Johann Most - Erste Erfahrungen in der Arbeiterbewegung (1863/1867)

Ähnlich Bebel kommt der spätere Anarchist Most mit der Arbeiterbewegung zu einem Zeitpunkt in Berührung, als diese selbst noch in sich widersprüchlich ist und unter dem Einfluss bildungsbürgerlicher Ideologie steht. In einer Schweizer Sektion der Internationalen Arbeiter-Assoziation schließlich merkt Most, dass auch er Sozialist ist, «längst zuvor war, ohne es zu wissen.»

Situation No. 2 fand sich für mich in Bornheim, jetzt zu Frankfurt gehörig, bei einem Contractor eines amerikanischen Exporteurs von Leder-Galanteriewaaren. Auch damit war Naturalverpflegung verknüpft, doch erwies sich deren Qualität als etwas besser. Der Geldlohn betrug anderthalb Gulden per Woche, die tägliche Arbeitszeit 12 Stunden. Auch war die Arbeitsart, weil für mich neu und mannigfaltig, reizvoller. Im Ganzen waren da 18 Arbeiter beschäftigt und setzte es alltäglich viel unterhaltliches Geschwätz, das freilich häufig in blossen Quatsch ausartete, wie es leider auch heutzutage noch bei der Werkstatt-Conversation oft vorkommt.

Die deutsche Arbeiterbewegung steckte damals noch nicht einmal in den Kinderschuhen, sondern lag in Windeln, importirt aus der Schweiz und Frankreich. Es gab ausser katholischen Gesellenvereinen und evangelischen Jünglingsbünden nur Organisationen sogenannter «fortschrittlicher» Tendenz, welche sich an der Krone des «Königs im sozialen Reich», wie Schultze-Delitzsch genannt wurde, sonnten: Arbeiterbildungs-, Spar-, Konsumvereine und dgl. Über die daraus ersprießende Phraseologie ging demgemäß auch die Weisheit der meisten Handwerksburschen nicht hinaus, wenn sie auch Buchbinder waren, welche sich, nebenbei bemerkt, einredeten, was «Bildung» betraf, Anderen «über» zu sein.

Ich war natürlich keine Ausnahme. Zwar hatte ich keine Achtung vor Gott und keine Furcht vor dem Teufel, schwärmte für die Republik (obgleich mir die von Frankfurt wahrlich keineswegs Respekt einflößte) und haßte alle Spieß- und Mastbürger, die ich Gesellenschinder nannte; aber der eigentliche Sozialismus war mir eben doch nur ein spanisches Dorf.

Selbst die Agitationen Lassalle’s, welche damals sich abzuspielen begannen und sogar zum Theil im nahen Frankfurt in Szene gingen, ließen mich kalt, zumal ich sie nur aus den bürgerlichen Blättern kannte, welche so irreleitend wie möglich wirkten. Ich fand zwar aus, daß die Geschichte auf Errichtung von Produktivgenossenschaften durch Staatshülfe, erzielt durch das allgemeine Wahlrecht, hinauslaufen sollte, hielt aber dafür, daß das eine mattherzige Illusion sei, was ich übrigens später erst recht glaubte.

Immerhin besuchte ich öfters die Versammlungen eines Arbeiterbildungsvereins und entnahm Bücher aus der Bibliothek desselben; aber die Vorträge, welche ich da genoß, konnten mir durchaus nicht imponiren. Allerhand Professoren, Schulmeister, Zeitungsschreiber und dergl. fackelten bald von der «Freiheit durch Einheit», bald von der «Freiheit durch Bildung», dann wieder vom Sparen (siehe die bereits charakterisirten Lohnverhältnisse); dann und wann malträtirte Einer populäre Astronomie, die alten Griechen oder den «gesunden und kranken Menschen». Das Resultat war meist ein sachter Gähnkrampf oder sanfter Schlummer.

Eigentliche Gewerkschaften gab es, abgesehen von diversen Gesellenzünften, die sich später zu solchen entwickelten, in jener Zeit noch nicht in Deutschland, doch fehlte es nicht an gelegentlichen Reibungen zwischen Meistern und Gesellen, bei welchen aber in der Regel die Letzteren zu kurz kamen und polizeilich gemaßregelt wurden. Auch ich erlebte eines Tages einen solchen Rummel, meinen ersten «Strike».

Es war sehr heißes Wetter und jeder hatte starken Durst. Der Prinzipal war «liefern» gegangen. Die «Disciplin» war lax. Da kam Einer auf den Einfall, daß die vier jüngsten im Geschäft einem damals herrschenden Unfug entsprechend, ihren «Einstand» bezahlen sollten. Jedem wurden vier große Krüge voll Apfelwein abverlangt. Alsbald war das edle Naß von der unterhalb der Werkstatt gelegenen Wirthschaft herauf geholt und die Becher machten die Runde. Rasch zeigte sich die Wirkung, mehr und mehr wurden Alle «angeraucht». Da erschien der «Alte», selber gehörig «geladen». Er protestirte gegen das Zechgelage, wurde aber ausgezischt und sandte nach der Polizei. Das war das Signal zur allgemeinen Arbeitseinstellung.

