Johann Most - Eseleien
Unsere Vorfahren waren doch rechte Esel; glaubten sie da schlankweg, die Erde sei ein im Mittelpunkte des Universums festgenagelter Klotz, um den sich "Sonne, Mond und Sterne", wie die Bibel-Astronomen juxhaft dozieren, in gottbegnadetem Reigen drehen.
So sprechen jetzt alle; noch vor vierhundert Jahren konnte ihnen aber die Ansicht, welche heute in Bezug auf Erde und Universum allgemein obwaltet, sehr gefährlich werden und kalte Kerker und warme Schafotte eintragen.
Was wir jetzt als einen groben Irrtum erkannt haben, das war damals Weisheit; was damals Weisheit war, zeigt sich jetzt als Einfaltspinselei. Das oben angeführte Beispiel ist nur eine Sache, welche zur Illustration herausgegriffen wurde; tausend andere Dinge haben einen gleichen Wandel durchgemacht.
Nichts wäre aber ein größerer Irrtum, als die etwaige Annahme, daß die Ära der Irrtümer heutzutage abgeschlossen sei.
Wir sagen nicht zu viel, wenn wir behaupten, daß neun Zehntel aller jetzt lebenden "Kultur"(?)-Menschen von einer Eselei in die andere fallen, ohne auch nur zu ahnen, wie sehr sie bis über die Ohren in Irrtümern befangen sind.
Man könnte über dieses Thema eine Bibliothek von hundert anderthalbfüßigen Folianten schreiben, und man würde es trotzdem nicht erschöpfen, so ungeheuerlich verrückt ist die durchschnittliche Denkweise der meisten sogenannten Menschen. Wo man hinblickt, stößt man auf verkehrte Auffassungen, demgemäß auch auf blödsinnige Schlußfolgerungen, kurzum, auf total unlogische Kreuz-und Quersprünge verhunzter Gehirne.
Wir können aus diesem Grunde auch nicht daran gehen, die Eseleien der Menschen etwa zu rubrizieren. Wir können höchstens die zweibeinigen Esel generell in Klassen bringen. Da unterscheiden wir dann:
1. Religions-Esel,
2. Politische Esel,
3. Ökonomische Esel, und
4. Phantasie-Esel.
Zur Klasse Numero 1 gehört der Mensch, welcher mit irgendeiner Religion behaftet ist; denn eine Religion, welche sich, bei Lichte besehen, nicht als eine grandios-blödsinnige Eselei darstellt, müßte erst noch erfunden werden. Sollte sich irgendein Leser von der Unwiderleglichkeit dieser These überzeugen wollen, so kann er es in der "Gottespest und Religionsseuche" nachlesen.
Wir machen es in der Begründung dieses unseres Ausspruches an dieser Stelle kurz. Die moderne Naturwissenschaft hat an jenem Orte, den man früher für den "Himmel" ansah, sozusagen eine Hausdurchsuchung vorgenommen und nirgends auch nur die Spur von einem "Gott" entdecken können. Sie hat den in den Eigenschaften (Kräften) der Materie wurzelnden Mechanismus der Welt studiert und herausgefunden, daß für einen "Gott" nicht einmal ein Daseinszweck existiert. Sie hat den "Engeln" mit der Fackel der Erkenntnis heimgeleuchtet, d.h. sie in Luft und Duft aufgelöst, und den Teufel kalt gestellt. Der tierischen "Seele" ist sie mit dem Seziermesser begegnet und hat dieselbe auf dem Wege der Vivisektion wie Brot gewissermaßen in Scheiben geschnitten und so deren greifbares Dasein illustriert. Damit wurde gleichzeitig das "Leben nach dem Tode" zu Essig gemacht.
Wer trotz solcher Beweise über die Windigkeit aller und jeder Religionsbasis noch an "Gott" glaubt, auf ein "Jenseits" hofft und sich vor dem "Teufel" fürchtet, ist ein Esel. Könntet Ihr die Kirchen und deren Besucher in jedem Lande zählen, so könntet Ihr Euch ungefähr einen Begriff davon machen, welch eine riesige Eselsherde sich und anderen noch immer im Wege steht.
