Johann Most - Die Freie Gesellschaft
Das höchste Glück, welches der Mensch erreichen kann, ist ein Zustand, wo Jeder mit möglichst geringfügiger Anstrengung die denkbar vollkommenste Befriedigung aller seiner Bedürfnisse bewerkstelligt. Je mehr man sich diesem Verhältniss annähert, desto entschiedener wird man seine individuelle Freiheit gewahrt finden. Denn je kürzer jener Zeitabschnitt ist, innerhalb welchem der Mensch die Mittel zu seinen höchsten Lebenszwecken erzeugt, ein desto längerer Zeitabschnitt ist ihm zum Genuss belassen. Wenn es vielleicht nie möglich sein wird, die Theilnahme an der Produktion der Güter jeder Unannehmlichkeit zu entkleiden, so liegt es auf der Hand, dass umgekehrt, der unbeschränkte Güterverbrauch den individuellen Neigungen den weitesten Spielraum lässt und die Höhe des Genusses wesentlich mit dem persönlichen Willen und Bedürfniss in Einklang zu bringen erlaubt. Es wird also ein System zu finden sein, bei welchem die Menschen mehr und mehr die Erzeugung ihrer Verbrauchsgegenstände sich erleichtern. Dieses System ist die Waarenerzeugung durch organisirte Arbeitskräfte und mit gemeinsamen Arbeitsmitteln – mit anderen Worten: die kommunistische Produktionsweise.
In technischer Beziehung ist über die Wahrheit dieser Voraussetzung längst kein Zweifel mehr möglich; denn die gegenwärtige Entwickelung der Produktionsverhältnisse lehrt mit jedem Tage einleuchtender, dass im gleichen Grade, wie sich der Produktionsprozess organisatorisch vervollkommnet, mehr Waaren durch weniger Arbeitskräfte in gleicher Zeit verfertigt werden können. Und nur weil die Arbeitszeit beim Fortgang dieser Entwickelung keine stufenweise Verkürzung erfährt, und weil den arbeitenden Volksmassen unter dem Regimente des Privatkapitalismus durch parasitenartige Nichtarbeiter das Recht auf die Konsumtion bis zu dem Minimum der blossen Existenzmöglichkeit beschränkt wird, steigt mit der Leistungsfähigkeit der produktiven Menschen deren Mühseligkeit und Lebensunsicherheit. Die Völker hungern aus Ueberfluss an Nahrung, frieren aus allzu grossem Reichthum an Heizungsmaterialien, gehen verlumpt wegen einer zu riesigen Menge fertiger Kleider umher, und haben kein Obdach, weil es zu viele schöne Wohnungen giebt! – –
Dieses absurde Verhältniss beweist, dass der schwierige Punkt nicht mehr auf dem Gebiete der Produktion, sondern auf dem der Konsumtion liegt. Es ist keine Rede mehr davon, dass die Bedürfnissgegenstände der Menschen nicht in genügender Menge oder Geschwindigkeit verfertigt werden könnten. Es handelt sich blos darum, diese nahezu unerschöpfliche Leistungsfähigkeit auf produktivem Gebiete in Einklang zu bringen mit den menschlichen Bedürfnissen, indem alle jene Dinge hinweg geräumt werden, welche der Befriedigung derselben die denkbar engsten Schranken auferlegen.
Hier muss also der Hebel angesetzt werden! – Es ist nicht nöthig, in organisatorischer Beziehung auf dem Gebiete der Produktion einen Stillstand zu proklamiren oder gar auf frühere Formen der produktiven Organisationen zurückzugreifen; vielmehr darf und muss an den bestmöglichen Ausbau bereits vorhandener Organisationen der Industrien. Landwirthschaft, des Verkehrswesens u. s. w. gedacht werden. Je riesiger dieselben sich gestalten, desto leistungsfähiger sind sie nach unwiderlegbarer Erfahrung. Das ist eine mathematische Wahrheit, und es kann der zukünftigen Menschheit nicht einfallen wollen, sich der Vortheile, welche sich ganz von selbst daraus ergeben, zu entschlagen.
Um was es sich handelt, das ist einzig und allein die gleichmässige Nutzbarmachung der Ergebnisse, welche die Waarenproduktion durch die denkbar grossartigst organisirte Arbeit darbietet, für alle Menschen.
Das kann geschehen, wenn die Arbeitsbienen die Drohnen beseitigen!
Und ein neues, freies Arbeits- und Genuss-System kann sehr wohl etablirt werden, ohne dass sich die produktive Organisationskraft zu zersplittern und aufzulösen braucht, aber auch ohne dass über allen diesen tausendfältigen organischen Produktionsgebilden sich ein neues Herrschaftsgebäude (eine Archie) erhebt. Der Anarchismus (die Nichtherrschaft) ist nicht – wie böswillige Leute behaupten – ein Feind harmonischer, zweckmässiger Organisation, sondern ein Feind der tyrannisch (herrisch – herrschaftlich) gegliederten Verwaltung.
Einem althergebrachten politischen Aberglauben gemäss, blickten Diejenigen, welche an die Lösung der sozialen Frage dachten, überall zunächst zum Staat, wie zu einer Art göttlicher Allmacht empor und redeten sich ein, dass diese unbegriffene Gewalt der geeignete Faktor sei, alles Gute in die Welt zu setzen, wenn sie nur in der geeigneten Weise dazu veranlasst würde. An die Stelle der ”himmlischen Mächte“, welche der bedrängte Mensch in früheren Zeiten noch grösseren Unverstandes um Glück und Segen anflehte, war gewissermassen ein politischer Herrgott getreten.
Diese Anbeterei des Staates war ebenso naiv, wie die Gottesverehrung. Wie sich die Gläubigen von ehedem einen aussernatürlichen Regulator der Dinge vorstellten, so träumten die Neugläubigen von einer ausser- und übergesellschaftlichen Staatsmacht. Sie begriffen also nicht, dass der Staat nichts Anderes ist, als ein Gewaltsorganismus, welcher von Denen geschaffen und gehandhabt wird, deren materielle Stellung in der Gesellschaft es erlaubt, die Uebrigen auszubeuten und zu unterdrücken. Was sie gegen die herrschenden Klassen glauben in das Spiel bringen zu können, ist nichts Anderes, als die organisirte Tyrannei derselben. Es wäre nicht minder naiv gewesen, wenn sie in der Einbildung gelebt hätten, die Emanzipation des Proletariats müsse durch die Bourgeosie besorgt werden; denn es würde das aufs Nämliche hinausgelaufen sein.
