Gustav Landauer - Anarchische Gedanken über Anarchismus (1901)

Ich erinnere mich an ein Wort, das der englische Anarchist Mowbray 1893 auf dem internationalen Sozialistischen Kongreß in Zürich gesprochen hat. Es handelte sich darum, ob die Anarchisten das Recht hätten, am Kongreß theilzunehmen oder nicht. Nach stürmischen Debatten war eine Resolution durchgegangen, wonach nur solche zugelassen sein sollten, die für die "politische" Aktion einträten. In diesem Moment, wo wir Anarchisten schon ausgeschlossen zu sein schienen, brachte Mowbray noch einmal durch einen pathetischen Witz die Waage ins Schwanken. Er erklärte: Die That des Brutus, rief er aus, war eine eminent politische Aktion. Wir sind für die politische Aktion und müssen also zugelassen werden.

Dies Wort scheint mir überaus geeignet, die seltsame Erscheinung zu erklären, daß es fast zum anarchistischen Dogma geworden ist, die Tötung von Staatsoberhäuptern, wenn erst vollbracht, als etwas Anarchistisches anzusehen; das ferner in der That fast alle Attentäter der letzten Jahrzehnte von anarchistischen Grundgedanken ausgegangen sind. Seltsam wird jeder Unbefangene dieses Zusammentreffen in der That nennen; denn was hat es mit Anarchismus, der Lehre von einer zu erstrebenden Gesellschaft ohne Staat und ohne autoritärem Zwang, was mit der Bewegung gegen den Staat und gegen legalisirte Gewalt zu thun, daß Personen ums Leben gebracht werden? Gar nichts. Aber die Anarchisten sehen ein, daß mit Lehren und Verkünden noch nicht genug gethan ist; der gesellschaftliche Neubau ist nicht zu errichten, weil die Gewalt der Machthaber im Wege ist; es gilt also, so fahren sie in ihren Folgerungen fort, neben der Propaganda durch Wort und Schrift und neben der Konstruktion auch die Destruktion; zum Umreißen aller Schranken sind sie viel zu schwach; also wenigstens die That propagiren und durch die That Propaganda machen; die politischen Parteien treiben positive politische Aktion; so müssen also die Anarchisten, als Einzelne, positive Antipolitik, negative Politik treiben. Aus diesem Raisonment erklärt sich die politische Aktion der Anarchisten, die Propaganda der That, der individuelle Terrorismus.

Ich stehe nicht an, es in aller Schärfe auszusprechen - und ich weiß, daß ich mit diesen Worten hüben noch drüben Dank ernten werde -: Die Attentatspolitik der Anarchisten geht zum Theil aus dem Bestreben einer kleinen Gruppe hervor, es den großen Parteien gleich zu thun. Es steckt Rennomirsucht darin. Wir machen auch Politik, sagen sie; wir sind nicht etwa unthätig; man muß mit uns rechnen. Die Anarchisten sind mir nicht anarchisch genug; sie sind noch immer eine politische Partei, ja, sie treiben sogar ganz primitive Reformpolitik; das Töten von Menschen hat von je her zu den naiven Besserungsversuchen der Primitiven gehört; und Mowbrays Brutus war ein kurzsichtiger Reformpolitiker. Wenn die amerikanischen Machthaber jetzt, ohne Rücksicht auf Rechte und Gesetze, einige ganz unbetheiligte Anarchisten aufhängen ließen, so handelten sie genau so anarchistisch wie irgendein Attentäter, - und vielleicht, eben so wie dieser, aus Idealismus. Denn nur Dogmatiker können leugnen wollen, daß es glühende und aufrichtige Staatsidealisten giebt. Die Anarchisten freilich in ihrer Mehrzahl sind Dogmatiker; sie werden schreien, daß ich, der ich mir auch heute noch das Recht beimesse, meiner Weltanschauung den Namen der Anarchie zu geben, so ohne weiteres meine Wahrheit ausspreche; sie sind auch Oppurtunisten und werden finden, gerade jetzt sei nicht die Stunde zu solcher Aussprache. Ich aber finde: Jetzt gerade ist der Moment.

Auch das ist freilich so ein Dogma der Anarchisten, daß sie etwa sagen: Alle Tage werden soundso viele Arbeiter, soundso viele Soldaten, soundso viele Tuberkulose von unseren mörderischen Zuständen ums Leben gebracht; was soll das Geschrei? McKinnley (amerikanischer Präsident, 1901 von einem Anarchisten umgebracht) zählt nicht mehr als einer von ihnen. Mit Verlaub! Auch da werde ich meinen Anarchisten gar zu anarchisch sein: mich hat der Tod McKinleys mehr, weit mehr erschüttert als der eines Dachdeckers, der in Folge eines schlecht gebauten Gerüsts vom Dach gefallen wäre. Es ist altmodisch, ich gebe es gern zu; aber wenn ein Mensch, mit dem Schein der Machtfülle umgeben, harmlos und mit gutem Gewissen, von einem Mitmenschen, dem er die Hand hinstreckt, erschossen wird, wenn dann die Augen von Millionen seinem Sterbelager sich zuwenden, dann steckt darin für mich echte Tragik, die diesen Menschen, der vielleicht nur ein mäßiger Kopf und ein wenig edler Mensch gewesen ist, verklärt. Gern aber füge ich hinzu, daß ebenso auch der Attentäter meinem Herzen nähersteht als der unglückliche Kerl, der das Gerüst schlecht gezimmert hatte. Es will etwas heißen, so mit dem Leben fertig zu sein.

