Max Nettlau - Über die Möglichkeiten freiheitlichrevolutionären Fortschritts
Gesellschaftlicher Fortschritt bedeutet die Verbreitung nützlicher Einrichtungen, Einsichten usw., die von einzelnen oder kleineren Gruppen, deren Tätigkeit sich unter besonders günstigen Verhältnissen vollzog, bereits entdeckt, angeregt und nach Möglichkeit erprobt wurden. Nach Grad und Art der Widerstände kann die Durchführung auf revolutionärem Wege geschehen, muß dies aber nicht, und die ungeheuren technischen Fortschritte seit der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts, das intellektuelle Erwachen, das an die Stelle der altüberlieferten Starrheit den unabweisbaren Drang setzte, in das Wesen jeder Entwicklung einzudringen, all dies verbreitete sich, gewiß nicht ohne beständige intime, private und öffentliche Kämpfe gegen verletzte alte Interessen und versteinerte Mentalitäten, aber nicht durch Massenaktionen, Revolutionen. Letztere richten sich gegen bestimmte als unerträglich empfundene Hindernisse und erhalten ihre wuchtige Kraft durch die allgemeine Verbreitung von Unzufriedenheit, Ungeduld, Entrüstung und den Willen, ein Ende zu machen. Während Empörungen, Insurrektionen, am Anfang solcher Entwicklungen stehen und darum oft isoliert bleiben und unterliegen, sind Revolutionen die unvermeidliche Lösung am Ende einer solchen Periode, der Durchbruch der angesammelten Kräfte, die endlich alle Widerstände niederreißen.
Wenn auch allen Revolutionen der Drang der entrechteten und ausgeplünderten Massen, sich wirklich soziale Menschenrechte zu erkämpfen, gemeinsam ist, ist doch dadurch ihr Inhalt und ihr Wesen im einzelnen Fall keineswegs bestimmt, und diese können nur von den in den langen Vorbereitungsperioden entstandenen geistigen Strömungen und Impulsen des Willens präzisiert werden, die wieder von einer Unzahl realer zeitlicher und lokaler Faktoren wesentlich mitbestimmt werden. Dies zeigt die ausschlaggebende Wichtigkeit der Vorbereitungszeit, in der eben die Saat gesät wird, welche eine Revolution zu beschleunigter Entwicklung und den größten Entfaltungsmöglichkeiten bringt; ist die Saat dünn und schwach, kann auch das günstigste Wetter keine reiche Ernte improvisieren. Revolutionen erreichen als dauernde Resultate nur das bereits gründlich als Bedürfnis Empfundene und Gewollte, während ihren Pendelschwingungen nach links in der Regel solche nach rechts gegenüberstehen, weiter gehende Fortschritte also wohl lebhaft zur Diskussion gestellt, kühn versucht, aber meist grausam unterdrückt oder gleichgültig abgelehnt werden - unvermeidliche Vorarbeiten für kommende Revolutionen, aber harte Niederlagen für die gegenwärtige Revolution.
So war der wesentliche Inhalt der englischen Revolution des siebzehnten Jahrhunderts der Kampf der kleineren Grundbesitzer und der aufsteigenden Bourgeoisie mit dem Königtum, der Aristokratie und alleinherrschenden Kirchen, für die Vormacht des Parlaments, für persönliche Staatsbürgerrechte und für die ungestörte Ausübung religiöser Kulte, und dies wurde nach fünfzig Jahren durch die den Abschluß bildende Revolution von 1688 erreicht. Alle politisch-radikalen, republikanischen, alle sozialen, sozialistischen, alle sozial-religiösen Bestrebungen dagegen fanden unzureichendes Verständnis, erzielten keine dauernden Erfolge und wurden meist blutig unterdrückt. Ebenso führte die französische Revolution von 1789 bis 1830 (Julirevolution) ihre wohlvorbereiteten Ziele: Sturz des alten Regimes, Macht der Bourgeoise (persönliche Rechte und ungehinderte materielle Entwicklung) und Bauernbefreiung durch den Sturz des Feudalismus schließlich durch, seit Juli 1830; alle noch kleineren Richtungen aber, Republikaner, Arbeiter, Sozialisten usw. erreichten durch die vierzigjährige Revolutionsperiode, so intensiv und glänzend ihre vielfachen Bemühungen und Opfer waren, zunächst noch nichts Wesentliches. Die Jahre 1848-1851 zerstörten vieles unerträglich Gewordene, das die Reaktionszeit der fünfziger nicht wieder aufbauen konnte, aber die weiter gehenden revolutionären Ziele, ungenügend vorbereitet, wurden noch nicht erreicht, und so ist es auch seit 1917 in Rußland, wo allgemein empfundene Wünsche, der Sturz des Zarismus und der Landhunger der Bauern, befriedigt wurden, wo aber keine hinreichenden geistigen und materiellen Kräfte vorhanden zu sein scheinen, die dem primitivsten Staatskapitalismus und einer neuen Beamtenallmacht etwas Tüchtigeres und Wertvolleres entgegenstellen könnten, so daß auch diese Revolution ihren beschränkten Rahmen nicht überschreiten dürfte.
