Johann Most - Crankismus
Man hat unser Jahrhundert schon das Jahrhundert des Militarismus, des Kapitalismus und der Henker mag wissen, was sonst noch genannt. Viel passender wäre es, das 19. Jahrhundert das des Crankismus zu nennen.
Unsere Vorfahren waren sicherlich auch nicht recht bei Trost, und deren Geschichte liest sich wie die Chronik einer Irrenanstalt, wie jeder ohne weiteres zugeben wird, wenn er nur einen Augenblick seine Nase in eines jener Gesetzbücher steckt, die, wie z.B. die "blutige Karolina", Jahrhunderte lang jede "Gerechtigkeits"-Bude in eine Folterkammer oder ein Schlachthaus verwandelte.
Besonders schlagend wird jeder überzeugt von der Verrücktheit unserer Altvorderen sein, wenn er an die von denselben inszenierten Hexen- und Ketzerprozesse denkt, oder wenn er sich beispielsweise in's Gedächtnis zurückruft, daß dieselben in Jahrzehnte langen Kriegen ganze Länder verwüsteten, weil sie sich nicht darüber einigen konnten, ob eine Oblate Christusfleisch nebst Blut bedeute und zum Götterfraß genüge, oder ob man Wein dazu saufen müsse, der in solchem Falle das nötige Herzblut vorstelle.
Aber diese Menschen waren ja stockdumm, hatten einerseits die Affenhaut noch nicht abgestreift, andererseits ihre artikulierte Sprache nur dazu angewendet, um sich gegenseitig Religionsdunst vorzuliedern oder sonstwie papageienmäßig herzuleiern. Halb Tier, halb Aberglaubenspinsel, war der Mensch der Vergangenheit nichts weiter als ein "Kultur"-Idiot.
Seitdem ist auf intellektuellem Gebiete ungeheuer viel geschehen. Die Denker hatten unter stetiger Gefahr, von besagten Idioten in Stücke gerissen, lebendig verbrannt oder sonstwie maltraitiert zu werden, geforscht und geforscht und nimmer gerastet, bis sie sich über die den Menschen umgebende Natur, über dessen Stellung zu und in derselben und über sie selbst in's Klare kamen. Sie verkündeten die gefundenen Wahrheiten und bewerkstelligten eine förmliche Revolutionierung der Geister. Erfindungen und Entdeckungen von nie geahnter Tragweite folgten einander in eiliger Hast. Die Wissenschaft kam zu Ansehen und stampfte wahre Weltwunder aus der Erde. Neue Arbeitsmethoden wurden angewandt - Manipulationen, vermöge welchen unter Anspannung der Naturkräfte und unter rationellem Zusammenwirken vieler zu gemeinsamen Zwecken in immer kürzerer Zeit- mit immer weniger menschlichen Arbeitskräften immer mehr Güter erzeugt werden konnten.
Und das Resultat? Eine Bande von Rieseneigentümern, die nicht den geringsten Grund für ihr nimmer rastendes Anhäufen von Werten anzugeben vermag - die Kerle sind doch sterblich wie andere - und ein unübersehbares Heer von Sklaven, so besitzlos, so existenzunsicher, so elend und überarbeitet, wie nur je eine Sklavenrotte war.
Nicht genug mit solcher Verrücktheit! Die Reichen, die Träger der jetzigen "Kultur" und zugleich die Inhaber der organisierten öffentlichen Gewalt und Vorsteher der wirklichen Erziehungsinstitute (für ihre Nachkommen) und der angeblichen Bildungsstätten (Volksschulen "im Dienste gegen die Freiheit", Kirchen, Zeitungen schuftiger Tendenz etc. für die Sklavensprößlinge) sorgen dafür, daß noch viel mehr Absurditäten zu Tage treten.