Im öffentlichen Leben haben eben die Menschen das Affenartige bisher ebenso wenig ganz abstreifen können, wie in ihrem privaten Handeln. Weil den Arbeitern die Geschichte lehrt, dass jedesmal, wenn eine Volksklasse sich frei machte, dieselbe vor Allem die Staatsgewalt in ihre Hände zu bekommen trachtete, so wurde daraus der falsche Schluss gezogen: dass das Proletariat auch zunächst ”an’s Ruder“ kommen müsse, bevor etwas Weiteres geschehen könne.
Es wurde dabei übersehen, dass es bei den bisherigen Gesellschaftsumwälzungen sich nur darum handelte, an die Stelle einer herrschenden Klasse eine andere zu setzen, nicht aber die Freiheit des ganzen Volkes zu errichten. Wenn z. B. bei dem jüngsten dieser Umgestaltungsprozesse die Bourgeoisie die Staatsgewalt eroberte und dieselbe fester als je organisirte, so begreift sich das sehr wohl. Sie hatte mittelst dieser Macht einerseits die Aristokratie alten Schlages so empfindlich wie möglich zu treffen, resp. lahm zu legen, und andererseits sich dahinter vor dem arbeitenden Volke, das sie auszubeuten beabsichtigte, zu verschanzen.
Ganz anders steht es hinsichtlich des Strebens der arbeitenden Volksmassen von heute. So weit dasselbe konsequenter Natur ist – und unklare oder halbheitliche Seitenströmungen können hier überhaupt nicht in Betracht kommen – läuft es doch wahrhaftig nicht darauf hinaus, eine neue Klassenherrschaft zu etabliren; vielmehr wird zum ersten Male die Abschaffung aller Klassenvorrechte und mithin der Klassen selbst angestrebt.
Gegen wen also sollte sich ein neues Gewaltsinstrument – ein Staat – kehren? Wessen Privilegien sollte er schützen? Wer sollte durch ihn unterjocht und im Zaume gehalten werden?
Vielen sozialistischen Schriftstellern scheinen diese Fragen sich schon längst aufgedrängt zu haben, so oft sie an den Zusammenbruch des Bestehenden und an die Neugestaltung des ganzen sozialen Lebens dachten. Aber gewöhnlich schlichen sie gar sachte daran vorbei, gerade als ob eine präzise Antwort, die natürlich in der Verneinung des Staates hätte gipfeln müssen, ihr schlechteres Ich zu erschrecken geeignet gewesen wäre.
So sagten sie denn: es werde das Proletariat zur Herrschaft gelangen; aber in dem nämlichen Augenblick, wo das der Fall sei, höre diese Herrschaft wieder auf, weil der Gegenstand der Beherrschung fehle!! – Solche und ähnliche Flunkereien sollten darüber hinweghelfen, eine kühne Wahrheit aussprechen zu müssen.
Wäre man anders zu Werke gegangen, hätte man den letzten Rest der in die Anfänge der sozialistischen Bewegung noch stark hineinspielenden jakobinisch-liberalen und bourgeois-radikalen Doktrinen, die man aus sogenannten Nützlichkeitsgründen glaubte mehr oder weniger schonen zu müssen, total über Bord geworfen – so wäre man sicher seitens der Arbeiter aller Länder (auch der deutschsprachlichen) längst zu der Ansicht gelangt, dass die Sozialisten nicht diesen oder jenen roth angelaufenen Extrastaat anzustreben haben, sondern dass sie im Gegentheil die Staatsidee als solche bekämpfen und verneinen müssen. Das ganze sinnlose Geschwafel von ”Volksstaat“, ”Freistaat“ u.s.w. wäre dann der Welt erspart geblieben, und das Proletariat wäre an prinzipieller Klarheit bedeutend weiter.
Dass eine Staatsgewalt (Archie) in einer freien Gesellschaft sich ganz von selbst als hinfällig erweist, lässt sich leicht begreifen, wenn man die Zwecke betrachtet, welche bisher der Staat zu erfüllen hatte.
Die Gesetzgeberei dreht sich durchweg um Mein und Dein. In einer Gesellschaft, wie die heutige ist; in einer Gesellschaft, wo ein beständiger Krieg Aller gegen Alle, wo wilder Kampf um’s Dasein herrscht; in einer Gesellschaft, wo ein kleiner Prozentsatz der Bewohner auf Bergen von Reichthümern thront, während die Mehrheit des Volkes, selbst bei angestrengtester Arbeitskraft, nicht immer Aussicht hat, auch nur vegetiren zu können, und wo Hunderttausende dem nackten Elend ausgesetzt sind – in einer solchen Gesellschaft verstehen sich dickleibige Strafkodexe, zahllose Exekutoren, Richter, Staatsanwälte, Gensdarmen, Polizisten, Gefängnisse, Justizhallen und hundert ähnliche ”Ordnungs“-Instrumente ganz von selbst. In einer Gesellschaft aber, wo jeder Mensch in der Lage ist, seine Daseinszwecke ungeschmälert zu geniessen, wo ein gleichheitliches und hochentwickeltes Erziehungswesen jedem Individuum die Möglichkeit darbietet, von den Ergebnissen einer frei entfalteten Wissenschaft nach Herzenslust zu zehren, und wo die Gegensätze zwischen Arm und Reich total unbekannt sind, hören mit den Ursachen der Verbrechen diese selbst auf, in Erscheinung zu treten. Der Zweck einer Strafgesetzgebung ist nicht mehr vorhanden. Der damit zusammenhängende Beamtenapparat ist überflüssig geworden. Aehnlich steht es mit der sonstigen Gesetzgeberei.
Die in gesetzliche Käfige gezwängten Menschen von heute werden in den Augen der künftigen Gesellschaft wie die Insassen eines zoologischen Gartens erscheinen.
Selbst solche Dinge, welche nur geschehen können nach vorhergegangener Uebereinkunft, bedingen keine solchen Institutionen, wie Verfassungen, Gesetze oder Parlamente. Niemals werden wirklich freie Völker ein Bedürfniss empfinden können, ihre freie Entwickelung durch gesetzliche Zwangsjacken und Fanggruben hemmen zu wollen. Die Entscheidung von Fall zu Fall, und zwar unter allseitiger persönlicher Betheiligung Derer, welche im öffentlichen Interesse etwas ins Werk setzen wollen, wird sich unter freien Menschen ganz von selbst verstehen. Man wird sich seiner Vorfahren, die derart versklavt waren, dass sie glaubten, es werde die Menschheit nie ohne Vormünder, Repräsentanten und Autoritäten, beengende Satzungen und Leitseile existiren können, – geradezu schämen.