Jede Revolution setzt also gewisse Hauptziele durch, die an und für sich einen Fortschritt bedeuten, sie ist aber auch erbarmungslos wie die Reaktion selbst gegen alle weiter gehenden Ziele. Die englische Revolution vernichtete Winstanlay, die französische Baboef, die 1848er die proletarischen Junikämpfer, die russische alle Lebensäußerungen nicht-diktatorisch gesinnter Sozialisten. Es ist daher ein Irrtum, sich eine Revolutionsperiode als fortschrittlich an sich vorzustellen. Es werden schneller Probleme aufgeworfen, Anhänger gewonnen, Versuche gemacht, aber es wird auch jede wirkliche Regung von Minoritäten akuter und grausamer bekämpft und unterdrückt. Dem abzuhelfen während der Revolutionen, scheint nicht möglich zu sein, zur Sicherung gegen die Gegenrevolution bilden sich stets kompakte Majoritäten, die dann ebenso jede Linksbewegung verhindern und physisch niederkämpfen. Welche Ereignisse während der vier großen hier betrachteten Revolutionsperioden könnte man als Gegenbeweis anführen? Ich sehe wirklich keinen Fall, in welchem eine der zahllosen Minoritätsinitiativen während der Revolutionen durchgedrungen wäre und ich sehe, wie nur die längst vorbereiteten Hauptziele nach unzähligen Zwischenfällen und langer Zeit sich schließlich aus der bewegten Zeit in ruhigere Zeiten, relativ gesichert, herausretten. Auch von der beschränkten Revolution vom 4. September 1870 in Frankreich setzte sich der Sturz der Bonapartes und die Bourgeoisrepublik um 1878 dauernd durch, während die Commune von 1871 in Paris und den südlichen Städten eine in Blut erstickte Episode blieb, ebenso wie alles Sozialinspirierte in Mitteleuropa in den Jahren 1918-1919 und seitdem.
Da ist es also, scheint mir, das Richtige, sich an die Einsicht zu gewöhnen, daß es die Lebensfrage für jede fortschrittliche Richtung ist, sich entweder in vorrevolutionärer Zeit derart allgemeine Geltung zu verschaffen, daß Sicherheit besteht, daß diese Richtung nicht zu den von der kommenden Revolution mitleidslos abgeschlachteten Minoritätsbewegungen gehören werde - oder sich in der vorrevolutionären Zeit mit den übrigen wirklich fortschrittlichen Richtungen darüber zu verständigen, daß Bedingungen für ein friedliches Nebeneinander geschaffen werden. Letzteres wird noch immer, der in Staaten, also Feindschaften, also Kämpfen und Kriegen befangenen Mentalität unserer Zeit entsprechend, für unmöglich gehalten, ganz abgesehen davon, daß für viele ihre eigene Doktrin als die einzig richtige gilt, so daß sie es für unter ihrer Würde halten, mit anderen Richtungen auch nur in einen äußerlichen Kontakt zu treten (wie hier gemeint ist). P. Kropotkin, der inniger als die meisten ändern an der von ihm formulierten Fassung der anarchistischen Ideen hing, schrieb aber doch folgende sehr richtige Worte:
"...Einst, im Anfangs Stadium des Sozialismus, konnte man sagen, daß der Sozialismus nur eine allgemeine Idee besitze - die Expropriation, zu der man den ersten günstigen Augenblick benutzt hätte. Ein allerdings sehr vager Begriff, der aber alle Sozialisten einigte."
"Im Maßstab des Wachstums des Sozialismus und seines Eindringens in die Ideen des Jahrhunderts aber prägte er sich bei manchen genauer aus, und es entstanden seine beiden Zweige - der autoritäre oder staatiche...und der freiheitliche oder anarchistische."