Obwohl sie - die Aufgeklärten und Ungläubigen! - mit Hochdruck daran arbeiten, daß ihren Ausbeutungsopfern ein gehöriger Glauben an ein "besseres Jenseits" eingepaukt wird, damit sie sich leichter über ihr Dasein im "irdischen Jammertale" trösten, trauen sie dem Frieden nicht. Ihr schlechtes Bewußtsein, ihre Selbsterkenntnis, nichts weiter zu sein, als ein Schmarotzergezücht, das bis auf die nackten Vegetationsunkosten den Schöpfern aller Güter alles abgaunert, sagt ihnen, daß die so Bestohlenen, Beraubten und Betrogenen früher oder später - einzeln oder in Massen - ungemütlich werden und das ihnen Abgenommene zurückfordern dürften.
Deshalb werden ganze Heere von Wächtern - Soldaten, Gendarmen, Polizisten usw. - angestellt, um den Raub zu beschützen. Es werden Gesetze geschmiedet, vermöge welchen die Interessen der Reichen wider die der Armen gewahrt werden können. Es werden Gerichtsmühlen in Gang gesetzt, Zuchthäuser errichtet, Schafotte aufgestellt, um die armen Teufel zu schrecken und zu maltraitieren.
Millionen von Menschen werden in Tätigkeit versetzt, um diese Protektoren verrückter Schurken zu kleiden, zu ernähren, zu bewaffnen usw., um Festungen zu bauen, Zwinger aufzuführen, Kanonen zu giessen, Kriegsschiffe herzustellen, Torpedos zu laden etc. etc.. Lauter unnütze Fresser. Von den Tramps, Prostituierten etc. durch diese Gesellschaft Degradierten gar nicht zu reden.
Wenn man diese Gesellschaft in Regionen eingeteilt aus der Vogelperspektive betrachten könnte selbst der Dümmste würde nicht begreifen können, wie eine solche Narretei auch nur einen einzigen Tag lang existieren konnte.
Hier nur eine kleine Skizze!
Im Zentrum Kaiser- und Königsschlösser, Ritterburgen und Prunkpaläste der Industrie- Fürsten und Landwirtschafts-Cäsaren - sicherlich allein ein Gebiet bedeckend, so groß wie ganz Paris. Mit den Lustparks, Jagdgehegen, Landhäusern usw., welche damit zusammenhängen, würde wohl ein Gebiet in Anspruch genommen werden, größer als das Königreich Bayern.
Man denke sich ferner einen breiten Gürtel, der sich um dieses Gebiet zieht und der bedeckt ist mit Kasernen, Kirchen, Festungen, Gerichtshallen, Zuchthäusern und belebt von all jenen, die da mit solchen Institutionen zusammenhängen oder die das herbeischaffen, was zu deren Unterhaltung dient. Welch' eine ungeheuerliche Masse von unnützen Menschen und Dingen!
Dann wieder die Region der Börsen, der Handelskammern, der Kaufbazare, der Hin- und Her-Schacherei-Gebäude, die lediglich die allgemeinste gegenseitige Betrügerei ermöglichen! Alles belebt von Warenfälschern, von Etikettenmachern, von Agenten und Reisenden, welche sich im wahnwitzigsten Schnellaufe gegenseitig die Wege zu kreuzen suchen, nach allen Windrichtungen ausschwärmen - alle nur bestrebt, die Käufer zu prellen, das konsumierende Publikum zu betrügen, keiner etwas erzeugend, keiner nützlich tätig!--
Dann wieder eine Region von Vergnügungs-Etablissements - Theatern, Konzerthallen, Rennplätzen usw. usw. - alle fast ausschließlich nur frequentiert von den bis jetzt genannten Nichtproduzenten und Nurkonsumenten! Welch' eine Summe von Arbeitskraft ist darin aufgespeichert! Welch' eine Fülle von Tätigkeit wird da entfaltet, um Leute zu amüsieren, deren Nutzen für die Gesellschaft Null ist.