Es ist hier nicht meine Absicht, mich in die Psychologie der modernen Attentäter zu versenken. Sie sind vielleicht weniger Helden oder Märtyrer als eine neue Art von Selbstmördern zu nennen. Für einen Menschen, der an nichts glaubt als an dieses Leben und den dieses Leben bitter enttäuscht hat, der erfüllt ist von kaltem Haß gegen die Zustände, die ihn zu Grunde gerichtet haben und die ihm unerträglich zu gewahren sind, kann es ein dämonisch verführerischer Gedanke sein, noch einen von denen da oben mitzunehmen und sich auf dem Umweg über die Gerichte und vor den Augen der Welt demonstrativ ums Leben zu bringen. Und mindestens ebenso verführerisch ist der Gedanke, der tausendfach variiert in der anarchistischen Literatur widerkehrt: der autoritären Gewalt die freie Gewalt, die Rebellion des Individuums entgegenzusetzen.

Das ist der Grundirrthum der revolutionären Anarchisten, den ich lange genug mit ihnen getheilt habe, daß sie glauben: das Ideal der Gewaltlosigkeit mit Gewalt erreichen zu können. Sie wenden sich mit Heftigkeit gegen die "revolutionäre Diktatur", die Marx und Engels in ihrem kommunistischen Manifest als ein kurzes Übergangsstadium nach der großen Revolution vorgesehen hatten. Das sind Selbsttäuschungen; jede Gewaltausübung ist Diktatur, sofern sie nicht freiwillig ertragen, von den befehligten Massen anerkannt ist. In diesem fall aber handelt es sich um autoritäre Gewalt. Jede Gewalt ist entweder Despotie oder Autorität.

Die Anarchisten müßten einsehen: ein Ziel läßt sich nur erreichen, wenn das Mittel schon in der Farbe dieses Zieles gefärbt ist. Nie kommt man durch Gewalt zur Gewaltlosigkeit. Die Anarchie ist da, wo Anarchisten sind, wirkliche Anarchisten, solche Menschen, die keine Gewalt mehr üben. Ich sage damit wahrhaftig nichts Neues; es ist dasselbe, was uns Tolstoi schon lange gesagt hat. Als der König von Italien von Bresci umgebracht worden war, veröffentlichte Tolstoi einen wundervollen Artikel, der in den Worten gipfelte: Man soll den Fürsten nicht töten, sondern ihnen klarmachen, daß sie nicht selbst töten dürfen. Der Wortlaut war noch schärfer und der Artikel enthielt so wuchtige Streiche gegen die Machthaber, daß ihn anarchistische Blätter zum Abdruck brachten; auch diese Stellen wurden, ich möchte sagen: gemüthlich oder nonchalant, abgedruckt, aber, wie eine Marotte, nicht weiter beachtet.

Die Anarchisten werden einwenden: Wenn wir Gewaltlose sind, lassen wir uns alle Beraubung und Unterdrückung gefallen; dann sind wir nicht Freie, sondern Sklaven; Wir wollen nicht die Gewaltlosigkeit einzelner Individuen, sondern den Zustand der Gewaltlosigkeit; wir wollen die Anarchie, aber zuerst müssen wir zurückerhalten oder nehmen, was uns geraubt oder vorenthalten wird. Das ist wieder so ein Grundirrthum: daß man den Anarchismus der Welt bringen könne oder müsse; daß die Anarchie eine Menschheitssache sei; daß zuerst die große Abrechnung käme und dann das Tausendjährige Reich. Wer der Welt die Freiheit bringen will - Das heißt eben doch: seine Aufassung von Freiheit -, ist ein Despot, aber kein Anarchist. Niemals wird die Anarchie eine Sache der Massen sein, nie wird sie auf dem wege der Invasion oder der bewaffneten Erhebung zur Welt kommen. Und ebensowenig wird das Ideal des föderalistischen Sozialismus dadurch zu erreichen sein, daß man abwartet, bis das bereits aufgestapelte Kapital und der Bodenbesitz in die Hände des Volkes kommt. Die Anarchie ist nicht die Sache der Zukunft, sondern der Gegenwart; nicht der Forderungen, sondern des Lebens. Nicht um die Nationalisation der Errungenschaften der Vergangenheit kann es sich handeln, sondern um ein neues Volk, das sich aus kleinen Anfängen heraus durch Innenkolonisation, mitten unter den anderen Völkern, da und dort in neuen Gemeinschaften bildet. Nicht um den Klassenkampf der Besitzlosen gegen die Besitzenden schließlich handelt es sich, sondern darum, daß sich freie, innerlich gefestigte und in sich beherrschte Naturen aus den Massen loslösen und zu neuen Gebilden vereinigen. Die alten Gegensätze vom Zerstören und Aufbauen fangen an, ihren Sinn zu verlieren: es handelt sich um Formen des nie Gewesenen.