Ein reitender Schandarm und ein Dorfpolizist, bekannt unter dem Spitznamen «der dicke Simon», erschienen auf der Bildfläche, wurden aber mit Hohngelächter empfangen. Das Ende vom Liede war, daß sich die ganze Gesellschaft nach der Kneipe vertagte, die beiden Ordnungswächter ebenfalls zur «Sitzung» heranzog und dieselben nicht eher von dannen gehen ließ, als bis sie sternhagelvoll und raportunfähig waren. Beschlossen wurde ein dreitägiger «Blauer», um dem «Alten» seinen Ruf nach Polizei gehörig einzutränken. Auch wurde demselben kund und zu wissen gethan, daß er dafür keinen Lohnabzug machen dürfe, widrigenfalls überhaupt nicht mehr geschafft werde. Da gerade Arbeitermangel in der Portefeuiller-Branche herrschte, blieb ihm nichts Anderes übrig, als in den sauren Apfel zu beißen.

Ähnliche Affairen spielten sich auch anderwärts oft genug zu jener Zeit ab. Namentlich leisteten die Hutmacher, Handschuhmacher, Schneider und Schuster «Einiges» in diesem Genre; aber der Ausgang der betreffenden Meister-Zwiebelungen war nicht immer von solch gemüthlicher Art. Gewöhnlich griff sich die Polizei den einen oder anderen «Rädelsführer» heraus und transportirte ihn per Schub nach seiner Heimath, wo es ihm, namentlich im Widerholungsfalle, passiren konnte, daß man ihn in ein Korrektionshaus sperrte.

Zehn Monate lang hielt ich’s in Bornheim aus; dann aber packte mich wieder der Wandertrieb, der von da ab sich mehr und mehr zu einer förmlichen Vagabundir-Manie entwickelte, was allerdings allerlei spezielle Gründe hatte. [...]

Neuerdings zog es mich nach der Schweiz und nach diversen Umhertreibereien trat ich zu Locle, Kanton Neufchatel, bei einem gewissen Rothfuß als Etuimacher (in der dortigen Gegend florirt die Uhrenindustrie) in Arbeit. Das war im März 1867. An diesem Orte sollte sich mit mir insofern eine bedeutende Wendung zum Besseren vollziehen, als ich daselbst meinen ersten Schritt in die Arbeiterbewegung hineinthat, indem ich mich dem am Platze existirenden «Deutschen Arbeiter-Bildungsvereim, kurzweg «Deutscher Verein» genannt, anschloß und alsbald eine Art agitatorische Wirksamkeit darin entfaltete.

Solche Vereine existirten zu jener Zeit in der Schweiz fast an allen halbwegs bedeutenderen Orten; sie waren in einem Landesverband föderirt und besaßen ein Monatsblatt als Organ, das obligatorisch eingeführt war und den bezeichnenden Titel «Felleisen» führte. Die Tendenz dieser Gesellschaften war eine ziemlich verschwommene. Schultze-Delitzsch war vom ganzen Verband zum «Ehrenmitglied» eines jeden einzelnen Vereins gemacht worden und ein diesbezügliches mit Porträt versehenes Dokument prangte in jedem Versammlungslokal unter Glas und Rahmen.

Beigefügt mag hier werden, daß kurze Zeit darnach dieser Götze mehr und mehr in Verschiß erklärt wurde und daß man dann die betreffenden Ehrenmitgliedstafeln umgekehrt an den Wänden der Vereinsräume hängen sah. Oberflächliche Bildungsmeierei, Geschwärme für deutsche Einigkeit, Lirumlarum-Singsang und «Fragekasten» bildeten das Durcheinander-Programm des Vereins. Namentlich förderte das letztgenannte «Aufklärungs»-Instrument die schönsten moralischen Häringssalate und kautschuckmännischen Verrenkungen seelischer Gymnastik ans Lampenlicht.

Fragen, durch welche Auskunft über die Entstehung der Filzläuse, das Ziel der großdeutschen Partei, die wohlfeilste Kurirung von Tripper-Behafteten, Deutschlands unmittelbare Zukunft, die Beseitigung von Hühneraugen, den Nutzen kommunistischer Colonieen, die Zubereitung von Kleiderreinigungs-Essenzen, Lassalle’s Leben, Streben und Ende, die Gründe der Brechruhr, die Bedeutung der damaligen Pariser Weltausstellung, das Hornberger Schießen oder den augenblicklichen Stand der naturwissenschaftlichen Forschung geheischt wurde, purzelten kalaidoskopisch daher und fanden häufig Beantwortungen, welche jeden Hartleibigen ohne Bittersalzeinguß von seinem Leiden befreien konnte.