Andere Einrichtungen, welche mit der Staatlerei aufs Engste verwachsen sind, wie: Militarismus, Pfaffenthum und dergleichen, brauchen wir wohl nicht erst als entbehrlich zu kennzeichnen. Der Massenmord und dessen Träger aller Art – die Gurgelabschneider und die Hirnerweicher – stehen und fallen mit der jetzigen Periode sozialer Ordnungslosigkeit und Tyrannei.
Die künftige Gesellschaft kennt nur noch ökonomische, erziehliche, wissenschaftliche – kurz, solche Institutionen, welche sich dazu eignen, den Menschen – Allen, wie Jedem – die Daseinsschwierigkeiten so viel wie möglich zu verringern und den Lebensgenuss zu erhöhen. Hundert- und tausendfältig in einander geschlungen – wie es die Zweckmässigkeitsgründe gestalten werden – mögen diese mannigfaltigen organischen Gebilde ein harmonisch ineinander greifendes Räderwerk darstellen, aber vergeblich wird man treibende Zentralkräfte und geschobene Nullheiten suchen; es wird vielmehr ein gleiches Verhältniss existiren, wie im Weltall, wo in dem kleinsten Partikelchen der Materie die nämlichen Prinzipien der Kräfte vorwalten, welche den Gesammtmechanismus des Universums bewegen. Das – und nichts Anderes – wird der vielgefürchtete, verlästerte Anarchismus sein.
Hört ein Staatsfanatiker, dass Unsereiner einen Gesellschaftszustand erstrebt, in welchem der Staat zu den überwundenen Sachen gehört, so heult er zähneklappernd, als habe ihm Jemand das Ende aller Dinge in Aussicht gestellt.
Es sieht das gerade so aus, als ob mit der Abschaffung des Staates die Menschen in alle Winde zerstieben müssten, oder als ob durch das Aufhören der Staatlerei alle naturgemässen und kulturhistorisch gewordenen Organisationen, welche in einer entwickelten Technik, einem netzartig ausgebreiteten Verkehrswesen und dem kommunalen Zusammenwohnen gegeben sind, hinfällig würden.
Man braucht aber wenig Scharfsinn dazu, um auszufinden, dass diese Einrichtungen nicht an das Sein und Nichtsein eines Staates gebunden sind, sondern lediglich in ihrem Fortbestande und ihrer Weiterentwickelung von den praktischen Anforderungen, welche die Menschen an sie stellen, abhängen. Je mehr sie denselben entsprechen, desto entschiedener werden sie festgehalten, resp. fortgebildet werden. Denn man muss sich nicht einbilden, dass die Menschen in dem Augenblicke, wo sie sich vom staatlichen Zuchtmeister emanzipiren und für mündig erklären, den Verstand verlieren und lauter dumme Streiche gegen ihr eigenes Wohlergehen in Szene setzen.
Nun gut – heute schon steht fest, dass die Industrie und Landwirthschaft desto leistungsfähiger sind, je grossartiger sie betrieben werden; mithin liegt es auf der Hand, dass sich die Arbeitskräfte der einzelnen Produktionszweige in der künftigen Gesellschaft möglichst einheitlich organisiren werden.
Möglichst einheitlich – das ist nicht gleichbedeutend mit ”stramm zentralistisch“. Bei unserer Voraussetzung, nach welcher solche Organisationen nicht von oben herab oder von einem Zentrum sozusagen erpresst werden können, sondern auf Grund der augenscheinlichen Zweckmässigkeit sich von allen Seiten gleichmässig und frei gestalten müssen, ist das föderalistische Prinzip förmlich als selbstverständlich gegeben. Grosse, wie kleine Abtheilungen (Gruppen) eines Produktionszweiges können natürlich ihre inneren Verhältnisse ganz nach ihrer speziellen Neigung regeln; es ist da durchaus keine Schablone nöthig. Da arbeitet man vielleicht nur Vormittags, dort nur Nachmittags; in einer dritten Abtheilung zieht man es vor, jeden zweiten Tag Vor- und Nachmittags zu arbeiten, dafür aber jedem Arbeitstage einen Ruhetag folgen zu lassen. In der einen Gruppe führt man gleichmässige Arbeitszeit und gleichmässigen Antheil am Ertrag der Thätigkeit der ganzen Gruppe ein; andere Gruppen überlassen es ihren einzelnen Mitgliedern, bald mehr, bald weniger thätig zu sein und dementsprechend beim Vertheilen des Ertrages gehalten zu werden. In manchen Gruppen wollen vielleicht Alle, die dazu gehören, mehr leisten, als in anderen Gruppen üblich ist, und dafür auch desto reichlicher geniessen, während auch der umgekehrte Fall denkbar ist: Verzicht auf einen Theil der durchschnittlich erreichbaren materiellen Genüsse und dafür desto kürzere Arbeitszeit, resp. desto mehr Gelegenheit zur Ergehung im geistigen Genusse. Unter solchen Verhältnissen ist die Möglichkeit gegeben, dass sich die Neigungen der Einzelnen in ihren verschiedensten Spielarten Berücksichtigung verschaffen, ohne dass der allgemeine Zweck dadurch beeinträchtigt würde. Jeder sucht sich eine solche Gruppirung von Individuen aus, welche in ihren Neigungen den seinigen am nächsten stehen. Aendert sich seine Neigung, so mag er entsprechend seine örtliche Stellung mit einem Andern vertauschen. Das ist eben das Grossartige und Naturgemässe beim föderalistischen System: dass es der individuellen Freiheit den weitesten Spielraum gewährt, aber gleichzeitig auch ein ordnendes Band um alle Elemente schlingt, welche im Grossen und Ganzen den gleichen Zwecken dienen.
Eine zentralistische Organisation hingegen ist stets verknüpft mit einem starren Kasernenwesen. Das menschliche Individuum giebt sich da nicht mehr freiwillig hin, nein, es geht in dem Organismus völlig unter. Konsequent durchgeführter Zentralismus ist Diktatur einer persönlichen Spitze über die Masse – Monarchismus – Tyrannei! – Konsequent durchgeführter Föderalismus ist wirkliche, d. h. gleichheitliche Freiheit Aller, wie der Einzelnen – ist Herrschaftslosigkeit – Anarchismus!
Zentralismus ist in letzter Instanz Verknöcherung, Kastenthum, Chineserei. Föderalismus ist Ideenwettkampf, elastischer Entwickelungsschwung, rastloser Kulturfortschritt. Anarchismus ist die Harmonie der Menschheit!
