schwächeren freien Lauf.
Einer Tätigkeit in dem von mir entworfenen Sinn des wirklichen Internationalismus steht entgegen die von der jetzigen Gesellschaft geschaffene Mentalität der Arbeiterbevölkerungen aller Länder, die nur vom möglichsten Wohlergehen ihrer Länder etwas für sich erwarten, und die leicht ersichtliche Tatsache, daß eine solidarische Ausgleichung der zwischen den Arbeitern verschiedener Staaten entstandenen immer größeren Unterschiede, eben den prosperierenden, Opfer auflegen würde, während sie den Verelendeten Vorteile brächte. Zieht man statt dessen vor, daß die prosperierenden noch mehr prosperieren und daß die Verelendeten noch elender werden, dann rühre man keinen Finger, lasse das Kapital und die Staaten walten, und deren Wille geschehen; nur sollte man dann auf das Wort international ganz verzichten und offen den Kriegszustand zwischen den Menschen in Permanenz erklären.
Denn beides kann man nicht haben — die Vorteile der menschentrennenden Staatenpolitik und die Anbahnung der menschenvereinigenden freien Gesellschaft. Der politische Sozialismus hat sich längst der heutigen Gesellschaft eingeordnet; der in allen praktischen Fragen nur lokal und territorial handelnde Syndikalismus tut tatsächlich dasselbe. Die ersten Schritte zur Freiheit und Menschenvereinigung sind also noch zu machen.
Wie kann man hoffen, dieses Ziel während revolutionärer Krisen in großem Umfang zu erreichen, wenn, wie bisher, noch praktische Versuche, theoretische Anerkennung und der feste Wille selbst fehlen
Das Ziel maß zu weit gesteckt, die Opfer mögen zu groß erscheinen. Aber wer kann erwarten, daß sich die wirtschaftliche Befreiung der Menschen ohne unendliche Mühe und Opfer vollzieht? Der staatliche Sozialismus scheute längst diese Opfer und warf sich dem Parlamentarismus in die Arme; der zu Bakunins Zeit als wirklich den Internationalismus verkörpernd gedachte Syndikalismus, der Rahmen der künftigen freien Gesellschaft, wurde durch seine territoriale Spezialisierung gleichfalls mit dem Schicksal der heutigen Staaten verkettet: welche internationalen Aktionskräfte bleiben also übrig? Kein freiheitlich Denkender würde solche Kräfte im Kommunismus suchen; sie sind nur in einzelnen Anarchisten und anderen freien Menschen zerstreut und isoliert vorhanden. Soll dies alles sein? Wird die freiheitliche Richtung des Syndikalismus auf die Anbahnung solcher Tätigkeit als unpraktisch oder utopisch verzichten?
Mir persönlich scheint diese Frage als die Lebensfrage der ganzen Arbeiterbewegungen. Mit dem "Hineinwachsen in den Zukunftsstaat" begann es; heute ist man längst fest am Gegenwartsstaat angewachsen. Jede sozialistische Aktion ist heute intensiv lokal, d.h. staatlich und national. Internationale Aktionen sind kraftlos und nur nominell. Es bleibt noch alles zu tun übrig. Selbst die internationale Information, so reichlich sie in Bewegungsangelegenheiten erfolgt, fehlt so gut wie ganz in allgemeinen politischen und ökonomischen Angelegenheiten oder ist eine der lokalen Propaganda angepaßte, deren wirkliches Verständnis den Lesern anderer Länder entgehen muß.
Ich würde gewiß lieber Fortschritte im Sinn des wahren Internationalismus freudig begrüßen, als ihre Abwesenheit, so viel ich sehen kann, hervorzuheben. Aber der Staat ist eben der Feind der Menschheit und nichts im Rahmen des Staates Geschehende kann etwas anderes als der Menshheit feindlich sein; daher ist dies auch der staatliche Sozialismus und der territoriale Syndikalismus. Menschheit, Freiheit (Anarchie), staatenzerstörender Internationalismus und Friede sind untrennbare Ziele, die zu sehr aus den Augen verloren wurden und denen jedes Opfer gebracht werden muß oder Menschenhaß, Staat, Krieg und Elend pflanzen sich ewig fort.
Anmerkung der Redaktion: Die Ansicht, die Genosse Nettlau über den internationalen Syndikalismus vertritt, bedarf einer Diskussion, in die in der nächsten Nummer eingetreten werden kann.
Aus: "Die Internationale", 1. Jahrgang, Nr. 2 (1924). Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ae zu ä, That zu Tat usw.) von www.anarchismus.at.