Erich Mühsam - Tolstois Vermächtnis

Die Revolutionäre von heute hätten sich um Leo Tolstois hundertsten Geburtstag nicht bekümmert, wenn er in dem Augenblick gestorben wäre, als er sein dichterisches Werk abgeschlossen sah und die Zeit und die Mühe, die es ihn gekostet hatte, verfluchte, da er sie der Arbeit für die Wahrheit und für die Freiheit der Menschen gestohlen meinte.

Die Literaten, Kunstschwätzer und Schöngeister von heute hätten die Gelegenheit des hundertsten Geburtstages Leo Tolstois zum Ausschwitzen von Gedenkartikeln erst recht verpaßt, wenn er sein niedergeschriebenes Lebenswerk nicht mit der Kreutzersonate und Anna Karenina, sondern gleich mit dem Aufruf an die Menschheit begonnen hätte; denn sie hätten von solchem Lebenswerk eines prophetenhaften Riesengeistes nie erfahren, wäre ihnen dieser Geist nicht zuvor in ihren Fachbezirken begegnet.

Die Philosophen von heute halten sich ohnehin nicht für bemüßigt, vom hundertsten Geburtstag Leo Tolstois anders als mit dem Hinweis Akt zu nehmen, daß sein Vermächtnis in ein anderes Ressort gehöre, nämlich in das der schönen Literatur, der religiösen Sektiererei und der Politik.

Die historischen Materialisten haben es, wie bei allen Gelegenheiten so auch beim hundertsten Geburtstag Leo Tolstois am leichtesten, die richtige Einordnung seiner Persönlichkeit, seiner geistigen Kraft und der Wirkung seines Schaffens auf das Geschehen seiner Zeit und das Verhalten seiner Zeitgenossen und Nachfahren zu treffen, da sie über den Vorteil der marxistischen Patentlösung verfügen: man betrachte den Stand der kapitalistischen Produktionsweise in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, vergleiche damit das Lebenswerk Leo Tolstois und erkenne, daß seine Romane und Dramen, seine Lehren und Mahnungen, seine Entwicklung vom genießerischen Offizier zum asketischen Weltverneiner, seine Familienkonflikte und seine Verbrüderung mit seinen bäuerlichen Schloßnachbarn, seine künstlerische Meisterschaft und seine Verdammung der Künste, der Weltsitten, des Staates, der Ausbeutung, der Autorität und der Sinnenlust und endlich seine Flucht in die Einsamkeit die natürlichsten Begleiterscheinungen der ökonomischen Zustände seiner Zeit waren. Zwar waren Dostojewski und Turgenjeff, Zola und Ibsen, Hebbel und Keller, selbst noch Strindberg und Wedekind seine Zeitgenossen, um nur solche zu nennen, die über das dichterische Vermächtnis hinaus Gesellschaftskritik und soziale Ermahnungen ihrem Werke nachklingen ließen, und sie alle haben von Tolstoi gänzlich verschieden gelebt, gewirkt, gesehen, gedichtet, gesprochen, geurteilt und prophezeit, - macht nichts: wenn ihr die Dinge nur richtig historisch-materialistisch anschaut und dabei nicht versäumt, handfest dialektisch zu denken, werdet ihr begreifen, daß sie alle nur Kinder ihrer zeitgebundenen Wirtschaftsform waren und somit in ihrer aller Erscheinen und Aeußern nichts war, was den Marxisten vor Rätsel steilen könnte.

Es sei gestattet, den Eindruck beim Namen zu nennen, den die Festartikel der bürgerlichen und proletarischen, der literarischen und ethischen, der religiösen und atheistischen Gedenkschreiber zum hundertsten Geburtstage Leo Tolstois auf mich gemacht haben: ich erinnere mich nicht, jemals, wenn ein Kalenderzufall die Hirntätigkeit aller Meinungsmacher zur Behandlung eines bestimmten Gegenstandes beanspruchte, in sämtlichen Dialekten der Geistesverrenkung ein so hilfloses Geschwafel, ein so jammerwürdiges Vorbeireden an der wirklichen Erscheinung des Gefeierten vernommen zu haben. Man zerbröckelt das Lebenswerk der weitaus mächtigsten Persönlichkeit einer ganzen Geschichtsepoche in seine einzelnen Bestandteile, hält sorgfältig die Erzeugnisse einer dichterischen Kraft, die Denken, Leben, Verhalten, Urteilen, Aussehen, wechselseitige Beziehungen der Menschen mit unerhörter sachlicher Schärfe und mit der Unerbittlichkeit leidenschaftlicher Wahrheit zu lebendiger Wirklichkeit zu gestalten weiß, getrennt von den erschütternden Aufschreien einer seherischen Natur, die den klarsten Verstand eines Jahrtausends mit dem Reichtum seiner glutvollsten Seele nährte. Man beeifert sich, aus der gigantischen Wildheit schöpferischer Urgewalt eines unfaßbar großen menschlichen Geistes allgemeine Lebensregeln herauszudestillieren und bemißt an der Lebensführung der Privatperson Tolstoi die Richtigkeit oder Verkehrtheit seiner Weltanschauung und seiner Lehren.

