Heiner Koechlin - Mitbestimmung und Selbstbestimmung
Mit unerwartet grossem Mehr ist in der Schweiz die Verfassungsinitiative zur Einführung der Mitbestimmung in den Betrieben verworfen worden. Zu diesem negativen Resultat führte eine massive Nein-Propaganda von Seiten des Bürgertums, aber auch eine relativ grosse Abstimmungsabstinenz von Seiten der Arbeiter.
Soll man aus diesem Ausgang schliessen, dass die Mehrheit der Bevölkerung nicht daran interessiert ist, an ihrem Arbeitsort, dort wo sie den grössten Teil ihrer Lebenszeit verbringen, ein Recht auf Mitbestimmung zu besitzen?
Mir scheint ein solcher Schluss voreilig.
Weit wahrscheinlicher ist, dass vielen Menschen ein Verfassungsparagraph, der ein solches Recht postulierte, zu abstrakt ist, als dass sie zu ihm Vertrauen haben könnten. Sie können sich unter diesem Recht nicht ganz zu Unrecht nichts Konkretes und Positives vorstellen.
Dazu kommt, dass die Angst vor einer solchen Neuerung bei manchen grösser ist, als die Hoffnung auf sie. Und das kommt daher, dass sie, seit Generationen gewöhnt, im Bereich der Arbeit Anordnungen und Befehle auszuführen, weder sich selbst, geschweige ihren Arbeitskollegen, sachgerechte und kompetente Entscheidungen zutrauen.
Es erscheint ihnen leichter, einen Arbeitgeber zu haben, der einen zwar ausbeutet, auf den man aber auch schimpfen kann und von dem man dieses und jenes fordern kann, als selbst Verantwortung zu tragen. Die schweizerische direkte Referendums- und Initiativdemokratie bietet gegenüber dem reinen Parlamentarismus, der das politische Mitbestimmungsrecht der Bevölkerung auf periodische Wahlen von Abgeordneten beschränkt, unbestreitbare Vorteile.
Doch verführt diese Art von Demokratie andererseits zur Illusion, dass man auf dem Wege von Unterschriftensammlung und Volksabstimmung alles, aber auch alles erreichen könne. Viele soziale Postulate lassen sich auf diesem Wege nicht realisieren, ganz einfach darum, weil ein neuer Gesetzes- oder Verfassungsparagraph keine soziale Realität zu begründen vermag.
Seit Jahrzehnten hat die im Marxismus wurzelnde sozialdemokratische und kommunistische Arbeiterbewegung den Arbeitern die Eroberung der politischen Macht durch Beteiligung an Parlament und Gesetzgebung oder aber durch bewaffneten Aufstand als einzigen Weg zu ihrer Emanzipation gepredigt. Die Gewerkschaften haben sich im besten Falle für höhere Löhne und Verkürzung der Arbeitszeit eingesetzt. Mit- und Selbstbestimmung auf dem Arbeitsplatz ist für die sozialdemokratische und sozialdemokratisch-gewerkschaftliche Arbeiterbewegung eine Neuentdeckung.
Dass viele Sozialdemokraten und Gewerkschaften durch die Erfahrungen der jüngsten Vergangenheit vom marxistischen Verstaatlichungsdogma abgekommen sind und sich den Ideen der einst als Utopisten verschrieenen Anarchisten und Syndikalisten zuwenden, ist erfreulich. Es ist jedoch einigermassen naiv, zu glauben, dass eine Arbeiterschaft, deren sog. Klassenbewusstsein seit Generationen vom marxistischen Dogma geformt worden ist, unvorbereitet mit beiden Händen nach dieser Neuentdeckung greifen würde.
Das Bürgertum führte seinen Kampf gegen die Mitbestimmungsinitiative aus der richtigen Erkenntnis heraus, dass eine Mitbestimmung in ihrer Konsequenz ebenso zur Selbstbestimmung führt, wie die konstitutionelle Monarchie zur politischen Demokratie. Ist das Königtum von Gottesgnaden einmal durchlöchert, so wird der König entweder umgebracht oder zu einer bloss repräsentativen und dekorativen Figur erniedrigt.
