Leo Tolstoi - Zum Andenken an den Jahrestag der russischen Revolution (1905)
Ein Aufruf an das arbeitende Volk!
Am 22. Jänner werden es vier Jahre sein, die seit dem Erwachen des russischen Volkes verstrichen sind. Eine heldenmütige, die erste Etappe revolutionären Ringens liegt hinter diesem Volke, das mit zähester Ausdauer im Laufe weniger Jahre sich aus einem Jahrhunderte dauernden Bann emporgearbeitet hat.
Wohl enthält diese erste Periode die Tragik einer großen Enttäuschung und einer herben Verführung eines ganzen Volkes durch sein herrschsüchtiges Bürgertum, das die revolutionäre Volkskraft mißbrauchte, um für sich die gleichen Bedingungen der Ausbeutung, Beherrschung und Scheinfreiheit zu schaffen, unter denen wir Westeuropäer schon so lange stöhnen und leiden, die nur für die "oberen Schichten" der Gesellschaft von Wert sind, den Elendszustand für die Besitzlosen jedoch unberührt belassen.
Immerhin hat die russische Revolution weit rascher diese Erkenntnis gezeitigt, als wir, die in den aufgeklärten, liberalen, demo-konstitutionellen Ländern leben, uns ihrer rühmen können. Und darum feiern wir das Andenken des 9./22. Jänners als den Tag einer großartig anhebenden Geisteserweckung, die dem russischen Volke das Bewußtsein bringt: nicht Parlamente und bürgerliche Freiheiten sind das Ziel des revolutionären Menschheitskampfes, wohl aber die ganze Freiheit, die Befreiung vom Staate überhaupt, von der Unkultur jeder Versklavung menschlicher Arbeitskraft durch den unerbittlichen Götzen Privateigentum — sie sind das Ziel der Revolution!
Leo Tolstoi, einer der bedeutsamsten Denker des Anarchismus, hat sich durch all die Scheinerfolge einer veralteten Revolutionstaktik, die während der verflossenen vier Revolutionsjahre von den russischen bürgerlichen und den sogenannten revolutionären, sozialdemokratischen Parteien betätigt ward, nicht beirren und betören lassen. Er weiß es, sie alle streben nur darnach, die Bestie Zarismus zu stürzen, um selbst zur Bestie Autorität zu werden. Und deshalb sein so schlicht und doch wie ein Prophetenwort dröhnender Aufruf an das Volk, dessen letzten Teil wir nachfolgend übersetzten, während die zwei ersten Abschnitte sich an die russische Regierung und an die sozialdemokratischen Parteien wenden, sich natürlich gegen diese kehrend.
Die Übersetzung stammt aus dem Englischen, das Buch führt den Gesamttitel „Die russische Revolution" und ist im Verlage der Tolstoiansiedlung Christchurch, zu Hants in England, vor etwa Jahresfrist erschienen. Zur Gedächtniswürdigung der russischen Revolution an diesem Tage eignet sich wohl nichts besser, als dieser zündende Aufruf Tolstois, der seinem unablässig ringendem Volke die Binde von den Augen nimmt, ihm seine Zukunft und Aufgabe, uns allen unsere Kultur- und Weltzukunft enthüllt.
Die Redaktion
Leo Tolstoi - Ein Aufruf an das arbeitende Volk!
Ihr, arbeitendes Volk, und besonders ihr, Bauern und Landarbeiter, befindet euch heute in Rußland in einer besonders schweren Lage. Wie schwer es auch für euch war, mit wenig Land und schweren Steuern und Abgaben und Kriegen, welche die Regierung euch aufbürdete, zu leben, so lebtet ihr doch irgendwie, bis vor kurzem, indem ihr an den Zaren glaubtet, und überzeugt wäret, daß es sich ohne den Zaren und seine Autorität nicht leben läßt; und ihr unterwarft euch ergeben der Regierung.