Andererseits bildete sich daneben eine Menge sehr verschiedenartiger Bewegungen... korporative, kooperative, syndikale -, politische, Streikbewegungen, - kommunalistische, diktatoriale, selbst imperialistische, - doktrinäre und wissenschaftliche usw., die alle mehr oder weniger einen sozialistischen Ausdruck besitzen. Es ist dringend notwendig, die Tragweite all dieser Bewegungen zu betrachten und ihre unterstützenden oder entgegenwirkenden Beziehungen zur Hauptbewegung."
"Diese Bewegungen sind da. Gerade ihre Vielartigkeit macht die Ausbreitung und Kraft des Sozialismus aus. Sie außer Rechnung zu lassen, wäre absurd gewesen, sie zu ignorieren, ist ein Verbrechen. Sich einzubilden, wie die Sozialdemokraten tun, daß im Fall der Revolution die sozialdemokratische Diktatur - das heißt die Diktatur der 'Vertrauensmänner' dieser Partei - genügen wird, alle Bewegungen zu brechen, die nicht in das enge sozialdemokratische Programm (welches? das große? das kleine? das ganz kleine?) hineingehen, das heißt ganz einfach Kindereien treiben. Ich weiß wohl, daß alte und sonst ernste Männer ihrer Partei dies sagen und sogar oft wiederholen, aber das ist nur gut für Schuljungen, die davon träumen, die Welt zu regieren, weil sie nicht wissen, was die Welt ist.
"Die Robespierres der sozialen Demokratie werden ebenso zu rechnen haben mit den Marals, den Dantons und den 'enrages' (Extremisten) und noch mehr mit den anonymen Massen, wie die Robespierres von 1793. Viel mehr noch, denn die Massen sind nicht mehr, was sie vor 100 Jahren waren...." (Les Temps Nouveaux, 19. September 1896).
Daher schrieb Kropotkin von der Zukunft: "...Den Sozialismus in seiner Gänze betrachtend konstatieren wir zunächst, daß keine Partei mehr ihn als Ganzes umfassen kann. Solches zu versuchen, sich darauf zu versteifen, wie die Sozialdemokraten es tun, ist verlorene Mühe und heißt die Sache verraten, die man zu verteidigen behauptet.
"Man muß zunächst anerkennen - und mit Freude -, daß die Sozialismus genannte Ideenbewegung die Zeit überschritten hat, in der man hoffen konnte, sie in den Rahmen einer einzigen Partei einfügen zu können. Keine Partei kann sie mehr als Ganzes umfassen. Sie ist schon eine Flut, die man nicht mehr eindämmen kann."
"Wie der menschliche Gedanke selbst, wie die Gesellschaft, nahm der Sozialismus eine Reihe von Erscheinungsformen und Nuancen an, die den tausenden Nuancen des Menschengeistes, den tausenden in einer lebenden, wachsenden, sich entwickelnden Gesellschaft zutage tretenden Tendenzen entsprechen."
"Diese Verschiedenartigkeit der Erscheinungsformen macht seine Stärke aus. Sie erlaubt ihm, sich allgemein zu verbreiten, in alle Gesellschaftsklassen einzudringen, - gleicherweise zu erfassen den großen und kleinen Bauer, den Arbeiter der Großindustrie, des städtischen Kleinhandwerks und den Landarbeiter, den Intellektuellen, den Literaten, den Künstler. Diese Verschiedenartigkeit erlaubt ihnen, sich alle mit gleichen Hoffnungen auf Gleichheit und Freiheit zu vereinigen, die verwirklicht werden sollen durch die Sozialisierung auf diese oder jene Form des sozialen Kapitals, des Erbteils der Menschheit, das in den Dienst aller gestellt wird."
"Alle großen Bewegungen tragen diesen Charakter der Universalität und der Vielartigkeit. Es ist ein Glück, daß der Sozialismus endlich diese Phase erreicht hat, daß er die Keimperiode als Partei überschritten hat, daß er sich so verallgemeinert hat, daß er in die Gesellschaft eindrang. Ein Beweis dafür, daß er nicht mehr erstickt wird, liegt hierin."
"Man versuche doch diese ungeheure Bewegung in eine einzige Partei hineinzuzwängen, sie einem einzigen Programm unterzuordnen, wie die Sozialdemokraten es tun; es ist vergebene Mühe. Man muß die Vielartigkeit anerkennen: sie ist das Leben selbst..." (10. Oktober 1896).