Einige Anarchisten französischer Schule gehen in dieser Beziehung weiter und sagen, es werde in der zukünftigen Gesellschaft jegliche systematische Gliederung und insbesondere jede auch die freiwillig eingegangene Arbeitspflicht fehlen; ebenso könne da von einem Einkommen der Individuen je nach deren Arbeitsleistung nicht die Rede sein, weil ein solches Verhältniss nicht die volle und ganze individuelle Freiheit darstelle. Sie sagen, alle vorhandenen Dinge müssen da einfach Jedem zur unbeschränkten Verfügung stehen und Jeder werde dann schon ganz von selbst das Seinige zur Genussmittel-Erzeugung etc. beitragen. Diese Erklärung ist allerdings ungemein einfach, dürfte jedoch in weiteren Kreisen nur sehr schwach einleuchten und kann mithin als Agitations-Faktor keine besonders grosse überzeugende Kraft besitzen.
Wer kann überhaupt wissen, wie sich die Dinge äussersten Falles gestalten. Wir geben uns vorläufig damit zufrieden, solche Verhältnisse für die Zukunft zu muthmassen – denn über die Muthmassung hinaus geht natürlich Alles, was in dieser Hinsicht gesagt werden kann, überhaupt nicht, – welche die phantasiefreie Logik der Thatsachen nahe legt.
Jene Folgerung, wornach die Menschen der Zukunft ohne jede eingegangene Verpflichtung thätig sein werden, geht von der Annahme aus, dass alle Menschen eine angeborene Arbeitslust haben. Die Arbeit ist aber jedenfalls nur ein nothwendiges Uebel, eine unangenehme Sache, welche niemals ihrer selbst willen, sondern nur ihres Zweckes halber, nämlich deshalb betrieben wird, weil ohne Arbeit Genussmittel nicht hergestellt werden können. Eine Arbeitslust gibt es daher nicht, wenn auch manche Arbeit unter dem Einfluss der Gewohnheit etc. mehr oder weniger gern verrichtet und förmlich wie eine Spielerei betrieben werden mag.
Im Uebrigen ist jedenfalls dieser Punkt viel zu spekulativer Natur, als dass derselbe als Zankapfel angesehen werden sollte. Wir erwähnten denselben nur, um in dieser Beziehung die von einander abweichenden Schulmeinungen zu registriren.
Gleichzeitig bemerken wir von vornherein, dass Alles, was wir im Nachstehenden zu sagen haben, keineswegs positive Vorschläge hinsichtlich der künftigen Gesellschaft vorstellen soll, wie vielfach behauptet worden ist, sondern, dass wir hier nur Muthmassungs-Betrachtungen anstellen, um die Möglichkeit einer freien Gesellschaft, gleichsam per Anschauungs- und Exemplifikations-Unterricht zu illustriren.
Da die früher erwähnten Organisationen nicht blos Menschen repräsentiren, sondern auch Sachen – Grund und Boden, Fabriken, Werkzeuge, Rohstoffe und fertige Verbrauchsartikel – so frägt es sich: Wem gehören diese Dinge?
Was die fertigen Sachen anbetrifft, so gehören sie vermuthlich zunächst derjenigen Organisation, aus deren Thätigkeit sie hervorgegangen sind. Was dagegen die Produktionsmittel anbelangt, so sind sie ebenso wahrscheinlich Eigenthum der ganzen Gesellschaft, bleiben jedoch den einzelnen Produktiv-Organisationen, deren Zweck sie dienen sollen, so lange frei überlassen, als diese nicht den Versuch machen, mittelst derselben andere Organisationen oder die Gesellschaft als solche zu schädigen – etwa indem sie sich monopolistisch gebärden und die ausser ihnen stehenden Organisationen oder das Volk überhaupt zu brandschatzen suchen.
Wo aber bleibt dann die geeignete Macht, solchen Frevel angemessen zu ahnden, nachdem doch jegliche Staatsgewalt beseitigt worden?
Diese Macht liegt einfach in den Händen der Konsumenten, welchen es in ihrer Gesammtheit gar nicht einfallen kann, sich von einer verhältnissmässig kleinen Rotte über das Ohr hauen zu lassen.
Aber betrügen denn nicht heutzutage auch wenige Monopolisten die ganze breite Masse des konsumirenden Publikums, ohne dass dasselbe dagegen etwas thun kann?
Gewiss ist das heute der Fall; aber gerade weil es eine Staatsgewalt giebt, welche die Monopolisten und ähnliche Gauner in ihren räuberischen Vorrechten schützt und jede zweckdienliche und rasch wirkende Massregel, die das Volk dagegen in’s Werk setzen könnte, zu einem Verbrechen stempelt. Manipulationen, die auf die Uebervortheilung und Brandschatzung hinauslaufen, können nur dann von irgend welchen Bruchtheilen der Gesammtheit gegen diese in Anwendung gebracht werden, wenn die betreffenden Betrüger eine herrschende Klasse bilden und so im Stande sind, die Resultate ihres Raubes durch staatliche Gewalt vor jedem Angriff seitens der Beraubten zu schützen.
In einer freien (staatslosen) Gesellschaft scheitern solche Raubversuche schon beim ersten Auftauchen einer diesbezüglichen böswilligen Absicht an dem allgemeinen Unwillen, welcher nöthigenfalls sich zu einem thatkräftigen Handeln zu steigern vermöchte.
Zu solchen Einwürfen gelangt man überhaupt nur, wenn man die Eigenschaften, welche die naturnothwendigen Folgen der heutigen Gesellschaft sind, den Menschen der künftigen (freien) Gesellschaft willkürlich andichtet und dabei vergisst, dass die Karakter-Eigenthümlichkeiten der heutigen Menschen mit dem jetzigen Systeme stehen und fallen müssen.
Wenn einmal die Gesellschaft Grund und Boden und alle zur Produktion von Waaren nöthigen Dinge prinzipiell als gemeinsames Eigenthum betrachtet, so ist der Fall auch ausgeschlossen, dass sich die Gesammtheit von einzelnen ihrer Theile betrügen lässt.
Freilich, wenn die Gesellschaft der Zukunft so dumm sein sollte, sich nach dem Muster der gegenwärtigen zentralistisch-staatlich zu organisiren, dann wäre es allerdings möglich, dass z. B. die jeweilige herrschende Majorität die Minorität betröge, vielleicht gar zur Zwangsarbeit presste und selber faullenzte; oder auch, dass eine raffinirt ersonnene und fest gegliederte Beamten-Hirarchie, bestehend aus zahllosen Drohnen, die Massen – wie im Inka-Staate der alten Peruaner – ausbeutete und tyrannisirte.