Auf welchem Wege kann Mit- und Selbstbestimmung in Arbeit und Wirtschaft erreicht werden? Das Genossenschaftswesen, das sich auf verschiedenen Gebieten in unserer privatkapitalistischen Gesellschaft festsetzen und ausbreiten konnte, ist durch notwendige Anpassung an diese privatkapitalistische Gesellschaft in mancher Hinsicht verwässert und verfälscht worden.
Andererseits darf man nicht übersehen, dass unsere privatkapitalistische Gesellschaft nicht mehr das rein herrschaftliche Gesicht des Frühkapitalismus trägt. Diese Wandlung ist unter anderem auf eine Durchdringung der privatkapitalistischen Gesellschaft mit einem auf dem Prinzip der Selbstbestimmung beruhenden Genossenschaftswesen zurückzuführen. Mittels weitgehender betrieblicher und gewerkschaftlicher Mitbestimmung haben die Schweden ihre Kapitalisten gleich ihrem König zu einem "konstitutionellen" Dasein verurteilt.
Für eine radikale Verwirklichung sozialer Selbstbestimmung gibt es zwei geschichtlich bedeutsame Ansätze. Der eine ist in Blut und Terror untergegangen, der andere ist nach hundertjähriger Existenz noch heute vom Untergang bedroht.
In Spanien wurde 1936 im Zuge einer durch einen Militärputsch ausgelösten Revolution rund die Hälfte von Landwirtschaft und Industrie nach dem Prinzip der Selbstbestimmung sozialisiert. Diese Revolution und deren Erfolge und Probleme sind noch zu wenig studiert und analysiert worden. Auf dem Lande entstanden landwirtschaftliche Kollektiven zum Teil mit integrierten handwerklichen Werkstätten und industriellen Kleinbetrieben. Die Zugehörigkeit zu diesen Gemeinschaften war grundsätzlich eine freiwillige. Neben ihnen bestanden allerorts selbständige Kleinbauern. Ihr Fundament war das einer weitgehenden Solidarität, die mancherorts bis zur Abschaffung des Geldes und zur Freiheit des Konsums führten.
Problematischer und spannungsreicher vollzog sich die Sozialisierung der Industrie in den Städten. In einer ersten Phase wurden die meisten Betriebe von den intern gewählten Räten verwaltet. Dieses System betrieblicher Selbstherrlichkeit führte zu gegenseitiger Konkurrenzierung und Ungleichheit zwischen armen und reichen Industrien etc., sodass kritische Stimmen davon sprachen, man habe einen Kapitalisten davongejagt, um ihn durch viele zu ersetzen. Es wurden darum erfolgreiche Anstrengungen gemacht, diesen betrieblichen Partikularismus durch föderative gewerkschaftliche, kommunale und regionale Koordinationsinstanzen zu überwinden.
Eine Entwicklung von blosser betrieblicher "Kollektivierung" zu dem, was man "Sozialisierung" nannte, blieb bis zum Sieg Francos im Flusse. Das Wesen dieser revolutionären Umwandlung trifft man am besten, wenn man von einem labilen Gleichgewicht zwischen betrieblicher, gewerkschaftlicher und munizipaler Selbstbestimmung spricht. Sie war spontan in dem Sinne, als sie selbst die anarchistischen Führer, die im gegebenen Moment allein die Rettung der Republik vor einem Militärputsch im Auge hatten, überraschte.
Aber möglich war sie nur dank der Erziehung einer bewussten Arbeiterschicht im Sinne anarchosozialistischer Ideologie während eines Jahrhunderts und darüber hinaus, dank einer, seit dem Mittelalter im Volksbewusstsein verwurzelten Tradition.
