Heiner Koechlin - Krieg und Frieden
Vieles, was der Schweizer Anarchist Heiner Koechlin 1974 inhaltlich zum Nahost-Konflikt und als Antizionismus getarntem linken Antisemitismus schrieb, wurde 15 - 20 Jahre später zum Allgemeinplatz der "antideutschen Debatte" innerhalb der radikalen Linken...
Der arabische Überfall auf Israel am Versöhnungstage hat nicht nur Menschenleben vernichtet, sondern auch Illusionen zerstört.
Deutlicher als vorher sind wir uns bewusst, unter einer doppelten Bedrohung zu stehen: unter der des totalen Staates und unter der des totalen Krieges. Beide bedingen sich gegenseitig insofern, als der totale Staat in dem Masse an Macht gewinnt, in dem die Menschheit von der Furcht vor dem totalen Kriege beherrscht wird.
Der arabische Überfall am Versöhnungstage war möglich dank einer hemmungslosen Begünstigung von Kriegswillen und Kriegsvermögen durch das Land, das sich paradoxerweise eine Union sozialistischer Sowjetrepubliken nennt und in Wirklichkeit das Gegenteil von dem ist, was diese drei Worte zum Ausdruck bringen sollen.
Wie zur Zeit des Münchner Abkommens mit dem dritten Reiche wird die Kriegsangst von totalitären Staaten als Erpressungsmittel zur Erreichung von Grossmachtzielen benützt.
Israel ist in ständiger Gefahr, Opfer solcher Erpressung zu werden. Kompliziert wird die Situation dadurch, dass die Neo-Imperialisten die Dinge mit teilweisem Erfolg nach dem Muster "haltet den Dieb!" auf den Kopf zu stellen versuchen.
Sie geben vor, für die Freiheit der Völker zu kämpfen, nennen sich Anti-Imperialisten, Demokraten, Kommunisten, Progressisten etc. und stellen sich in Reih und Glied mit arabischen Feudal- und Diktaturstaaten gegen das trotz jahrzehntealtem härtesten Existenzkampfe bis heute frei gebliebene Israel. In Reih und Glied stellen sie sich mit ehemaligen Nazis, die auf die Stunde der Rache für ihre Niederlage im zweiten Weltkrieg warten.
Unterschwelliger Antisemitismus, oder besser Antijudaismus, feiert als "Antizionismus" getarnt linke und rechte Triumphe.
Der Zionismus, d.h. die Idee einer organisierten jüdischen Besiedelung Palästinas entstand gegen Ende des letzten Jahrhunderts. Auftrieb gaben ihr vor allem die staatlich tolerierten und polizeilich begünstigten Pogrome, welche eine friedliche Existenz der jüdischen Massen in Osteuropa verunmöglichten. Das hiezu benötigte Land wurde von einem von europäischeh und amerikanischen Juden unterstützten Nationalfonds arabischen Grossgrundbesitzern abgekauft. Palästina war äusserst dünn besiedelt und das gekaufte Land musste von jüdischen Pionieren erst fruchtbar gemacht werden.
Eine neue Einwanderungswelle setzte mit den Judenverfolgungen durch den Nationalsozialismus ein. Unzählige fanden, aus ihrer Heimat vertrieben, in Palaestina, das sie als ihr Stammland betrachteten, eine neue Existenz. Da vielen von ihnen die Türen zu jedem anderen Lande verschlossen waren, wäre ihnen auch gar keine andere Möglichkeit übriggeblieben. Nach Kriegsende wurden ihre Reihen von Überlebenden aus Konzentrationslagern verstärkt. Zu ihnen stiessen Verfolgte aus arabischen Ländern. Dieser Ursprung als Zufluchtsort Verfolgter enthebt Israel gewiss nicht der Kritik. Doch sind diejenigen, welche heute Kritik üben, zu solcher am allerwenigsten berechtigt.
Der Staat Israel besitzt alle schlechten Eigenschaften eines Nationalstaates. Wer den Staat Israel kritisiert, weil er den Nationalstaat als solchen zur Herstellung und Garantie des Friedens unter den Völkern ablehnt, ist dazu legitimiert. Doch wird er die Existenz des Israelischen Nationalstaates nicht isoliert von der Existenz der anderen Nationalstaaten der Region betrachten können.
Der Zionismus tendierte ursprünglich nicht auf die Gründung eines jüdischen Staates, sondern lediglich auf die Anerkennung einer jüdischen Nationalität neben anderen Nationalitäten durch das türkische Reich. Nach dem 1. Weltkriege zerfiel das türkische Grossreich und damit die politische Einheit des nahen Orients. Seine Aufteilung in britische und französische Protektoratsgebiete bereitete die Entstehung von Nationalstaaten vor und führte, nicht ohne Mitschuld der Kolonialmächte, zu einer Zuspitzung nationaler Gegensätze. Nach deren Abzug am Ende des zweiten Weltkrieges entstanden fast gleichzeitig Syrien, der Libanon, Jordanien und Israel.