Aber, wie gesagt, einen solchen Missgriff trauen wir den Menschen der nachrevolutionären Epoche nicht zu. Dieselben werden, gewitzigt durch die unendlich bitteren Lehren der Geschichte, nicht ”neuen Wein in alte Schläuche giessen“; sie werden erkennen, dass sich Einrichtungen, welche die Knechtschaft erzeugt und erhalten haben, nicht für die Freiheit schicken; sie werden nach Zertrümmerung des altherkömmlichen teuflischen Zentralismus sich dem allbelebenden Föderalismus hinsichtlich ihrer Organisationen zuwenden.
Stehend auf dem Boden gemeinsamen Kapitals und föderalistisch organisirt, wird die Menschheit die Ausbeutung der Einen durch die Anderen, alles Herrschen und jede Knechtschaft für immer verbannt haben.
Die Ausbeutung der Einen durch die Anderen findet heutzutage nicht blos auf dem Gebiete der Produktion statt, sondern mehr noch auf dem der Waarenvertheilung. Die fertigen Produkte wandern durch die Hände zahlloser Schacherer, von denen kein Einziger denselben irgend einen Mehrwerth zusetzt, die aber nur zu häufig Fälschungen, d. h. Verschlechterungen damit vornehmen, und die dennoch die Preise der Gebrauchsgegenstände derart in die Höhe treiben, dass deren nomineller Werth (in Geld ausgedrückt) in demselben Augenblicke, wo sie den eigentlichen Konsumenten zufliessen, verglichen mit ihren Herstellungskosten, verdoppelt, ja nicht selten verzehnfacht erscheinen muss.
In der freien Gesellschaft kann von einer solchen Räuberei keine Rede mehr sein. Die Produzenten, welche ja auch sammt und sonders Konsumenten sind, tauschen die durch sie erzeugten Waaren ohne das Dazwischentreten des Handels und einer damit verknüpften Profitmacherei aus.
Hierzu ist allerdings vermuthlich ein Vermittelungs-Institut nöthig.
”Heiliger Staat hilf!“ ruft uns ironisch ein vom Herkommensteufel Besessener zu. Gemach! Auch hierzu benöthigt man des Mandarinenthums nimmermehr. Denn so sehr es auf der Hand liegt, dass es höchst unpraktisch wäre, wenn sich jeder einzelne Konsument an die verschiedenartigsten Produktionsorganisationen wenden würde, um von denselben seine mannigfaltigen Bedürfnissgegenstände zu beziehen, so wenig könnte es praktisch erscheinen, wenn da sozusagen ein Staatskrämer den Vermittler spielen wollte.
Dieselben Menschen, denen die Zweckmässigkeit lehrt, wie sie sich zu organisiren haben, um die Waarenerzeugung so vortheilhaft wie möglich zu betreiben, ohne ihre individuelle Freiheit zu gefährden – dieselben Menschen können auch den Waarenaustausch nicht anders, als auf dem Wege freiwillig gebildeter Konsumtionsorganisationen bewerkstelligen wollen.
Der Zusammenschluss einer Anzahl von Menschen zum Zwecke des gemeinsamen Waarenbezuges lässt sieh in den verschiedensten Formen denken. Höchst wahrscheinlich ist es aber, dass die betreffenden Verbände mehr oder weniger begrenzt sind. Während sich bei manchen produktiven Organisationen eine weitgedehnte Gliederung über das ganze Gebiet der freien Gesellschaft hin als zweckdienlich, ja vielleicht als unerlässlich erweisen dürfte, ist auf dem Gebiete des Waarenverbrauches kaum eine mehr als kommunale Organisation nöthig.
Wenn es den Bewohnern eines Ortes beliebt, so werden sie sich etwa gleich als ganze Kommune die Regelung des Waarenvertriebes angelegen sein lassen. Sie werden dann in diesem Falle kommunale Waarenmagazine errichten, denen jeder Einzelne seinen Bedarf entnehmen könnte. Andererseits wird die Konsumtionsgemeinde, wie man eine solche Organisation füglich nennen möchte, sich mit ihren Bestellungen direkt an die Verbände der verschiedenen Produktions-Organisationen wenden.
Ist eine solch’ ausgedehnte Organisation des Genussmittel-Vertriebes aber da und dort nicht nach dem Geschmacke Aller, so mögen sie sich in grösseren oder kleineren Konsumvereinen mit oder ohne kommunale Föderation konstituiren. Es lässt sich in dieser Beziehung nichts vorher sagen, nach welcher Richtung hin sich diese Dinge zunächst Bahn brechen. In erster Linie kommt dabei eben die Neigung Derer in Betracht, welche in der Lage sind, solche Organisationen zu schaffen. In zweiter Linie wird höchst wahrscheinlich die Praxis jenes Systems, welches sich als das zweckmässigste erweist, sich ganz von selbst mehr und mehr Bahn brechen.
Bei dem Aufbau der Dinge nach freier Entschliessung der Betheiligten ergiebt sich eben unter Anderem auch der Vortheil, dass eine Manigfaltigkeit von Erscheinungen gleichzeitig zur Geltung kommen kann, was eine vergleichende Beobachtung zulässt und so ohne jeden Zwang das Beste an sich über das weniger Vollendete durch den überzeugenden Einfluss der Bewährtheit zum Durchbruch und zu allgemeiner Anerkennung bringt; wo hingegen die Dekretirung der Dinge durch Majoritäts- oder sonstige Gewalten von vornherein allen durch sie zu Stande gekommenen Einrichtungen den Stempel der Einseitigkeit aufdrückt und einen hochgradig konservativen Karakter verleiht.
Vielleicht noch längere Zeit hindurch begnügt sich gar mancher Mensch mit geringem Komfort, nur um ein sogenanntes Familienglück zu geniessen. Die anarchistische Ordnung stellt ihm in dieser Beziehung wahrlich keine Hindernisse in den Weg. Dieselbe hält aber auch Denen die Bahn frei, welche sich von dem familiären Schneckenhausleben zu emanzipiren gewillt sind, und die lieber in Gemeinschaft mit einer grösseren Anzahl Gleichgesinnter in Palästen wohnen, gemeinsam Tafel halten und kurzum durch die Oekonomie der Organisation sich so luxuriöse Einrichtungen schaffen können, welche die Verzettelung der Dinge und die Verschwenduug von häuslicher Arbeit, wie sie bei familiärer Verkapselung unabweisbar sind, nimmermehr zulassen.
Die kitzlichste Angelegenheit hinsichtlich des Waarenaustausches in einer freien Gesellschaft scheint die Werthschätzung der einzelnen Güterarten im Vergleich mit einander zu sein. Und in der That existiren in dieser Beziehung ungemein weit von einander gehende Meinungen unter den Theoretikern der Gesellschafts-Philosophie.