Wie immer schlecht die Regierung des Zaren auch regierte, so unterwarft ihr euch derselben doch, so lange es nur eine Regierung gab. Jetzt aber, wo sich ein Teil des Volkes empört hat, und der Regierung nicht mehr Gehorsam leistet, sondern gegen dieselbe kämpft; wo es in manchen Orten anstatt einer Regierung deren zwei gibt, von welchen jede Gehorsam von euch fordert; da könnt ihr euch nicht länger der bestehenden Herrschaft unterwerfen, ohne zu überlegen, ob die Regierung euch gut oder schlecht regiert; Ihr habt zu wählen, welcher von beiden ihr euch unterwerfen wollt.
Was müßt ihr also tun? Nicht die Zehntausende von Industriearbeitern, die in den Städten herumhasten und herumgestoßen werden, sondern ihr, das große, ackerbauende Arbeitervolk von hundert Millionen?
Die alte Regierung des Zaren sagt euch: »Hört nicht auf die Rebellen; sie versprechen euch viel und werden euch betrügen. Bleibt mir getreu, und ich werde euch alle eure Bedürfnisse erfüllen.« Die revolutionären Parteien sagen: »Glaubt der Regierung des Zaren nicht, welche euch immer gequält hat und euch weiter quälen wird. Schließt euch uns an und helft uns — und wir werden euch eine Regierung schaffen , wie die in den freiesten Ländern. Dann werdet ihr selbst eure Herrscher wählen, und euch selbst regieren und alles Unrecht, das ihr erduldet habt, gut machen.«
Was sollt ihr tun? Die alte Regierung unterstützen? Aber ihr wißt, daß die alte Regierung seit langem verspricht, euer Los zu bessern, doch statt dessen euere größten Übel: Mangel an Land, sowie Steuern und Militärpflicht immer nur noch schwerer gemacht hat. Sich den revolutionären Parteien anschließen? Sie versprachen euch eine vom Volk gewählte Regierung, wie in den freien« Ländern. Aber wo immer solche vom Volk gewählte Regierungen bestehen, in den Ländern, die das größte Maß von politischer Freiheit haben, wie z.B. in der französischen und amerikanischen Republik, sind die Hauptübel des Volkes, gerade wie bei uns, nicht beseitigt. So wie bei uns oder sogar mehr, ist der Boden im Besitze der Reichen; so wie bei uns, wird das Volk mit Steuern und Abgaben überbürdet, ohne daß es darüber gefragt wird, und so wie bei uns, werden Armeen erhalten und Kriege erklärt, wenn die Herrschenden es wollen, ohne die Zustimmung des Volkes. Übrigens ist unsere neue Regierung noch nicht errichtet, und wir wissen nicht, wie sie sein wird.
Nicht nur, daß ihr keinen Nutzen davon habt, wenn ihr euch der einen oder anderen Regierung anschließt, sondern ihr könnt es gar nicht tun, wenn ihr euerer Überzeugung treu bleiben wollt. Die alte Regierung zu verteidigen, heißt Menschen in Gefängnisse werfen. Foltern, Hängen, in den Straßen erschießen. Frauen und Kinder hinmorden, wie dies in den letzten Jahren überall in Rußland geschieht. Aber den revolutionären Parteien zur Macht zu verhelfen, heißt auch zu töten, Bomben zu werfen, mit den Soldaten zu kämpfen, Menschen hinzurichten usw. Darum, Volk der Arbeitenden: jetzt, wo die Regierung des Zaren euch befiehlt, gegen euere Brüder zu kämpfen und die revolutionären Parteien euch befehlen, das selbe zu tun, müßt ihr ohne Zweifel, nicht nur zu euerem eigenen Nutzen, sondern euerer Überzeugung gemäß, weder die alte noch die neue Regierung unterstützen und weder an den Taten dereinen noch der anderen teilnehmen.
Nicht an den Taten der alten Regierung teilnehmen heißt: derselben nicht mehr als Soldaten, Polizisten, Gefängniswächter usw. zu dienen, und kein Amt oder keinen Dienst in irgend einer Staatseinrichtung anzunehmen. Nicht an den Taten der revolutionären Parteien teilzunehmen heißt: Sich nicht in Wahlen, Verschwörungen, Attentate, Plünderungen usw. mischen.
Zwei feindliche Regierungen versuchen es jetzt, euch zu beherrschen, und beide wollen euch zu grausamen, ungerechten Handlungen zwingen. Was könnt ihr anderes tun als keine Regierung mehr über euch anzuerkennen?