Ja, es gibt sogar „Tolstoianer“. Das sind Leute, die glauben, wenn sie statt Schweinekoteletten Radieschen essen, statt Doppelkorn Orangeade trinken, Gott und Heiland aus den Klerikerkirchen zu den ernsten Bibelforschern verfrachten, die Revolutionäre händeringend beschwören, sie möchten doch, wenn sie die Welt umkrempeln wollen, dabei vor allen Dingen keine gefährlichen Werkzeuge verwenden, damit niemand zu Schaden komme, und, da Tolstoi ja leider auch die fleischliche Lust des Geschlechtsbetriebs verpönt, sich manchmal durch kalte Wasserumschläge gegen den Überschwang unkeuscher Begierden schützen, - dann werden sie ihres Meisters würdig leben und alle Zeitgenossen beschulmeistern dürfen, die ohne Angst, Darm und Gemüt zu vergiften, ihre Zigarre qualmen und selbst um des Kusses eines frischen Mädels willen mal eine Stunde weisen Geschwätzes über die wahre Tugend verabsäumen.

Tolstoi selber war alles andere als ein Tolstoianer. Diese Gestalt überhaupt auf eine Formel bringen wollen, heißt von ihrer Größe und Weltbedeutung unberührt geblieben sein. So vorsichtig man im allgemeinen mit der Bezeichnung eines Menschen als Genie sein sollte, hier ist gar kein anderer Begriff anwendbar. Hier wirkt ein Riese, dessen Maße in kein noch so schlau ausgedachtes System passen: ein Riese im Schauen, Horchen, Denken und Fühlen, ein Riese im sprachlichen Ausdruck und im seelischen Erfassen der Weit, ein Riese in der Klarheit seines Wollens und in der Wahrheit vor sich selbst, ein Riese in den Anforderungen an die eigene sittliche Kraft und an den Erkenntniswillen der anderen, ein Riese in der Folgerichtigkeit der Logik und ein Riese sogar in den Widersprüchen seiner Daseinsäußerungen. Wer aber von diesen Widersprüchen aus das Wesen Tolstois erklären will, wie das Lenin in seinem erstaunlich oberflächlichen Aufsatz zum 80. Geburtstag versucht hat, der jetzt von der kommunistischen Presse als aller Weisheit letzter Schluß ausgegraben worden ist, der beweist nur, daß ihn die Gewöhnung an schematisches Urteilen der Gabe beraubt hat, das Wirkliche als Synthese der Mannigfaltigkeit zu erleben. Für einen Mann wie Lenin, der nie müde wurde, für alle Kritik die Methode des dialektischen Urteilens zu empfehlen und der übrigens selbst aus hunderterlei Widersprüchen zusammengesetzt war, war die versimpelnde Charakteristik der überragenden Figur unseres ganzen Zeitalters mit der Aussortierung von lauter Einerseits-Andererseits schon eine bedenklich armselige Leistung. Nur langweilige Naturen sind frei von Widersprüchen; nur Spießbürger pochen mit Stolz darauf, daß sie sich in 30 Jahren oder länger niemals von einer Ansicht zu einer anderen haben überzeugen lassen, niemals vor entscheidenden Entschlüssen gezögert haben, das Schubfach aufzuziehen, in dem für alle Fälle und für alle Dinge des Lebens das unfehlbare Rezept jederzeit zur Hand liegt; nur kümmerliche Wachtmeisterseelen durchschnüffeln unentwegt die Vergangenheit des Nachbarn, um ihm im Handeln oder Denken triumphierend einen Fehltritt oder eine Inkonsequenz nachzuweisen. Mit solchen Albernheiten einem Genie wie Tolstoi beikommen wollen, bedeutet trostloses Unvermögen, über den Horizont einer beschränkten Lehrmeinung hinwegzusehen.