Auf dem Gebiete der Politik ist die Eselei nicht geringer zu verspüren, als auf dem der Religion.
In einem Lande diktiert irgendein ruppiger Strolch dem ganzen Volke, was es zu tun und zu lassen und wieviel jeder zu berappen habe, damit er gründlich und systematisch gebüttelt und geschunden werden kann. Dieser Grobian und anmaßliche Ruppsack läßt sich Kaiser oder König, "Majestät" u.s.w. nennen, leitet seine Macht von "Gottes Gnaden" ab, während man in Wirklichkeit, bei gründlicherer Befühlung und Beaugenscheinigung seines Stammbaums, auf einen Räuberhauptmann, Buschklepper oder Vagabunden stößt; und Millionen Menschen beugen sich vor ihm in den Staub, suchen sich an Speichelleckereien zu überbieten, spielen mit einem Worte eine Rolle, deren sich selbst ein Tanzbär, dem man einen Ring durch die Nase gezogen hat, schämen würde. Ganz schiefe Ansichten über das Recht zum Regieren ziehen, wie Maden auf dem Käse, durch die Schädel der Regierten. Das sind die "Untertanschafts"-Esel.
In einem anderen Lande herrscht "Volkssouveränität", wie z.B. in Amerika. Da stehlen die Reichen in ihrer Eigenschaft als "Politiker" aus allen Kassen, und damit das Volk nicht zu sehr schimpft, läßt man es alle Jahre oder alle paar Jahre darüber abstimmen, ob und wie weiter gelangfingert werden soll, eventuell, wer die Dieberei verüben dürfe. Diese Fragen werden so laut aufgeworfen und diskutiert, daß der unbeteiligte Augen- und Ohrenzeuge zu der Ansicht kommen muß, es trieben da nur ausgewachsene Gassenbuben ein frivoles Possenspiel. Das sind die Souveränitäts-Esel.
Sieht man aber von diesen politischen Spezial-Eseleien ganz und gar ab und hat man lediglich den Menschen in seiner Eigenschaft als Staatsbürger im allgemeinen im Auge, so kommt erst recht Eselhaftes zu Tage.
Kann sich ein in der Pferche geborener Esel ein Dasein ohne Stall vorstellen? Keineswegs! Geradeso geht es dem in irgendeinem staatlichen Organismus zur Welt gekommenen Menschen. Der meint, eine außerstaatliche Existenz sei rein undenkbar.
Wo sollte es wohl hinaus, meint so ein Staats-Asinus, wenn kein Fuhrmann, resp. Regierer, keine Pferche (lies Gesetze), keine Haslinger oder Zuchtmittel etc. mehr existieren? Die Menschen würden ja rein alles auf den Kopf stellen. Hier ertappen wir den Menschen bei kanailleusem Bewußtsein. Trotzdem er merken könnte, daß diejenigen, welche die Autorität spielen, Gesetze machen und handhaben, regieren und herrschen, über sich nichts derartiges anerkennen, also recht gut unbeherrscht und staatlich unbeengt existieren, will ihm das wahre Verhältnis der Dinge nicht in den Kopf hinein. Er merkt nicht, daß der Staat eigentlich nur eine Gewaltsorganisation derjenigen ist, welche das Volk ausbeuten und betrügen; daß alle Staatseinrichtungen nur den Zweck haben, die faustrechtlichen Betrüger vor etwaiger Rache oder Widersetzlichkeit ihrer Opfer zu schützen; er bildet sich vielmehr ein, daß der Staat ein idealistisches Gebilde sei, welches sich dazu eigne, vor allem denjenigen Hilfe angedeihen zu lassen, die individuell zu schwach sind, um auf einen grünen Zweig zu kommen.