Noch vieles wäre aus Kropotkins damaligen, durch die lächerlichen Prätensionen der sozialdemokratischen Parteien, die Alleinvertreter der sozialen Bewegungen zu sein, wie der internationale Kongreß in London sie wieder einmal beleuchtet hatte, hervorgerufenen Ausführungen der Hervorhebung wert. Wer kann im Namen der unzähligen, in jedem Lande in verschiedenem Grade durcheinandergehenden Interessen zu sprechen, über sie Entscheidungen zu treffen wagen? Wir sehen ungefähr fünf große Bewegungsgruppen – die sozialdemokratische, welche die römische, katholische, jakobinische Tradition des zentralisierten Staates vertritt, - die anarchistische, die kommunistisch ist und in sich eine individualistische Richtung enthält, - die ungeheure Gewerkschaftsbewegung, - die große Kooperativbewegung, - die Bauernbewegungen - und allerlei antistaatliche Bewegungen gegen Militarismus und Steuern. Dann kommunalistische Bewegungen, von den französischen und Spanischen Bewegungen von 1870-1873 zum englischen Munizipalsozialismus. Dazu Bewegungen in den besten Elementen der Bourgeoisie selbst, philanthropische, für manuelle Arbeit, aufs Land hinaus "zur Scholle zurück", in Literatur, Kunst und Wissenschaft. Ebenso Befreiung der Frau, ethische Bewegungen usw. Endlich die individuelle und kollektive Empörung in all ihren Formen.
Und all dies hier nach Kropotkin Resümierte, sollte reduziert werden auf Wahlkämpfe und Gesetzmacherei im Sinn der Sozialdemokratie!
"...Wenn man diese Absurditäten sagen und predigen hört, genügt dies beinahe, um an der Menschennatur zu verzweifeln, die sich nie befreien zu wollen scheint von der Idee von Rettern und Päpsten, die die Wahrheit durch höhere Intuition entdecken und Wunder wirken!..."
Was Kropotkin hier der Sozialdemokratie gegenüber hervorhebt, die Unmöglichkeit, den den Parteiwindeln entwachsenen Sozialismus an ihrem Gängelband zu führen, gilt logischerweise auch für jede andere Richtung. Wie sehr er seine persönlichen Vorschläge für geeignet hielt, die Entstehung und das Gedeihen einer freien Gesellschaft ganz besonders zu fördern, so wußte er doch, daß hierzu die richtigen Menschen erforderlich waren, die das verstanden und wollten, und diese Menschen, in all den erwähnten großen und kleinen Gruppierungen verteilt, vielfach von anderen Interessen absorbiert, konnten sich nur allmählich zusammenfinden. Ihm genügte, daß die fortlaufende Erfahrung immer klarer das Verfehlte der autoritären Methoden und das Zweckmäßige freiwilliger Zusammenarbeit zeigt, und dann würde innerhalb der freiwilligen Vereinigungen sich wieder seine Auffassung des Kommunismus als die aussichtsvollste erweisen. So arbeitet der wirkliche Anarchist auf die allmähliche Verbreitung der seiner besten persönlichen Einsicht entsprechenden Ideen hin, während der Doktrinär die Menschheit in ein fertiges System einschachteln möchte, was ihm nie gelingen kann, auch wenn er sich noch so sehr Anarchist nennt.
Heute sind die sozialistischen Nuancen noch viel zahlreicher als 1896. Die nach links hin vertrocknete Sozialdemokratie befindet sich nach rechts hin in allen Graden der Zersetzung, bis zu Briand und Millerand hin, die längst die bei den Käsearten bekannten Zersetzungsprozesse an Varietät und Intensität weit hinter sich zurücklassen. Der Kommunismus entwickelt sich nach beiden Seiten hin, der Verknöcherung und der Zersetzung zu. Auch von den Großgewerkschaften zu den Syndikaten läuft eine unabsehbare Reihe von Abstufungen. Der aus Autorität und Patriotismus entwickelte fascistische Geist infiziert viele Interessengemeinschaften, in andere drang der Kommerzialismus, staatlicher und bourgeoiser Kollaborationismus. Auch die Anarchisten sind in verschiedener Hinsicht differenziert, und die sehr zahlreichen voluntaristischen (freiwilligen) Gruppierungen pendeln zwischen Autoritätskult und Äußerungen freiheitlichen Geistes hin und her. Eine Überfülle von Bewegungen, deren Gemeinsames mir heutzutage eine ganz verzweifelte Mittelmäßigkeit und Energielosigkeit zu sein scheinen. Aber die Vielartigkeit und Fülle der Bewegungen kommt wenigstens jedem zum klaren Bewußtsein und damit für denkende Menschen, die steigende Unmöglichkeit einheitlicher Lösungen, sei es heute, sei es, wenn eine Revolution plötzlich schnellere Entwicklungen möglich machen würde.