Leo Tolstoi muß, will man seiner ungeheuren Erscheinung nahe kommen, als einheitliche elementare Persönlichkeit, dabei zugleich als lebendiger und von Leidenschaften bewegter Mensch wie als revolutionäre, an den Grundfesten der Gesellschaft rüttelnde Naturgewalt erkannt werden. Seine Herkunft aus dem russischen Hochadel, seine Frühzeit als leichtlebiger Offizier, seine Zeitgebundenheit - nennt sie meinetwegen Verwurzelung in den ökonomischen Entwicklungszuständen -, seine Behinderungen durch enge Familienverhältnisse, die besonderen geistigen Bewegungskräfte seiner Umwelt, dies alles hat selbstverständlich auf sein Schaffen und Verhalten eingewirkt, insofern als alles Denken und Handeln mit zahlreichen Fäden an das unmittelbar Nahe in Zeit und Raum geknüpft ist und nicht in der leeren Atmosphäre hängen kann.

Aber dies bezieht sich doch nur auf das Thema des Erlebens und Wirkens, nicht auf den seelisch-geistigen Inhalt und die Art eines weltbewegenden Genies. Wer sich von Tolstois reißender Urkraft umbranden läßt, der wird nie die Frage stellen, ob er denn eigentlich mit seiner Auffassung über Sinn und Gestaltung des Lebens recht hatte oder nicht, ob sein Urteil über die Kunst, über sein eigenes Kunstschaffen dauernde Geltung habe oder nicht, ob der religiöse Mystizismus, aus dem seine Verwerfung des Lebensgenusses in jeder Form kam, unsere Haltung zu beeinflussen habe oder nicht, sondern der wird die Gesamtheit des Menschen Tolstoi zu erfassen suchen und die Wirkung seines Werkes und seines Wesens auf Gegenwart und Zukunft zum Wertmesser machen.

Wirkung! Alles andere in der Welt ist eitel. Tolstoi war ein Wirkender, wollte nichts anderes sein und sein Leben und Schaffen war ein unausgesetztes Ringen um Wirkung, das heißt um Verstandenwerden. Seht seine Romane, Novellen, Theaterdichtungen durch. (Bei dieser Gelegenheit sei eindringlich aufmerksam gemacht auf die 14 bändige schöne und preiswerte Ausgabe des dichterischen Werks Leo Tolstois, das der Malik-Verlag zum 100. Geburtstage veranstaltet.) Die unvergleichliche Darstellungskraft auch schon in den Schöpfungen, in denen der Dichter mit dem Willen zu wirken noch nicht unmittelbar den Willen zu werben verband, wie in der Kreutzersonate und in Auferstehung, sagen wir in Anna Karenina und Krieg und Frieden, beruht auf der Fähigkeit, immer und überall nur Wahrheit deutlich zu machen.

Will man Tolstois Charakter im ganzen auf eine Formel bringen, so kann sie nur die sein, daß alles, was er tat, sagte, dachte, schrieb, wollte und predigte, von dem unwiderstehlichen Drang nach Wahrheit und Bekennertum bestimmt war. So wahr wie seine überwältigenden Kriegsschilderungen in Krieg und Frieden, ist seine spätere Verdammung der eigenen Werke wie der Kunst insgesamt. Denn die Wahrheit, die Tolstoi zur Umkehr vom früheren Wege bewog, war die Einsicht, daß die Wirkung durch die Kunst nicht einfach, nicht unmittelbar genug sei, daß sie gehemmt sei durch den Ehrgeiz des Künstlers, verzierte Wahrheit zu geben statt wirkender Klarheit. Das Wahrheitsbedürfnis des Mannes ließ ihn seine philosophischen Betrachtungen über die Pflicht des Menschen bis zu völlig lebensverneinenden Folgerungen treiben, bis zur Forderung der widerstandslosen Hinnahme körperlicher Gewalt und bis zur Verdammung des geschlechtlichen Verkehrs. Zugleich aber konnte diese leidenschaftliche Natur wutpolternd mit den Fäusten zuschlagen, wenn der Augenblick es so von der Wahrhaftigkeit verlangte, und der Keuschheitsprediger konnte noch mit über 70 Jahren von der Arbeit aufspringen, weil er der Lockung der drallen Wade einer Stallmagd nicht widerstehen konnte, ohne vor sich selbst eine Unwahrhaftigkeit zu begehen. Dann wieder verlangte sein Bekennerdrang die Anklage gegen die Schwachheit des Fleisches im Tagebuch.