Eine anarchistische Schule älteren Schlages ist mit dieser Sache rasch fertig, indem sie das Walten der freien Konkurrenz gelten lassen will. Diesen Standpunkt, der einen stark nach Manchesterei und überhaupt bürgerlichen Denkweise riechenden Zopf hervortreten lässt, vermögen wir nicht zu theilen. Er passt auch ganz und gar nicht in den Rahmen des kommunistischen Anarchismus.
Weit gefährlichere, weil an Zahl und Einfluss ziemlich beteutende, Elemente begegnen uns hinsichtlich der Tausch-Angelegenheit in der Gestalt der Zentralisalions- oder Zwangs-Kommunisten.
Wer Anders könnte nach ihrer Ansicht den Werth der Dinge abzuschätzen haben, als eine Art Taxirungs-Gottheit, eine höhere, gewissermassen allwissende Autorität, ein Staatsgötze, ein ökonomisches Monstrum?
Merkwürdig! Diese Leute thun sich so viel darauf zu Gute, dass nach der Werttheorie, welche ihr Herr und Meister formulirte, der Tauschwerth einer jeden Waare gegeben ist durch die in derselben verkörperte nothwendige Arbeitszeit.
Was ist also einfacher, als die Schätzung des Waarenwerthes nicht nach einem die Wesenheit desselben verwischenden Geldmaasse, wie es die bisherigen Schacherer und Ausbeuter für gut befanden, sondern nach der Menge der darin steckenden normalen Arbeitsstunden?
Könnten aber nicht doch die Einen durch die Anderen beschummelt werden? Vielleicht – eine Weile – sicher nicht auf die Dauer.
Schon die Statistik der einzelnen Gewerke, die bei der Produktion und Konsumtion in der freien Gesellschaft sich als ganz unerlässlich erweisen wird, ja geradezu den allgemeinen Regulator für die Produzenten, wie für die Konsumenten darstellen dürfte, brächte eine solche betrügerische Manipulation alsbald an den Tag – könnte also nur vorübergehend, niemals dauernd wirken.
Die Quittung über eine Stunde in Waaren verkörperter nothwendiger Arbeitszeit wird die Einheit der Werthzeichen einer freien Gesellschaft zu bilden haben! Denn nur das Zeitgeld – wenn man solche Tauschscheine überhaupt noch ”Geld“ nennen will, was im Hinblick auf die scheusliche Rolle, welche das Geld bisher in der Welt gespielt hat, kaum der Fall sein dürfte, – nur das Zeitmass lässt eine Werthschätzung ohne Schwindel zu! –
Und gleichartige Produkte tauschen sich gegen einander aus.
Die Harmonie wird also auf dem Gebiete des Waarenaustausches nicht minder ihre naturgemässe Entfaltung finden, wie innerhalb der sonstigen Sphären der freien Gesellschaft; und alles das auf Grund eines zwangslosen Spieles der auf einander angewiesenen Volkskräfte – auf Grund der anarchistischen Ordnung!
Die früher erwähnte Anarchisten-Schule, nach welcher Jeder arbeitet, wenn er Lust hat, und von den vorhandenen Dingen nimmt, was er wünscht, verwirft natürlich jede Art von Tauschmitteln. Sie will sogar von einer Produktions- und Vorraths-Statistik nichts wissen. Sollte es wirklich ohne solche Einrichtungen einmal abgehen, so haben wir natürlich auch nichts einzuwenden; vorläufig scheint uns aber eine solche Annahme wenig Wahrscheinlichkeit für sich zu haben, weshalb wir uns bei unserer Darstellung mit dieser Möglichkeit nicht weiter befassen.
Nicht alle Menschen erzeugen eigentliche Waaren (greifbare Produkte), und können doch auch unentbehrliche Förderer des allgemeinen Glückes sein und sich in einer nutzbringenden Weise bethätigen. Das sind diejenigen Kopfarbeiter, welche durch ihr Schaffen irgend welche vernünftige Bedürfnisse der Menschen befriedigen.
Von vielen der heute existirenden Kopfarbeiter kann etwas Derartiges nicht behauptet werden. Ja die meisten derselben sind in ihrem Handeln absolut menschenfeindlich, kulturwidrig, freiheittödtend und darum in einer freien (anarchistischen) Gesellschaft durchaus zwecklos, existenzunberechtigt und darum auch undenkbar. Wir verweisen beispielsweise in dieser Hinsicht nur auf das Pfaffenthum, die Advokaten und sonstigen Justizschwindler, die Diplomaten, Bureaukraten, Literatur-Prostituirten u.s.w. u.s.w.
Diejenigen aber, welche Kunst und Wissenschaft, Erziehung und Gesundheitspflege in der freien Gesellschaft zu besorgen berufen sind, haben natürlich für ihre Thätigkeit auch ein entsprechendes Entgelt zu beanspruchen.
Sie haben kein Recht, ihr höheres Wissen monopolistisch zu verwerthen, resp. das Publikum in unverschämter Weise zu brandschatzen, weil sie ihre Fähigkeiten nur durch die Beihülfe der Gesellschaft erlangen konnten – zumal im Zustande der Freiheit und Gleichheit, bei welchem diese erziehliche Unterstützung Allen im nämlichen Grade zu Theil wird und lediglich Talent und Neigung – also Elemente, welche Niemandem ein Privilegium verleihen können – bei der höheren Ausbildung nach dieser oder jener spezielleren Richtung hin den Ausschlag geben werden.
Dagegen haben die Kopfarbeiter natürlich für ihre Leistungen die nämliche Entlohnung zu beanspruchen, wie die Handarbeiter.
Uebrigens ist es keinem Zweifel unterworfen, dass die Konsequenzen des anarchistischen Systems schliesslich dahin führen werden, dass die Kopf- und Handarbeit keine getrennten Kategorien mehr sind.
Vermittelst einer gleichen und wissenschaftlichen Erziehung werden die Menschen mehr und mehr sammt und sonders einen hohen Grad allgemeiner Bildung erlangen. Vermöge einer mit der Entwickelung der Technik stetig abnehmenden täglichen Arbeitszeit wird andererseits den Menschen in immer ausgedehnterem Massstabe Gelegenheit gegeben, sich in geistigen Genüssen (den einzigen Genüssen, durch welche sich der Mensch von allen übrigen Thieren mehr als bloss äusserlich und unwesentlich unterscheidet) zu ergehen, was ganz von selbst nach und nach zahllose Kapazitäten auf allen Gebieten des spezielleren Wissens zeitigen muss. Die auszeichnende Bethätigung der Letzteren wird deren höchster Genuss sein; die Kopfarbeit wird mithin in letzter Linie eine freiwillige, gesuchte, weil Genuss bereitende, Angelegenheit; und die Frage nach der Entlohnung für dieselbe kommt sozusagen ganz von selbst in Wegfall.