Man behauptet, daß es schwer und sogar unmöglich sei, ohne Regierung zu leben; aber ihr, russische Arbeiter, besonders ihr Bauern, wißt, daß wenn ihr ein friedliches, ai beitsvolles Landleben in eueren Dörfern führt, in brüderlicher Arbeit den Boden bebauend und euere gemeinsamen Angelegenheiten in der Dorfgemeinschaft (1) entscheidend, ihr gar keine Regierung braucht.
Die Regierung braucht euch, aber ihr, russische Bauern, braucht die Regierung nicht. Und darum, in diesen schweren Zeiten, wo es gleicherweise schlecht ist, sich dieser oder jener Regierung anzuschließen, ist für euch das einzig vernünftige und nützliche: keiner Regierung zu gehorchen.
Doch wenn dies für die Bauernbevölkerung gilt, was sollen die Arbeiter in den Städten, Fabriken und Bergwerken tun, von welchen es in manchen Ländern mehr gibt als Landarbeiter und deren Leben ganz in der Macht der Regierung ist? Sie sollten dasselbe tun, wie die Arbeiter in den Dörfern: keiner Regierung mehr gehorchen und mit aller Kraft bestrebt sein, zur Landarbeit und zum Landleben zurückzukehren.
Wenn einmal die Arbeiter in den Städten, sowie die Bauern in den Dörfern aufhören, der Regierung gehorsam zu sein und ihr zu dienen, wird mit dem Sturz der Macht der Regierung die Sklaverei, in welcher ihr lebt, von selbst aufhören, denn dieselbe wird nur durch die Gewaltherrschaft der Regierung aufrechterhalten. Und die Gewalt, welche die Regierung zu dem Zweck gebraucht, wird von euch selbst geliefert. Diese Gewalt allein ist es, welche alles, was zum Leben notwendig ist, mit Steuern und Abgaben belegt, welche die Gesetze macht, durch welche die Monopole und Vorrechte Einzelner, sowie das Privateigentum an Grund und Boden aufrechterhalten werden; nur diese Macht der Regierung hält euch, mit Hilfe der Armee, die aus euch selbst besteht, in fortwährender Unterdrückung und Unterwerfung, im Dienste der Regierenden und ihrer Verbündeten — den Reichen.
Wenn ihr, Arbeiter und Bauern, aufhört, der Regierung gehorsam zu sein, werdet ihr Industriearbeiter es nicht mehr nötig haben, ohne Wahl die Arbeitsbedingungen anzunehmen, welche euch die Kapitalisten, die Fabriksbesitzer und Unternehmerbieten; sondern ihr werdet ihnen selbst die Bedingungen stellen, unter denen ihr arbeiten wollt oder werdet anfangen, durch gemeinsame Arbeit in eueren Genossenschaften (2) selber alle die Sachen herzustellen, die zum Leben des Volkes notwendig sind; oder ihr werdet, da der Boden jedem in genügender Menge zur Benützung frei stehen wird, zu einem natürlichen Ackerbau betreibenden Landleben zurückkehren.
»Aber wenn das russische Volk plötzlich anfängt, auf diese Weise zu leben, nicht mehr der Regierung gehorchend — dann wird es kein Rußland mehr geben«, sagen jene, die glauben, daß das Bestehen von Rußland das heißt, die Vereinigung vieler Nationen unter einer Regierung — etwas Wichtiges, Großes und Nützliches ist.
In Wahrheit ist diese Vereinigung von vielen verschiedenen Nationen, welche Rußland heißt, nicht nur nicht von Wichtigkeit für euch, russische Arbeiter, sondern diese Vereinigung ist gerade die Hauptursache unseres Elends.