Wahrheitseifer läßt Tolstoi die christlichen Sittenlehren in sich aufnehmen, die den Bauern geläufig sind, mit denen er sich verständigen will, die er zur Anwendung ihrer sozialen Verpflichtungen bewegen will. Aber Wahrheitseifer läßt ihn auch gegen den Aberglauben der religiösen Dogmen donnern, die eine Gottheit außerhalb der menschlichen Seele behaupten, und derselbe Mann, der sich mit seinem Innern auseinandersetzt, indem er darin den Gott und Vater zum Zeugen seiner seelischen Kämpfe anruft, schreibt das Geständnis nieder: „Wenn ich mit eigenen Augen die Auferstehung und Himmelfahrt Christi gesehen hätte, würde ich nicht nur nicht daran glauben, ich würde einen Gott, der imstande wäre, solche Gemeinheiten zu begehen, verfluchen.“

Alle Bekenntnisse solcher Art, mögen sie einander vollständig entgegengesetzt sein, entspringen dem unbedingten Wahrheitswillen Tolstois, und es ist kein Widerspruch seiner Natur, sondern die notwendige Ergänzung der verschiedenartigen Kundgebungen einer genialen Mannigfaltigkeit, wenn, wie Maxim-Gorki erzählt, Tolstoi im Gespräch über sexuelle Dinge die krassesten Soldatenausdrücke benutzte und bei dem Bericht über eine Begegnung mit einer Frau grob die Frage zwischenwarf, warum der andere sie denn nicht gleich genommen habe.

Dieser gewitternde Geist, dem sich die ewigen Fragen der Moral und Religion in immer verschiedener Form zur Beantwortung vor den Wahrheitswillen stellten, erkannte die von Menschen getroffenen Veranstaltungen und Einrichtungen mit der nie getrübten kritischen Helligkeit eines Sehers in ihrer Faulheit, Abgeschmacktheit und verbrecherischen Unnatur. Hier gab es keine Gegensätze zwischen Erkenntnis und Temperament, hier folgte auf die erkannte Wahrheit unmittelbar die eindeutige Anklage und ihre Nutzanwendung. Mit einer sachlichen Logik, mit einer Deutlichkeit und Gründlichkeit im Ausdruck, die nur dem größten Sprachkünstler und dem uneigennützigsten Wahrheitssucher möglich ist, enthüllte Tolstoi das Wesen der staatlichen Gesellschaft, die Ungerechtigkeit aller menschlichen Beziehungen in der kapitalistischen Wirtschaftsgestaltung, die Tollheit des Kriegsdrills, der gegenseitigen Ausbeutung, des Nationalismus, der Machtausübung von Menschen über Menschen in jeder Form. Hier aber genügte Tolstoi zum Wirken unter den Menschen nicht die Darstellung ihres Elends; hier verlangte er Abwehr, Maßnahmen der menschlichen Würde gegen ihre Entwürdigung. Hier ist Tolstois Vermächtnis an unsere Gegenwart, sein Wirken durch uns Gegenwärtige in die Zukunft; hier erhebt sich der Tolstoi, dessen hundersten Geburtstag gelöbnishaft zu begehen unsere Verpflichtung ist, der Revolutionär Tolstoi.

Es ist völlig gleichgültig, ob Tolstoi seine revolutionären Ratschläge auf Worte der Bergpredigt und sonstige Evangeliensätze stützt oder sich ohne Umweg an das Gewissen der Menschen wendet. Von ungeheurer Bedeutung sind die Ratschläge selbst, die sich zusammenfassen lassen in den einen, der die Formel des revolutionären Widerstandes selbst ist: Wollt ihr ein Übel los werden, so beteiligt euch nicht daran. Wollt ihr keinen Krieg, so führt ihn nicht, wollt ihr keine Panzerkreuzer, so baut keine; wollt ihr keine Ausbeutung, so verweigert den Ausbeutern eure Arbeitskraft; wollt ihr keine Autorität, so verlernt den Respekt vor den Autoritäten; wollt ihr keinen Staat, so habt keine Angst vor ihm, vor seinen Gesetzen und Strafen; wollt ihr keine Sklaven sein, so duldet keine Herren, und wollt ihr nicht unwürdig leben, so lebt würdig oder sterbt würdig.