Ich war den Übrigen an Mutterwitz auch nicht gerade besonders überlegen; aber so viel hatte ich in der Daseins-Schule doch schon aufgeschnappt, daß ich solche Quatschologie für äußerst beschämend halten mußte und daraus auch ganz und gar kein Hehl machte. Ebensowenig vermochte ich dem üblichen Gesinge einen besonderen Haut-gout abzugewinnen. Man hörte fortwährend von der «lieben Heimath», in der es «schön» sein sollte, von einem «Brunnen vor dem Thore», von der «heiligen Nacht», vom «lieben Gott», der edurch den Wald» geht, und ähnlichem Schnickschnack dermaßen gröhlen, daß man leicht begreifen konnte, warum und wieso sich die Vereine gegen Thierquälerei rapid vermehrten. Ich fühlte instinktiv, daß ein Arbeiter-Verein einen ganz anderen Beruf haben sollte, als die Pflege von geleiertem Gefasel und gefaseltem Geleier; ich deutete das auch an, wußte aber selbst nichts Rechtes vorzuschlagen bis ich vermöge eines zu La Cbaux de Fonds, einem etwa eine Wegsstunde von Locle entfernten Großdorf von damals 40.000 Einwohnern, stattgehabten großen Arbeiterfeste, zu dem auch viele Auswärtige, so z.B. die Mitglieder des Locler Vereins, erschienen waren, den richtigen Pusch ins correkte Fahrwasser erhielt.

In La Chaux de Fonds war einige Zeit zuvor eine Sektion der Internationalen Arbeiter-Association» entstanden und zwar jene, welche später den Kern der anarchistischen «Jura-Föderation» bildete. Aus derselben gingen alsbald diverse feurige Redner hervor, welche es verstanden die moderne Gesellschaft drastisch zu geißeln und mit Begeisterung die soziale Revolution zu herolden. Dieselben benützten auch den guten Besuch des obgedachten Arbeiterfestes dazu, gehörig die Pauke zu schlagen, was Manchen zum Denken, mich zur Selbsterkenntniß brachte.

Was ich da hörte, vermochte ich ohne Weiteres zu indossiren. Das war ja Alles ganz logisch, das stimmte auffallend, paßte klipp und klar in einander. So oder ähnlich fuhren mir zuvor schon gar manche Gedanken durch den Kopf; ich wußte sie nur nicht in correkten Zusammenhang zu bringen, zu systematisiren. Und diese einfache Lehre nannten die Redner Sozialismus. Mir wurde es auf der Stelle einleuchtend, daß auch ich Sozialist sei, längst zuvor war, ohne es zu wissen. Immerhin kaufte ich mir diverse Broschüren, deren Inhalt ich alsbald verschlang und daraus erst recht die Überzeugung schöpfte, daß der Gedankengang der Sozialisten in der Hauptsache mir zuvor schon kein fremder war.

Die Art und Weise, wie derselbe vorgetragen wurde, berauschte mich aber - namentlich wurde ich bei der Lektüre diverser Lassalle’scher Broschüren förmlich begeistert, obwohl sie mich heute, wo diese Schriften veraltet sind, schwerlich erwärmen könnten. Ich fühlte mich angespornt, nicht nur ein Anhänger dieser Lehren zu werden, resp. zu bleiben, sondern Propaganda dafür zu machen.

Im Verein wurde ich lauter und lauter; den seichten Schwätzereien in den Discussionsstunden machte ich mehr und mehr ein Ende. Ich wühlte auch außerhalb des Vereins, zog neue Mitglieder heran und brachte binnen sechs Monaten die Zahl derselben von 17 auf 72. Bald wurde ich zum Sekretär ernannt und setzte mich als solcher mit auswärtigen Gleichgesinnten brieflich in Verbindung, was wiederum zu weiterer Schärfung der Argumentations-Fähigkeit und des Agitations-Eifers führte.

Von da ab fühlte ich mich eigentlich erst als Mensch; es schwebte mir endlich ein Lebenszweck vor Augen, der über den bloßen Kampf ums Dasein und die Befriedigung augenblicklicher individueller Bedürfnisse hinaus ging; ich lebte mich ins Reich der Ideale hinein. Es beseelte mich ein gewisser Drang nach Erfüllung einer höheren Mission. Der Privatmensch schrumpfte sozusagen graduell in mir zusammen; was noch von einer Philister-Seele in mir gewohnt haben mochte - es vertrocknete. Die Sache der Menschheit war fortan meine Sache. Jeder Fortschritt, den dieselbe zu verzeichnen hatte, erfüllte mich auch persönlich mit hoher Freude; jedes Hinderniß, das ihm reaktionäre Gewalten bereiteten, erregte in mir bitteren Haß gegen die Schuldigen und die von denselben repräsentirten Institutionen.

Aus: Memoiren. Erlebtes, Erforschtes und Erdachtes. 4 Bändchen. New York: Selbstvlg. 1903-1907. Bd. 1, S. 32.-34, 50-53

Originaltext: Emmerich, Wolfgang (Hg.): Proletarische Lebensläufe. Autobiographische Dokumente zur Entstehung der Zweiten Kultur in Deutschland. Band 1. Anfänge bis 1914, rowohlt 1974. Digitalisiert von www.anarchismus.at


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