Wenn man euch mit Steuern und Abgaben überbürdet, wie man eure Väter überbürdet hat und riesige Staatsschulden anhäuft, welche ihr zu bezahlen habt; wenn man euch zwingt, Soldaten zu sein und an verschiedene Enden der Erde schickt, um dort mit Menschen zu kämpfen, mit denen ihr nichts zu tun habt, und die nichts mit euch zu tun haben — so geschieht dies alles nur darum, um Rußland, d.h. die erzwungene Vereinigung von Polen, dem Kaukasus, Finnland, Zentralasien, der Mandschurei usw. und anderer Völker unter derselben Regierung, zu erhalten. Aber außer dem, daß diese Vereinigung, die man Rußland nennt, die Ursache euerer Leiden ist, ist sie auch ein großes Unrecht, an welchem ihr gegen eueren Willen teilnehmt, wenn ihr der Regierung gehorsam seid. Damit dieses Rußland besteht, müssen die Polen, Finnen, Letten, Georgier, Tartaren, Armenier und andere Völker unterworfen werden. Und um sie zu unterwerfen, ist es notwendig, ihnen zu verbieten, so zu leben, wie sie wollen; und wenn sie diesem Befehl nicht folgen, sie zu bestrafen und zu töten.
Warum sollt ihr an dieser Ungerechtigkeit teilnehmen, wenn ihr selber darunter leidet? Laßt jene, die ein Rußland brauchen, welches über Polen, Georgien, Finnland herrscht — laßt jene sich die Sachen selber so einrichten, wie sie können. Was ihr braucht, ist etwas ganz anderes. Ihr braucht nur genug Land, und daß euch niemand die Früchte euerer Arbeit abnimmt, oder euch zwingt, Soldaten zu sein oder andere Ungerechtigkeiten zu begehen. Und diese Ungerechtigkeiten werden aufhören, wenn ihr nur den Befehlen der Regierung den Gehorsam verweigert jenen Befehlen, welche euch an Leib und Seele zu Grunde richten.
»Aber wie sollen die großen öffentlichen Angelegenheiten erledigt werden, wenn es keine Regierung gibt und alle Menschen in unabhängigen Gemeinden leben? Wie wird man den Verkehr, die Eisenbahnen, Telegraphen und Dampfschiffe, die Post, die höheren Erziehungsanstalten und Bibliotheken und den Handel und Austausch im Gange halten?« Die Menschen sind daran so gewöhnt, daß die Regierung sich in alle öffentlichen Angelegenheiten hineinmischt, daß es ihnen scheint, als ob die Regierung selbst diese Arbeiten vollbringen würde, und als ob es ohne Regierung unmöglich wäre, Hochschulen, Verkehrseinrichtungen, Postämter, Bibliotheken und Handelsbeziehungen zu organisieren. Das ist aber nicht wahr!
Die ausgedehntesten öffentlichen Angelegenheiten, nicht nur nationale, sondern auch internationale, werden durch die Menschen selbst, ohne die Hilfe der Regierung erledigt. Auf solche Weise werden alle internationalen Vereinigungen für Postverkehr, Wissenschaft, Handel und Industrie organisiert. Die Regierung hilft diesen freiwillig gebildeten Vereinigungen nicht — im Gegenteil, immer wenn sie sich in deren Angelegenheiten hineinmischt, hindert sie dieselben nur.
»Aber wenn ihr der Regierung nicht gehorcht und keine Steuern zahlt und keinen Militärdienst leistet, dann werden fremde Nationen kommen und euch unterjochen«, sagen jene, die über euch herrschen wollen.
Glaubt es nicht! Wenn ihr das Land als gemeinsames Eigentum aller anerkennt, nicht Soldaten werdet, keine Steuern zahlt (außer solchen, die ihr freiwillig für allgemein nützliche Arbeiten hergebt) und euere Streitigkeiten auf friedliche Art durch euere Dorfgemeinschaften erledigt — dann werden die anderen Völker, das gute Leben sehend, das ihr führt, nicht danach trachten, euch zu unterwerfen; oder, wenn sie kommen, werden sie selbst euer gutes Leben nachahmen, sobald sie es kennen lernen, und anstatt mit euch zu kämpfen, werden sie sich mit euch vereinigen. Denn alle Völker, gerade so wie ihr, leiden unter den Regierungen; unter dem Kampf (im Krieg und auf wirtschaftlichem Gebiet) der verschiedenen Regierungen untereinander, und unter dem Kampf der Rassen, Klassen und herrschsüchtigen, politischen Parteien.