Dann käme allerdings der breiteste Gürtel - die Region der faktisch Arbeitenden. Aber wie erbärmlich sieht es in demselben aus. Das sind ja ganz andere Menschen. Während die früher erwähnten Schmarotzer-Kategorien von Üppigkeit strotzen, sieht man hier mehr oder weniger verkrüppelte, blutarme, verelendigte, lebenssatte Gestalten - schmutzig, schmierig, gebückt, vergrämt. Das sind die wahren Herren der modernen Schöpfung! Ihre Hüllen sind Lumpen und Lappen, ihre "Heimstätten" sind elende Ställe, ihre Nahrung ist geschmacklos; sie haben kaum Zeit, dieselbe zu verschlingen - sie, die alles, aber rein gar alles schaffen, was in den zuvor gekennzeichneten Regionen darauf geht oder aufgespeichert wird, - sie, die außerdem noch nicht nur sich selber, wenn auch, wie gesagt, höchst erbärmlich den Unterhalt verschaffen, sondern auch jene versorgen müssen, die sich in einer noch elendigeren Lage befinden, die Gestalten der sozialen Peripherie, die Tramps und sonstigen Arbeitslosen, welche, obgleich fähig und willig zu einer nützlichen Tätigkeit, zu Millionen jahrein, jahraus heimatlos, rechtlos, sozusagen vogelfrei umherirren, von jedem geknufft und gestoßen, verachtet, verfolgt, verlästert - Ratten in Menschengestalt!
Wer will behaupten, daß eine menschliche Gesellschaft, die, wenn nach Kategorien und Regionen geordnet, ein solches Bild darbietet, Anspruch daraufhabe, vernünftig genannt zu werden?
Betrachtet man dann noch vollends das Tun und Treiben der modernen Menschen im einzelnen, so kommt man, wenn man vorurteilsfrei ist - vorerst noch außerhalb der Anarchistenkreise ein seltenes Vorkommnis! - erst recht zu der Überzeugung, daß unser Zeitalter das Zeitalter des Crankismus ist.
Je mehr einer sich einredet, auf der Höhe der "Zivilisation" zu stehen, desto mehr ißt, trinkt und raucht er sich Gift in den Leib. Die meisten Speisen sind vollständig unnatürlicher Art, müssen oft, statt ordnungsgemäß verdaut, künstlich chemisch im Leibe zersetzt werden. Ja, bei den meisten Menschen findet gar kein natürlicher Stoffwechsel mehr statt. Es müssen erst Pillen. Pulver, Säfte und Schnäpse in Anwendung kommen, um das Nötige zu besorgen. Die Kleider unserer Zeit sind geradezu Zwangsjacken. Die Betten sind Schwitzkisten. Usw.
Wo man nur immer hinblickt, grinst uns der menschliche oder vielmehr unmenschliche Crank entgegen - im Großen wie im Kleinen: Und solch' ein Narrenhaus soll ewig währen? In diesem Falle müßte man wünschen, in die Möglichkeit versetzt zu werden, die ganze Erde mit allem, was daran grabbelt und zappelt, in Millionen Fetzen zu dynamitieren.
Aber so schlimm steht die Sache nicht. Die Herrschaft des Crankismus geht zu Ende. Der gesunde Menschenverstand beginnt sich zu regen. Der Anarchismus mit seiner unerbittlichen, zwingenden und allseitigen Logik ist auf der Bühne des Lebens erschienen. Er spinnt seine Fäden in alle Gehirne hinein. Er greift mehr und mehr um sich. Und es ist schon heute an zahllosen Symptomen zu erkennen, daß derselbe berufen ist, das gesellschaftliche Narrenhaus unserer Tage zu zertrümmern und an dessen Stelle eine Gesellschaft zu setzen, in welcher die Menschen bei freier Arbeit und unbeschränktem Lebensgenuß zum ersten Male wieder, wie im Stadium der Urfreiheit, einer naturgemäßen Lebensweise sich befleißigen.
Aus: Johann Most – Marxereien, Eseleien und der sanfte Heinrich. Verlag Büchse der Pandora, 1985. Zuerst erschienen in Mosts Zeitung „Freiheit“ am 13.5.1900 (zuerst bereits am 18.6.1892). Digitalisiert von www.anarchismus.at