Das wirkliche Ziel ist das freie Leben, das heißt die freie soziale Betätigung eines jeden, und dieses Ziel kann von keiner autoritären Richtung erreicht werden. Hier liegt also die Scheidelinie zwischen den Ausläufern der dunkelsten Vergangenheit, die keine Freiheit kannte, und den Vorläufern der lichten Zukunft, die keine Autorität kennen wird. Wenn sich letztere einmal zusammenfinden werden, wird sich erst zeigen, unter welchen Bedingungen der wirkliche Kampf zu führen sein wird, das heißt, ob ein Nebeneinander möglich ist, wie es selbst heute besteht, oder ob nur der von Sozialdemokraten und Kommunisten als selbstverständlich betrachtete unerbittliche Kampf gegen andersdenkende Sozialisten bevorsteht. In letzterem Fall würde eine solche unsoziale Gesellschaft tief unter der kapitalistischen Gesellschaft stehen, weil sie in gleicher Weise andersdenkenden Sozialisten die Produktionsmittel und persönliche Freiheit vorenthalten und dazu noch die unsagbare Häßlichkeit des Verrats am Sozialismus, den sie a la Rußland immer im Munde führen, fügen würde. Es wird aber zu diesen Klarstellungen kommen müssen oder es wird eine Versumpfung aller Richtungen eintreten zum ausschließlichen Vorteil des Kapitalismus, der diese trüben Zeiten zu seiner Befestigung ausnutzt.
Neben die Scheidelinie zwischen den an der Autorität Haftenden und den der Freiheit Zustrebenden, tritt eine weitere Grenze zwischen den Menschen der Routine und des Minimums an eigener Tätigkeit und den Menschen der freudigen Hingebung, des Opfermuts für ihre gute Sache. Früher war letzteres für Sozialisten das Selbstverständliche, und vielleicht wurde das Ausmaß der dazu wirklich Fähigen bereits erreicht. Heute besorgt ein wohlgeordneter Apparat alles Nötige, und die besondere Initiative erscheint meist als Störung. Bei Gruppierungen, die ihre Ziele so ziemlich erreicht haben, ist dies unvermeidlich, für eine militante Partei bedeutet es vorzeitiges Altern und krankhafte Verknöcherung. Gerade jetzt, wo die vor den Völkern liegenden Probleme sich häufen und verschärfen, steht ihnen ein geistig immer bewegungsloserer Sozialismus gegenüber, ein durch seine eigenen Riesendimensionen immobilisiertes Großgewerkschaftlertum, ein den Interessen eines fernen Landes sklavisch untergeordneter Kommunismus und ein wenig kräftiger, bedauerlich isolierter und mehrfach gespaltener Syndikalismus und Anarchismus. Der Internationalismus ist gänzlich verschollen: alle Sozialisten der Erde haben in diesen elf Jahren zur Linderung der Folgen des Nationalismus und für die Versöhnung der Völker nichts Wesentliches getan. Es kann nicht genug darauf hingewiesen werden, daß sechs der größten europäischen Länder in Macdonald, Briand, Hermann Müller, Stalin, Pilsudski heute Sozialisten erstrangiger Erfahrung und aller Grade der den autoritären Sozialisten eigentümlichen Entwicklungsarten als führende Männer an erster Stelle besitzen, ohne daß irgendeine Handlung dieser Männer den Völkern die geringste Hoffnung bringen würde und ohne daß sich die vielen Millionen sozialistischer Organisierter und Wähler darüber im geringsten aufregen. Man möchte fast glauben, daß die europäische Menschheit, - von wenigen Teilen einzelner Länder abgesehen, ihr Interesse für den Sozialismus bereits hinter sich hat und nun die Dinge gehen läßt, wie sie kommen mögen, da sie fühlt, daß doch alles früher oder später in regierende Hände gelangt und von Obrigkeitswegen für sie geordnet wird, wie die Hungerpfennige der Arbeitslosen usw.