In allen christlichen Völkern geht eine innere Arbeit vor sich, deren Hauptbestrebung die Befreiung von der Regierung ist; aber diese Befreiung ist besonders schwer für solche Nationen, wo die Mehrzahl der Menschen den Ackerbau aufgegeben hat und sich in Städten mit industrieller Arbeit beschäftigt und von den Früchten der Arbeit anderer Rassen lebt. Bei diesen Völkern wird die Befreiung durch den Sozialismus vorbereitet. Aber für euch, russische Arbeiter und Bauern, die ihr zum größten Teil ein Ackerbau betreibendes Leben führt und mit euerer eigenen Arbeit die Sachen erzeugt, die ihr selber zum Leben braucht, ist diese Befreiung besonders leicht. Die Regierung hat für euch längst aufgehört, eine Notwendigkeit oder eine nützliche Einrichtung zu sein und ist zu einem großen und ungerechtfertigten Übel geworden. (3)
Die Regierung, und nur die Regierung, entzieht euch durch ihre Macht das Land. Nur die Regierung nimmt euch in Steuern und Abgaben den größten Teil der Früchte unserer Arbeit weg. Nur die Regierung entzieht euch die Arbeit euerer Söhne, indem sie dieselben zu Soldaten macht und in den Tod schickt. Aber die Regierung ist keine notwendige Bedingung des menschlichen Lebens, das bestehen wird, so lange die Menschheit besteht, wie das Bebauen des Bodens oder das gesellschaftliche Zusammenleben; — die Regierung ist eine Einrichtung, welche Menschen begründeten, als sie dieselbe brauchten, und welche die Menschen wieder abschaffen werden, sobald sie überflüssig wird.
In alten Zeiten wurden Menschenopfer, Götzenanbetung, Zauberei, Folter, Sklaverei und solche Sachen mehr eingeführt. Aber in dem Grade, wie die Menschen vernünftiger wurden, wurden diese Einrichtungen als überflüssige und schädliche Bürden abgeschafft. So geht es auch mit der Regierung. Die Regierungen entstanden, als die Völker wild, grausam und roh waren. So waren die Regierungen, die zur Macht gelangten, auch wild, grausam und roh; und bis zum heutigen Tage sind die Regierungen aller Arten ebenso roh geblieben, wie sie im Anfang waren, mit ihren gewaltsamen Steilereintreibungen, ihren Armeen, Gefängnissen und Hinrichtungen. Aber die Völker werden vernünftiger und brauchen solche Regierungen immer weniger, und heutzutage sind die meisten Völker so weit, daß die Regierung bloß ein Hindernis für sie ist.
Das Ei hat eine Schale nötig, so lange der junge Vogel nicht ausgebrütet ist. Wenn der Vogel fertig ist, so ist die Eierschale bloß ein Hindernis für ihn und wird abgestreift und zerbrochen. So ist es auch mit den Regierungen: ein jedes Volk fühlt dies, und gerade das russische Landarbeitervolk fühlt das heute besonders scharf.
»Die Regierung ist notwendig, wir können ohne Regierung nicht leben«, sagen manche Leute, und sie sind besonders jetzt von diesem überzeugt, wo es unter dem Volke Unruhen gibt. Doch wer sind diese Leute, die so besorgt um die Erhaltung der Regierung sind? Es sind gerade jene Menschen, die von der Arbeit des Volkes leben, sich dieser Ungerechtigkeit bewußt sind, fürchten, daß man dieselbe aufdeckt, und hoffen, daß die Regierung (welche durch gemeinsame Interessen an sie gebunden ist), ihre ungerechten Taten durch Gewalt beschützen wird. Für diese Leute ist die Regierung sehr notwendig; aber nicht für euch — die Bauern und Arbeiter. Für euch war die Regierung immer nur eine Last; und jetzt, da dieselbe durch ihre Mißwirtschaft Empörungen hervorgerufen, und die Sachen so weit gebracht hat, daß es zwei sich bekämpfende Regierungen gibt, ist sie zu einem großen Unglück und Übel geworden, welches ihr um eueres körperlichen und geistigen Wohles willen zurückweisen müßt.