Diese Entstehung neuer Staaten konnte nicht ohne Kriege vor sich gehen. Eine Parallele zu den Nationalkriegen, welche die Entstehung der europäischen Staaten bis zu ihrer Konsolidierung in neuer Zeit begleiteten, zu sehen, ist trotz aller Verschiedenheit der Ausgangspunkte am Platz.
Diese Entwicklung ist zu bedauern. Bedauert haben sie grosse jüdische Denker wie Martin Buber, der es als eine geistige Degradierung des Judentums empfand, zu blossem Staatsein neben anderen herabzusinken.
Doch wäre es absurd, auf Grund solchen Bedauerns denen das Wort zu reden, die heute die Vernichtung des Staates Israel wollen.
Der Weg zur friedlichen Föderation der Völker kann nicht über die Zerstörung eines Nationalstaates führen, sondern nur über die Wandlung aller. Eine solche braucht es nicht nur zur Ermöglichung des Zusammenlebens von Juden und Arabern, sondern auch von Arabern mit Arabern.
Nur die Existenz des gemeinsamen Feindes Israel hat bis heute grössere Kriege zwischen den arabischen Staaten verhindert. Gleichzeitig dient Israel den herrschenden arabischen Klassen als Blitzableiter für soziale Unzufriedenheit.
Nur ein irrealer Simplismus kann aber behaupten, dass sich alle Staaten gleich seien. So ist Israel in sozialer Hinsicht seinen Nachbarstaaten weit überlegen. Darum besteht für die herrschenden Klassen der Araber auch immer die Gefahr einer sozialen Ansteckung ihrer zurückgebliebenen Volksmassen. Diese Gefahr ist seit der Besetzung Westjordaniens durch Israel und dank der offenen Jordangrenze in hohem Masse gestiegen. Die in Israel und in den von ihm besetzten Gebieten lebenden Araber gewinnen einen Einblick in politische und soziale Freiheit, in Dinge, die in arabischen Staaten nicht existieren. Dieser Umstand erklärt in hohem Masse, warum die arabischen Autokraten, seien sie feudaler oder pseudosozialistischer Färbung, diesen Fremdkörper inmitten ihrer Herrschaftsbereiche nicht länger dulden wollen.
Auf Grund der Entstehungsgeschichte Israels nehmen gemeinwirtschaftliche und genossenschaftliche Einrichtungen im sozialen Leben dieses Landes einen wichtigen Raum ein. Diese sind darum beispielhaft, weil sie nicht auf Zwang, sondern auf Freiwilligkeit beruhen. Im Nebeneinander von kommunistischer, genossenschaftlicher und privatwirtschaftlicher Produktions- und Konsumationsweise, bei Abwesenheit des Privateigentums an Grund und Boden, zeigt sich ein Ansatz zu einer pluralistischen Gesellschaftsordnung, wie sie modernen Soziologen als freiheitliche Lösung der Weltprobleme vorschwebt.
Israel ist unter den Staaten des nahen Ostens der einzige, in dem die Rechte der Person, gleichgültig welcher Rasse oder Religion sie angehöre, gewährleistet sind. Sogar die Todesstrafe im Kriegsfalle ist verpönt. Die sich für menschenfreundlichhaltende Schweiz glaubte während eines Krieges, an dem sie direkt nicht beteiligt war, Spione erschiessen zu müssen.
Israel hat trotz Krieg und mörderischem Terror bis jetzt ein einziges Todesurteil - das gegen Eichmann - vollstreckt.
Der Imperialismus dieses kleinen Landes ist ein Märchen, auf das einzutreten kaum nötig ist. Ein Blick auf die Landkarte genügt, um sich von seiner Absurdität zu überzeugen.
Jede Gebietserweiterung, die Israel im Lauf seiner kurzen Geschichte vorgenommen hat, geschah in der Folge von Kriegen, welche die arabischen Nachbarn mit dem Ziel seiner Vernichtung begonnen hatten. Sie diente allein der Gewinnung der für dieses kleine, von Todfeinden umgebene Land lebensnotwendigen sicheren Grenzen.
Ein Märchen ist die Unterdrückung der in Israel lebenden Araber. Nicht nur besitzen diese grosse wirtschaftliche und soziale Vorteile, sondern auch politische Rechte, welche die in arabischen Staaten lebenden Araber noch nie gekannt haben. Dass in dieser Hinsicht noch manches verbessert werden sollte, ist eine Wahrheit, die im Munde derer, die durch ihre Kriegspolitik gegen dieses Land eine Verbesserung bisher verhindert haben, zur Lüge wird.