Bis indessen die kulturelle Entwickelung einen solchen Höhegrad erreicht hat, dürfte sich der geistige Konsum in ganz ähnlicher Weise regeln lassen, wie der materielle. Die organisirten Interessenten setzen sich durch freie Gesellschaftsverträge mit Denen in Verbindung, welche gewillt und geeignet sind, ihren Wünschen und Bedürfnissen in der verlangten Weise entgegen zu kommen. Es lassen sich ja die mannigfaltigsten freien Verbindungen in dieser Hinsicht denken – Verbindungen zu literarischen, sanitären, erziehlichen, wissenschaftlichen, künstlerischen u. dgl. Zwecken.
Die grösste Sorgfalt wird in der freien Gesellschaft dem Erziehungswesen zugewendet werden oder vielmehr: die frei gewordene Menschheit wird zum ersten Male, seit die Welt steht, der heranwachsenden Jugend in Bezug auf geistige und körperliche Entwickelung rationell unter die Arme greifen und von der bisher üblich gewesenen Dressur zu einer wirklichen Schulung übergehen.
Je ausschliesslicher den Eltern und den Grosseltern, insbesondere den alten Weibern, die Kinder zur ”Erziehung“ preisgegeben sind, desto unwissender sind und bleiben die Letzteren.
Und das ist auch ganz natürlich. So wenig wie jeder Mensch Maler, Architekt, Schuster oder Schneider sein kann, ebenso wenig oder vielmehr noch viel weniger kann jeder Mensch Erzieher sein. Trotzdem hat man es bisher zwar als selbstverständlich angesehen, dass Pferde, Rinder, Esel, Schafe oder Gänse Denen zur Pflege oder ”Zucht“ anvertraut werden müssen, welche etwas davon verstehen; nicht aber sah man ein, dass die Erziehung des Menschen mehr Spezialfähigkeiten bei dem Erzieher zur Voraussetzung haben sollte, als die Zucht von Schafen beim Hirten.
In der freien Gesellschaft wird die Kommune oder unter Umständen etwa ein Verband mehrerer Kommunen sich am besten eignen, das öffentliche und Kulturinteresse durch Indiehandnahme des Erziehungswesens vollkommen zu wahren.
Damit ist dann noch lange nicht gesagt, dass mann überall (wie das beim staatlichen Erziehungswesen der Fall wäre) nach den nämlichen Prinzipien verfahren würde. Ja, es ist nicht einmal nöthig, dass die geographische (örtliche), oder, wie das Ding heute genannt wird, ”politische“ Kommune, die kommunale Erziehungsinstitution zu decken braucht, vielmehr mag es an manchen Plätzen und Distrikten vorkommen, dass Majoritäten und Minoritäten neben einander ihre Erziehungs-Kommunen (unabhängig vom sonstigen Kommune-Begriff) errichten.
Da kann denn die Leistungsfähigkeit aller dieser Institute sehr leicht einer vergleichenden Schätzung unterzogen werden. Das Bessere bricht sich auch hier wegen seiner Vorzüge von selber und zwanglos Bahn und wird eingeführt, bis ein abermaliger Fortschritt, der innerhalb irgend einer anderen pädagogischen Organisation sich zeigt, zu noch weiterer Entwickelung treibt.
So will es das innere Wesen der Freiheit, die Grundeigenschaft des Anarchismus.
So bald das Kind physisch die Mutter entbehren kann, wird man es in einer vernünftigen Gesellschaft einem Erziehungsinstitute zuweisen. Für den Anfang wird ein solches die Gestalt des Kindergartens haben, wenn es auch natürlich bedeutend vollendeter sein dürfte, als die gleichnamigen Einrichtungen von heute. Eine rationelle Entwickelung von Körper und Geist durch wissenschaftliche Anwendung der Sanitätskunde, anregende Spiele, Anschauungsunterricht u. s. w. wird die Kindeszeit zu einer weitaus fröhlicheren gestalten und gleichzeitig das kindliche Hirn für seine weiteren Zwecke weit besser präpariren, als das heutzutage bei der denkbar besten Familienerziehung der Fall sein könnte. Ganz abgesehen von den Vortheilen, welche das Prinzip der Brüderlichkeit aus dem System einer früh beginnenden gemeinsamen Erziehung zu erzielen vermag.
Was dann die eigentliche Schule betrifft, so wird sie grundverschieden von der heutigen Kinderkaserne sein müssen – nicht bloss hinsichtlich des Lehrmaterials und der Erziehungskräfte, sondern auch betreffs des Lehrplans und der räumlichen Einrichtungen.
Wir brauchen nicht erst zu betonen, dass in der Zukunftsschule natürlich weder religiöse Hirnverkleisterungen, noch ”patriotische“ Herzensvergiftungen Raum haben können, denn diese verbrecherischen Maximen stehen und fallen mit der heutigen Gesellschaft.
Mehr Schulräume, mehr Lehrer, mehr Schuljahre und weniger Schulstunden – das sind sicherlich die unerlässlichsten Vorbedingungen eines besseren Schulsystems; und die künftigen Organisatoren des Schulwesens werden dieselben nicht unberücksichtigt lassen können.
Das spätere Leben bietet Zeit zur stetigen wissenschaftlichen Weiterbildung Aller, zu welcher die genossene bessere Vorschulung bereits den nöthigen Drang erzeugt und die unerlässliche Auffassungskraft entwickelt hat.
Das Weitere ist Angelegenheit der betreffenden Organisationen für die Pflege von Kunst und Wissenschaft, von welcher fortan Niemand mehr ausgeschlossen werden kann. Der Mensch kann lernen und sich der stetigen Erweiterung seines Wissens freuen von der Wiege bis zum Grabe. Das wird der schönste Genuss des Lebens sein.