Nun, mit all dem verflacht und verflüchtigt sich schließlich der letzte ideale Inhalt des autoritären Sozialismus, dessen praktischer Rahmen in den Bürokratismus und Fiskalismus übergeht, die noch jedes Volk im Innern verabscheut hat. So wird dann doch die Bahn frei werden für schaffende, intelligente, freiwillige Tätigkeit, und in dem weiten Umkreis dieses werden dann endlich Anarchisten und aus dem Syndikalismus hervorgehende Produktivgruppen usw. neben vielen andern sich frei Betätigenden zeigen, was sie können. Das ist die einzige Hoffnung, und ihre Verwirklichung könnte durch den Solidaritätspakt aller Freiheitlichen gegenüber allen Autoritären wesentlich beschleunigt werden, und selbst mit Autoritären könnten Neutralitätspakte (gegenseitige Nichteinmischung) abgeschlossen werden, da sie nun einmal ein der Zahl nach sehr großer und fest in der Vergangenheit verankerter, zwar unbelehrbarer, aber als Opfer ihrer Umgebung vielfach persönlich unschuldiger Teil der Menschheit sind, neben welchem wir selbst alle aufgewachsen sind, der also, wenn nicht verhetzt, zu normaler Soziabilität meist geeignet sein würde. Anders wird es kaum gehen, denn auch Revolutionen können nur vorhandene Entwicklungen im Ausmaß ihrer wirklichen Kräfte beschleunigen, nicht aber wunderbare Verwandlungen bewirken; das Wasser oberhalb und unterhalb des größten Wasserfalls ist eben dasselbe Wasser, und wenn die Kraftgewinnung aus demselben nicht sorgfältig vorbereitet ist, geht die revolutionäre Gelegenheit des Wasserfalls verloren. Es ist also mehr als genug zu tun, jederzeit und nie früh genug, um Aktionsbedürfnis für die Kräfte zu schaffen, die eine Revolution einmal entfesseln wird. Sonst ordnet sich alles wieder in leere Rahmen ein, auch wenn man sie Räte nennt, und solcher Einordnung folgt bald die Unterordnung unter gewählte Ausschüsse usw., der Beginn neuer Herrschaft, neuer Routine, neuer Gleichgültigkeit der Beherrschten, die nur fühlen, daß sie zu gehorchen haben.
Will man also den Sozialismus jeder Art wieder auf eine geistige Höhe bringen und in seinen Anhängern neuen sozialistischen Willen erwecken, muß man im breitesten Umfang Berührung mit den freiheitlichen Elementen suchen und sich von den Autoritäten jeder Art - von Neutralitätspakten, wo dies möglich ist, abgesehen - gänzlich trennen. Nur so lassen sich die Kräfte kommender Revolutionen seinerzeit freiheitlich verwerten. Eine Alleinherrschaft einer Richtung, wie sie sich auch nennt, muß immer eine Diktatur sein, eine physische oder eine moralische, da der einzige wirkliche Normalzustand, das menschliche Leben, eben die Vielartigkeit ist, die immer jede, auch die idealste, Gleichartigkeit überragen wird.
Ich weiß, daß man im freiesten Kommunismus eine Gleichartigkeit gefunden zu haben glaubt, die das freieste Spiel der Vielartigkeit ermöglicht und sich dadurch dem wirklich freien Leben am meisten nähern soll. In welchem Grade dies richtig und möglich ist, wird künftige Erfahrung lehren; jedenfalls deutet nichts darauf hin, daß eine solche Vollendung mit einem Sprung erreicht und verallgemeinert werden kann und daß ihre ökonomischen Grundlagen, Überfluß und vollste Arbeitsfreude, in nennenswertem Grade improvisiert werden können. Verkriechen wir uns also nicht in maßlos übertriebene Hoffnungen solcher Art, sondern sehen wir den schweren Problemen unserer traurigen Zeit direkt ins Auge: nur durch Weite des Blicks, Zusammenfassung aller freiheitlichen Kräfte und intelligente Vorbereitung der Zukunft mit Weglassung alles unsere Bewegungen beschwerenden alten Ballastes und Wustes können wir hoffen, uns in der wahren Entwicklungslinie zur Freiheit hin vorwärtszubewegen.
Originaltext: Max Nettlau: Über die Möglichkeiten freiheitlichrevolutionären Fortschritts, aus: „Die Internationale“, herausgegeben von der FAUD, November 1929. Nachdruck in: Max Nettlau: Gesammelte Aufsätze, Band 1. Verlag die Freie Gesellschaft 1980. Gescannt von anarchismus.at