Legen soziale und politische Gründe eine Stellungnahme für Israel nahe, so ist doch der letzte Grund, der jedem anständigen Menschen eine Parteinahme für Israel aufdrängt, ein rein menschlicher. Wenn ein arabischer Staat einen Krieg verliert, so bedeutet dies einen politischen Prestigeverlust eben dieses Staates. Seine Bevölkerung aber verliert dabei gar nichts. Wenn Israel dagegen einen Krieg verlieren sollte, so würde das seine Vernichtung bedeuten. Vernichtet würde dabei nicht lediglich ein politisches Gebilde, sondern Leben und Existenz einer ganzen Bevölkerung. Es geht hier nicht mehr um Zionismus, denn Israel als jüdische Wohnstätte ist ganz einfach eine menschliche Tatsache, die auch der Nicht- Zionist zur Kenntnis nehmen muss.
Zur angeblichen Wiederherstellung von Rechten der palästinensischen Araber wird heute von sogenannt fortschrittlichen Kreisen einem neuen palästinensischen Staate das Wort geredet. War die Teilung Palästinas in zwei Staaten schon ein folgenschwerer Fehler, so würde die Gründung eines dritten nicht nur kein Problem lösen, sondern die Lösung aller Probleme erschweren, wenn nicht verunmöglichen.
Das dringendste Problem ist die Wiederansiedlung der noch immer in Lagern vegetierenden arabischen Kriegsflüchtlinge. Ihre Wiederansiedlung wurde bis heute von den arabischen Staaten sabotiert, da diese diesen Notstand als Waffe gegen Israel benötigten. Nichts anderes würde auch ein neuer "palästinensischer" Staat tun. Nur in einer jüdisch-arabischen Zusammenarbeit unter der Voraussetzung einer effektiven Anerkennung Israels wäre dieses Problem zu lösen.
Im übrigen würde der projektierte "palästinensische Staat" keinerlei Rechte palästinensischer Araber verwirklichen. Der in Westjordanien lebende Araber wird von den rivalisierenden Terroristenführern heute ja nicht um seine Meinung gefragt, noch würde er es morgen, wenn diese ans Ziel ihrer Wünsche kämen. Den Palästinensern ist zu wünschen, von einem solchen palästinensischen Staate verschont zu bleiben.
Das Hauptargument einer sog. Linken gegen Israel ist aber dessen Bündnis mit den Vereinigten Staaten von Amerika. Logischer wäre es, aus diesem Bündnis, das sich aus dem Zwang der Umstände ergeben hat, einen anderen Schluss zu ziehen, der ungefähr folgendermassen lautete: Solange die Menschenrechte auf der Welt keinen anderen und besseren Schutz geniessen, als den der Vereinigten Staaten von Amerika, solange können sie auf diesen Schutz nicht verzichten, so zweischneidig und unzuverlässig dieser auch sein möge. Dies gilt nicht nur für Israel, sondern für uns alle.
Der Antiamerikanismus ist eine Krankheit, an der die Vereinigten Staaten von Amerika gewiss nicht unschuldig sind. Doch handelt es sich ungeachtet dieser Mitschuld um eine Krankheit. Ihr Hauptsymptom besteht im Verlust des Sinnes für Dimensionen. Schmutzige Flecken auf dem Bilde der Demokratie auf der einen Seite lassen den Kranken die gänzliche Abwesenheit von Freiheit und Menschenrechten auf der anderen Seite übersehen.
Die antiisraelische Front erstreckt sich von Mao Tse Tung und Breschnew über Pompidou bis zum General Franco. Ihren christlichen Segen erhält sie vom Papste und gewissen protestantischen Moskaupilgern, Nachfolgern jenes aufrichtigen, aber naiven Pazifisten Pierre Cérésol, der einst zu Hitler wallfahrtete, weil er dessen Friedensbeteuerungen für bare Münze nahm.
Diesen Gestalten, an deren Aufrichtigkeit man glauben möchte, zur Seite steht die Front der Öl—Opportunisten, die, um keine wirtschaftlichen Risiken eingehen zu müssen, bereit sind, das Volk, dessen Opferung sie zur Zeit des Nationalsozialismus geschehen liessen, noch einmal ans Messer zu liefern.
Die erbärmliche Haltung der EWG- Staaten vor der Öldrohung ist ein Ausdruck nicht nur der Charakterlosigkeit von Staatsmännern, sondern auch der äussersten Verletzlichkeit unserer überzivilisierten Gesellschaft. Hinter diesem Vordergrund steht latent die Drohung der totalitären Mächte mit dem totalen Krieg.
Wirkliche Entspannung könnte nur das Resultat der Selbstbefreiung der Völker sein. Doch sind wir davon weit entfernt.
Heiner Koechlin
Originaltext: Zeitgeist. Zeitschrift für sozialen Fortschritt - freien Sozialismus - Kultur und Zeitgeschehen. Nr. 26/27, März-Juni 1974 (16. Jahrgang), Hamburg. Digitalisiert von www.anarchismus.at / Text bearbeitet (ae zu ä usw.)