Ob ihr, arbeitendes Volk von Rußland, euch auf einmal vom Gehorsam gegen jede Regierung befreit, oder ob ihr noch eine Zeit unter der Macht der alten oder neuen Regierung (oder etwa einer fremden Regierung) leiden müßt — ihr, russische Arbeiter, habt keine andere Wahl, als der Regierung nicht mehr zu gehorchen und euer Leben ohne dieselbe einzurichten.
Ihr, Landarbeiter und Bauern, sowie Arbeiter der Städte, werdet im Anfang vielleicht durch die alte wie durch die neue Regierung für eueren Ungehorsam zu leiden haben — sowie auch durch Uneinigkeiten untereinander; aber all die Übel, die dadurch entstehen können, sind wie nichts im Vergleich mit den Übeln und Leiden, welche ihr durch die Regierung jetzt erduldet und noch erdulden werdet, wenn ihr (der einen oder anderen Regierung gehorchend) an dem inneren Krieg, den Morden und Hinrichtungen teilnehmt, welche jetzt und noch für lange Zeit von den zwei sich bekämpfenden Regierungen verübt werden — wenn ihr denselben durch euere Weigerung, an ihnen teilzunehmen, nicht ein Ende macht.
Wenn ihr dem folgt, was diese oder jene Regierung von euch verlangt; wenn ihr, zur Unterstützung der alten Regierung, euch in einen Kampf mit den revolutionären Parteien einläßt und in der Armee, der Polizei oder den »Schwarzen Banden« (4) Dienste nehmt; oder wenn ihr, um den revolutionären Parteien zur Macht zu verhelfen, an Wahlen und Parlamenten teilnehmt — dann werdet ihr, ganz abgesehen, davon, daß ihr euch mit Ungerechtigkeit beladet und schweren Leiden aussetzt, nicht einmal Zeit haben, euch umzuschauen, ehe die eine oder die andere Regierung (wenn es auch die ist, welcher ihr zum Sieg verholfen habt) die mörderische Schlinge der Sklaverei — unter welcher ihr gelebt habt und noch jetzt lebt — wieder um eueren Hals legt.
Wenn ihr euch nicht fügt und weder der einen noch der anderen gehorcht, wird all euer Elend aufhören, und ihr werdet frei sein!
Anmerkungen:
1.) In den russischen Dörfern ist alles Land, das den Bauern gehört, das gemeinsame Eigentum der ganzen Gemeinde (russisch Mir). Jede Familie bekommt im Verhältnis zur Anzahl ihrer arbeitsfähigen Mitglieder ein Stück von jeder Art des Bodens zur Bearbeitung und Nutznießung angewiesen; von Zeit zu Zeit findet eine neue Aufteilung des Landes statt. Dies und alle gemeinsamen Angelegenheiten werden durch die Beschlüsse der allgemeinen Versammlung der ganzen Gemeinde erledigt, welche aus sämtlichen Familienoberhäuptern des Dorfes besteht. (Anm. d. Red.)
2.) Die Arbeiter, die im selben Beruf, am selben Unternehmen beschäftigt sind, bilden in Rußland fast immer Genossenschaften (Artel genannt), durch welche sie ihre Beziehungen zum Unternehmer, sowie die Verteilung der Arbeit und des Gewinnes unter einander, wie auch ihr gemeinschaftliches Leben organisieren. (Anm d. Red.)
3.) Damit meint Tolstoi natürlich nicht, daß für die industriellen Arbeiter die Regierung ein weniger großes Übel ist, oder daß der Sozialismus die Regierung und den Staat für eine Weile beibehalten muß, wie die Sozialdemokraten es behaupten. Unsere Befreiung liegt nach ihm auf demselben Wege, den er für Rußland zeichnet; nur meint er, daß die proletarisierten, westlichen Nationen denselben schwerer und langsamer zurücklegen werden. Es liegt an uns, diese Prophezeihung zu widerlegen. (Anm. d. Red.)
4.) Banden von Mördern und Plünderern, die die russischen Behörden aus den Ärmsten der Bevölkerung durch Branntwein und Lügen zusammenwerben und gegen die Revolutionäre hetzen. (Anm. d. Red.)
Aus: "Wohlstand für Alle", 2. Jahrgang, Nr. 2 (1909). Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ae zu ä, That zu Tat usw.) von www.anarchismus.at.