Die autoritären Kritiker versichern uns, Tolstoi sei kein Revolutionär gewesen, denn er habe jede Gewalt verneint. Auch gibt es vermeintliche Tolstoianer, die versichern uns, Tolstoi sei der allein richtige Revolutionär gewesen, daher sei niemand Revolutionär, der die Gewalt unter gewissen Bedingungen bejahe. Herrschaften. Tolstoi hat in allem, was er verkündet hat, um der Deutlichkeit willen absolut gesprochen. Da er den Krieg gehaßt hat, hat er die Kriegsgewalt verworfen, geächtet. Tolstoi wußte so gut wie einer, daß niemals das Absolute über die Lebendigkeit des Augenblicks herrschen kann. Tolstoi verwarf die Gewalt, um das Einfache, was er gegen den Krieg zu sagen hatte, nicht zu verwirren mit der Einschränkung durch Ausnahmen, wie sie das Leben schon selber schaffen wird. Tolstoi sagt in seinem Tagebuch: „Alles ist bedeutungslos außer dem, was wir in diesem Augenblick tun.“

Aus dieser Einsicht erklären sich alle scheinbaren Widersprüche in seinen eigenen Daseinsäußerungen; in ihr aber liegt die richtige Lehre enthalten, daß wir in strenger Wahrung unserer grundsätzlichen Erkenntnis dem Augenblick die Entscheidung über die Notwendigkeiten des revolutionären Kampfes überlassen sollen. Es hat Menschen gegeben, Schüler Tolstois, die dem Staate ihr Leben als Soldat verweigert haben, die es aber der Revolution mit der Waffe in der Hand zur Verfügung stellten. Leo Tolstoi hätte sie leuchtenden Auges als die wahren Versteher seiner Lehre gegrüßt. Unsere Pflicht ist es, diejenigen zu grüßen, die dem Staate die Gewalt für den Staat versagt haben, und die ihr Leben der Rache des Staates für diese revolutionäre Weigerung preisgaben. Der Zarismus hat diejenigen hingeschlachtet, die Tolstois anarchistische Lehren befolgt haben; da die russische Revolution anstatt der Freiheit einem neuen Staat den Weg freigab, sind die Befolger der Tolstoischen Ratschläge noch heute dort die Opfer autoritärer Machtansprüche einer Obrigkeit. Mögen die Bolschewisten den hundertsten Geburtstag Tolstois mit all dem lärmenden Jubel feiern, der bei ihnen seit langem das Fortbestehen abgedrosselter revolutionärer Freiheiten vortäuschen und den Jammer enttäuschter revolutionärer Begeisterung übertönen muß: die Tatsache, daß Tolstois nächster Mitarbeiter Tschetkoff zu dieser Feier nicht ins Land gelassen wird, daß die Jünger Tolstois, die auch dem bolschewistischen Staat das Recht zum Militärzwang absprachen, die Feier in Gefängniszellen oder in Sibirien begehen müssen und daß grundsätzliche Staatsgegner, wie Leo Tolstoi einer war, dort verfolgt und finster brutalisiert werden, zeigt, mit wie wenig Recht die herrschenden Kreise des heutigen Rußlands den großen Denker, Dichter und Mahner als einen der ihrigen in Anspruch nehmen.

Tolstoi litt namenlos unter dem Luxus und den falschen Freuden in seinem eigenen Hause. Mit 82 Jahren brach er auf, um in der Armut zu sterben, in der er die Arbeitenden des Landes leben wußte. Fern von verlogenen Konventionen, aber befreit vom Zwange jeglicher peinigenden Bevormundung schloß er die Augen. Er war einer der gewaltigsten Geister der Menschengeschichte, ein Fackelträger der Revolution und der Freiheit, eine treibende Kraft der russischen Revolution, deren strahlenden Glanz er nicht mehr sah, deren Verlöschen in Staatlichkeit und Klüngeldiktatur er nicht mehr zu erleben brauchte. Doch sie ist noch nicht tot, die russische Revolution. Die Arbeiter und Bauern des Landes wissen noch um die Freiheit, für die sie ihren herrlichen Kampf geführt haben; die großen Verkünder der russischen Befreiung, deren Leo Tolstoi einer der größten war, werden wieder auferstehen in den Herzen des Volks -  und das Licht leuchtet in der Finsternis.

Aus: Fanal, 3. Jahrgang, Nr. 1, Oktober 1928. Digitalisiert von www.anarchismus.at anhand des Nachdrucks aus dem Impuls Verlag (bearbeitet, Ue zu Ü usw.)


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