Wir haben bereits angedeutet, dass die Konsumtion der Zukunft mehr und mehr aus dem engen familiären Rahmen heraustreten und, gleich der Produktion, in grösseren Organisationen sich abspielen wird. Schon hieraus ergibt sich, dass die Stellung der Frau als Haushälterin erschüttert, resp. hinfällig wird. Ferner haben wir gezeigt, dass das Erziehungswesen in einer vernünftigen Gesellschaft nicht mehr ein Nebengeschäft der Mütter bleiben kann. Die Gebundenheit der Frau an Haus und Familie nimmt also nach und nach ein Ende. Das weibliche Geschlecht tritt mit den nämlichen Vorbedingungen, wie das männliche, in das Leben ein; alle Berufssphären stehen ihm offen; nicht auf dem Wege der Verehelichung, wie heute, wird die Frau ihre Daseinszwecke zu erreichen trachten müssen, sondern durch Anschluss an entsprechende produktive, konsumtive u. s. w. Organisationen, je nach physischer Kraft, geistiger Fähigkeit und Neigung.
Es kann in Wahrheit nur einen Grund geben, der etwa Veranlassung bieten könnte, eine Verschiedenheit hinsichtlich der Stellung von Mann und Frau der Gesellschaft gegenüber herauszufinden. Das ist die Gebärung von Kindern nebst den damit zusammenhängenden physischen Nachtheilen für die Frau. Allein auch dieser Grund erweist sich keineswegs als ein solcher, der geeignet ist, die Frau in der freien Gesellschaft geringer zu schätzen, als den Mann.
Die Frau wird vermöge des angedeuteten Umstandes allerdings öfter in den Fall der Arbeitsuntauglichkeit kommen, als der Mann. Soll aber die Frau, weil sie ihrer geschlechtlichen Beschaffenheit halber körperlich mehr Unannehmlichkeiten durchzukosten hat, als der Mann, auch noch zu weiteren Nachtheilen verdammt werden? Nur der Barbarismus unserer Zeit kann darauf mit Ja antworten. In einer anarchistischen (humanitären) Gesellschaft erscheint schon eine solche Frage als lächerlich.
Alle Arbeitsunfähigen werden in der freien Gesellschaft das nämliche Recht auf’s Leben haben, wie die Arbeitsfähigen.
So dürfen wir denn in jeder Beziehung die vollkommene Selbstständigkeit und Unabhängigkeit der Frauen gegenüber den Männern in der anarchistischen Gesellschaft als unzweifelhaft gegeben annehmen.
Und wenn diese vollendete Freiheit resultirt aus dem Aufhören der Familienwirthschaft, aus einer nichtfamiliären Erziehungsmethode und aus der Schadloshaltung der Frau als Gebärerin, so dürfte es ziemlich nahe liegend sein, dass auch für eine Ehe im heutigen Sinne des Wortes keine Nothwendigkeit mehr existirt, weshalb eine Fortdauer derselben kaum für immer anzunehmen ist.
Wie alle Institutionen der Vergangenheit und Gegenwart, so beruht auch die Ehe auf einem Zwangs-Verhältniss. Und wenn man im Stande wäre, die sogenannten ”glücklichen“ und die unglücklichen Ehen statistisch festzustellen, so würde man schaudern vor der Unsumme menschlichen Leidens, das gerade auf dem Gebiete des Ehelebens ertragen wird.
Eine Gesellschaft, wie die von uns erstrebte, kennt aber gar keinen Zwang, mithin auch das Galeerenthum der Ehe nicht. Freie Menschen werden, je nach ihren gegenseitigen Neigungen, geschlechtlich miteinander verkehren – ein Handeln, das allein moralisch und natürlich ist, und gegenüber welchem der Geschlechtsverkehr in der Ehe von heute sich – es ist scheuslich, aber wahr! – nur als gesetzliche Nothzucht erweist. -
Die zunehmende individuelle Freiheit, weit entfernt, die Menschheit in Atome aufzulösen, wie Mancher denkt, bewegt sie zu gegenseitiger Achtung und Liebe. Je mehr die Menschen Gelegenheit haben werden, nach freier Entschliessung sich zu gemeinsamer Thätigkeit, zu solidarischem Genuss, zu irgend einem selbst gewollten Zwecke zu gruppiren, desto edler wird sich ihr Karakter gestalten, desto weniger werden sich Interessen-Verschiedenheiten kreuzen können. Als Endresultat eines solchen Spieles der humanitären Triebe wird die Harmonie der menschlichen Handlungen entstehen müssen.
Kurz, wir sehen auch in dieser Beziehung beim Anarchismus in jeder Hinsicht die Zweckmässigkeit den Ausschlag geben. Nicht die Direktion einer Autorität waltet da, sondern das Verlangen nach bestimmten Dingen, und zwar von Fall zu Fall; nicht nach geschriebenen starren Gesetzen, sondern nach wechselndem Bedürfniss. Und das nennen wir: natürliche Ordnung.
Werfen wir einen Blick aus der Vogelperspektive auf die anarchistische Gesellschaft, so erblicken wir folgende Grundzüge derselben:
Der Staat hat da weder Raum noch Zweck.
Die Kommune, als politischer Körper, ist ebenfalls überflüssig geworden.
Alle Lebenszwecke des Menschen werden durch entsprechende Organisationen oder Gruppirungen erreicht.
Dieselben sind nicht zentralisirt und nur so weit föderalistisch mit einander verbunden, als zur Erreichung der damit erstrebten Ziele unerlässlich ist.
Ein Privateigenthum an Land oder Kapital existirt nicht mehr.
Die Arbeitsmittel aller Art befinden sich in den Händen der verschiedenen gewerklichen Organisationen.
Wie die Handelsprellerei selbst, so ist auch deren Tausch-, resp. Tausch-Mittel, das Geld im heutigen Sinn, abgeschafft worden.
Kunst und Wissenschaft werden, gleich der Waarenproduktion durch Gruppirung der betreffenden leistungsfähigen Kräfte gepflegt.
Das Erziehungs- und Bildungswesen erfreut sich der grössten Sorgfalt und ermöglicht es Jedem, sich genugsam geistig zu entwickeln, um fähig zu sein, die Ergebnisse von Kunst und Wissenschaft zu geniessen.
Das solchermassen sich stetig erweiternde Wissen aller Menschen hebt das Glauben auf und sichert die Unmöglichkeit alter oder neuer Religionen.
Das vollkommenste Selbstbestimmungsrecht der Frau, die ja, gleich dem Manne, wirklich frei geworden, liegt auf der Hand.
An Stelle der Gesetzgeberei tritt die Entschliessung von Fall zu Fall. Niemand wird regiert; Jeder ist Mitglied zahlreicher Korporationen, denen er sich nach freier Auswahl anschliesst; Keiner, ist gezwungen, gegen seine Neigung zu handeln.
Das ist Anarchie!
Quelle: Johann Most - Die Freie Gesellschaft. Internationale Bibliothek 5, S. 1–16, August 1887, New York
Originaltext: http://de.wikisource.org/wiki/Die_Freie_Gesellschaft