Jeder blättert heutzutage mehr oder weniger in Geschichtsbüchern herum; bei dieser Gelegenheit sollte es keinem entgehen, daß man den Staat, schon seit es diese Maschinerie gibt, beständig zu flicken und umzuwandeln sucht, und daß trotz alledem nie etwas Vernünftiges oder Gerechtes entstand. Eine so hartnäckige Verstocktheit im verkehrten Denken ist eine Geisteskrankheit, welche man füglich Staatseselei nennen muß, und die mehr als neun Zehntel aller Menschen schändet und blamiert.
Wie in religiösen und politischen Beziehungen, so sieht es auch in ökonomischen Angelegenheiten aus. Alles steht da auf dem Kopfe. Der Nichtarbeiter hat hohe Einkünfte; wer sich von Morgens bis Abends abrackert, wie ein Karrengaul, der hat nicht einmal immer darauf zu rechnen, daß er regulär gefüttert und bestallt wird. Dem Reichen fliegen ohne sein eigenes Hinzutun weitere Schätze förmlich zum Fenster herein; den Armen umkreisen hunderterlei Schmarotzer, welche darauf bedacht sind, ihm das Letzte abzujagen. Jeder könnte es merken, daß der Reichtum nur ein Produkt der Arbeit ist; und da er sich im Besitze solcher befindet, die nicht arbeiten, so müßte auch jeder einsehen, daß die Arbeitsleute von den Parasiten um das Ihrige geprellt werden. Der Arme müßte demgemäß im Reichen seinen Todfeind erblicken und ihn demgemäß behandeln. Er hat aber einen Heidenrespekt vor ihm. "Wenn es keine reichen Leute gäbe," hört man alle Tage idiotisieren, "hätten die Armen gar nichts mehr zum Leben."
Der Gesellschafts-Esel streckt seine langen Ohren überall hervor, wo immer die Menschheit ihr jammervolles Dasein bekundet.
Nun kommen aber gar noch schöngeistige Philosophierer, welche, obgleich sie nicht in Abrede stellen, daß so ungeheuer vielerlei und massenhafte Eseleien existieren, das Übel zu kurieren wähnen, wenn sie - neue Eseleien auszutüfteln suchen. Sie setzen überall ihre Weisheitstrichter an und pumpen gelehrtes Wasser in die hohlen Schädel. Sie projektieren, resolvieren und spekulieren buchweise in der Luft herum; sie fassen alle erdenklichen Schäden an irgendeiner Stelle an, nur nicht beim rechten Zipfel. Da sie außerhalb des praktischen Lebens stehen, kennen sie die Welt gleichsam nur vom Hörensagen, wollen aber gleichwohl alles reformieren. Ihre Vorschläge sind gewöhnlich von der schnurrigsten Art und bilden jene hohlen Nüsse, welche das Publikum zwischen die Zähne nimmt, um von einer Täuschung zur anderen gefoppt zu sein. Das sind die Phantasie-Esel.
Auf alle diese Eseleien ist der Anarchismus wie ein Donnerwetter gefahren. Derselbe zieht sie an's Licht und sucht sie auszumerzen. Da er auf durchaus realistischen Anschauungen fußt, so ist er auch berufen, die Dinge in's rechte Geleise zu bringen.
Weil der Anarchist weiß, daß es so ungeheuer viele Eseleien in der Welt gibt, so sucht er die Ursachen derselben auf. Er entdeckt sie in den heute herrschenden Systemen, in Kirche, Staat und Privatkapital, deshalb proklamiert er deren Zerstörung. Seine Parole lautet:
Weg mit der Religion!
Weg mit dem Staat!
Weg mit dem Privateigentum!
Wer kein General-Esel ist, wird mit der Zeit diese Devisen begreifen und danach handeln. Genug der Eseleien! Räumen wir auf damit!
Aus: Johann Most – Marxereien, Eseleien und der sanfte Heinrich. Verlag Büchse der Pandora, 1985. Zuerst erschienen in Mosts Zeitung "Freiheit“ am 19.9.1885. Digitalisiert von www.anarchismus.at