Die soziale Selbstbestimmung in Israel fusst auf der Pionierarbeit jüdischer Einwanderer aus Osteuropa, die vom Geiste freiheitlich sozialistischer Tradition durchdrungen waren. Der überwiegende Teil des Agrarlandes, sowie ein Sektor der Industrie sind nach dem Prinzip der Selbstbestimmung sozialisiert, sei es in Form von freiwillig-kommunistischen Kibbuzim, sei es von genossenschaftlichen Moschawim. Die Produktivität des sozialisierten Wirtschaftssektor ist weit grösser, als seine quantitative Stärke im Verhältnis zur Gesamtwirtschaft des Landes. Umgekehrt ist dieses Verhältnis im zwangskollektivierten Sowjetrussland, wo ein hoher Prozentsatz der landwirtschaftlichen Produktion aus den kleinen Landparzellen stammt, die den Kollektivbauern für ihren privaten Bedarf zugestanden werden.
Diese beiden Ansätze beweisen, dass soziale und wirtschaftliche Selbstbestimmung nicht nur möglich, sondern der privatkapitalistischen und der staatskollektivistischen Gesellschaftsform wirtschaftlich und kulturell überlegen ist. Auf welchem Wege aber können wir zur sozialen Selbstbestimmung gelangen? Sowohl die spanische Revolution, als auch die jüdische Besiedlung Palästinas sind einmalige Vorgänge, die sich auf Grund bestimmter geschichtlicher Konstellationen aufdrängten und nicht einfach wiederholt werden können. Revolution und Neubesiedlung, so sehr sie sich in ihrem Wesen unterscheiden, haben den gemeinsamen Vorteil, einen gleichsam leeren Raum vorzufinden, in dem ein Neuanfang nötig und die Realisierung einer Idee möglich sind. Gemeinsam ist ihnen aber auch die Notwendigkeit, diesen Neuanfang durch Macht- und Gewaltmittel gegen äussere und innere Bedrohung zu schützen. Gefährdet sind beide nicht nur durch die Gewalt ihrer Feinde, sondern durch den Geist ihrer eigenen Macht- Und Gewaltmittel, der dem der freien Selbstbestimmung widerspricht.
Mir scheint, dass der langsame Weg einer Entwicklung, die über Mitbestimmung zur Selbstbestimmung führt, dem revolutionären Weg noch aus einem anderen Grunde vorzuziehen ist: Einer unmittelbaren und plötzlichen Übernahme eines Betriebes durch die Arbeiter und Angestellten wären diese nur in seltenen Fällen technisch und moralisch gewachsen. Es müsste sich sehr schnell eine Bürokratisierung und mit ihr neue Abhängigkeitsverhältnisse und soziale Ungleichheiten entwickeln, die vielleicht einschneidender wären als diejenigen, die unter den Verhältnissen der Privatwirtschaft bestanden. Hingegen könnte eine sich mehr und mehr intensivierende und ausbreitende aktive Mitbestimmung mit einer wachsenden technischen Ausbildung,, und wirtschaftlichen Einsicht sowohl als einer Erziehung zu sozialem Verantwortungsbewusstsein Hand in Hand gehen und auf diese Weise zu nicht nur formeller, sondern wirklicher Selbstbestimmung führen.
Die Mitbestimmung aber kann nicht auf dem Wege von Parlamentsbeschluss oder Verfassungsinitiative begonnen werden. Die Einführung eines entsprechenden Gesetzes oder Verfassungsparagraphen kann von Vorteil sein, wenn die Mitbestimmung de facto bereits besteht. Er dient dann zur juristischen Verankerung einer sozialen Realität. Hier und nur hier liegt der Vorteil der schweizerischen direkten Referendums- und Initiativdemokratie. Nur ein im Volksbewusstsein bereits realer Rechtsgrundsatz hat die Möglichkeit, eine Mehrheit zu finden. Der Weg zur Mit- und Selbstbestimmung muss in den einzelnen Betrieben begonnen werden. Für eine Arbeiterbewegung, die sich auf den vom Marxismus vorgezeichneten Bahnen auf Gewinnung von politischer Macht konzentriert und in ihren sozialen Forderungen im wesentlichen auf Lohnerhöhungen und Verkürzung der Arbeitszeit beschränkt hat, eröffnet sich hier ein Neuland.
Originaltext: Akratie Nr. 6, Sommer 1976. Digitalisiert von www.anarchismus.at