Wenn die Anarchisten wüßten, wie nah ihre Gedanken an den tiefsten Grund des Menschenwesens rühren und wie unsagbar weit sie abführen von dem Getriebe des Massenmenschen, dann würden sie schaudernd erkennen, welcher Abstand gähnt zwischen ihrem Handeln, ihrem oberflächlichen Benehmen und den Abgründen ihrer Weltanschauung, dann würden sie einsehen: es ist zu alltäglich und zu gewöhnlich für einen Anarchisten, McKinley zu töten oder derlei überflüssige Posen und Tragödien aufzuführen. Wer tötet, der geht in den Tod. Die das Leben schaffen wollen, müssen Neulebendige und von innen her Wiedergeborene sein. Ich müßte um Entschuldigung bitten, daß ich auf einem neutralen Boden "Propaganda für den Anarchismus" mache, wenn ich nicht überzeugt wäre, daß, was ich hier, aber ohne mich irgend an das Wort zu binden Anarchie nenne, eine Grundstimmung

ist, die in jedem über Welt und Seele nachdenkenden Menschen zu finden ist. Ich meine den Drang, sich nocheinmal zur Welt zu bringen, sein eigenes Wesen neu zu formen und danach die Umgebung, seine Welt, zu gestalten, so weit man ihrer mächtig ist. Dieser höchste Moment müßte für jeden kommen: wo er, um mit Nietzsche zu sprechen, das ursprüngliche Chaos in sich schafft, wo er wie ein Zuschauer das Drama seiner Triebe und seiner dringendsten Innerlichkeiten vor sich aufführen läßt, um dann festzustellen, welche seiner vielen Personen in ihm herrschen soll, was das Eigene ist wodurch er sich von den Traditionen und Erbschaften der Vorfahrenwelt unterscheidet, was die Welt ihm, was er der Welt sein soll. Das nenne ich einen Anarchisten, der den Willen hat, nicht doppeltes Spiel vor sich selber aufzuführen, der sich so wie einen frischen Teig in entscheidender Lebenskrise geknetet hat, daß er in sich selber Bescheid weiß und so handeln kann, wie sein geheimstes Wesen ihn heißt. Der ist für mich ein Herrenloser, ein Freier, ein Eigener, ein Anarchist, wer seiner Herr ist, wer den Trieb festgestellt hat, der er sein will und der sein Leben ist. Der Weg zum Himmel ist schmal, der Weg zu einer neueren, höheren Form der Menschengesellschaft führt durch das dunkle, verhangene Thor unserer Instinkte und der terra abscondita unserer Seele, die unsere Welt ist. Nur von innen heraus kann die Welt geformt werden. Dies Land und diese reiche Welt finden wir, wenn wir durch Chaos und Anarchie, durch unerhörtes, stilles und abgründliches Erleben einen neuen Menschen entdecken; jeder in sich selbst. Dann wird es Anarchisten geben und Anarchie, da und dort, Einzelne, Zerstreute; sie werden einander finden; sie werden nichts töten als sich selbst in dem mystischen Tod, der durch tieftse Versunkenheit zur Wiedergeburt führt; sie werden von sich mit Hoffmannsthals Worten sagen können: "So völlig wie den Boden untern Füßen hab' ich Gemeines von mir abgethan." Wer erst durch seinen eigenen Menschen hindurchgekrochen ist und tief im eigenen lebendigen Blut gewatet hat: Der hilft die neue Welt schaffen, ohne in fremdes Leben einzugreifen.

Man würde mich sehr falsch verstehen, wenn man glaubte, ich predige Quietismus oder Resignation, Verzicht auf Aktion und auf Wirken nach außen. O nein! Man thue sich zusammen, man wirke für Munizipalsozialismus, auch für Siedlung- oder Konsum- oder Wohnungsgenossenschaften; man gründe öffentliche Gärten und Bibliotheken, man verlasse die Städte, man arbeite mit Spaten und Schaufel, man vereinfache all sein äußeres Leben, um raum für den Luxus des Geistes zu gewinnen; man organisiere und kläre auf; wirke für neue Schulen und die Eroberung der Kinder; all das erobert doch nur das ewig Gestrige, wenn es nicht in neuem Geiste und aus neu erobertem Binnenland heraus geschieht. Wir alle warten auf Großes und Unerhörtes, all unsere Kunst ist voll voll von zitternder und leiser Ahnung von etwas, das sich vorbereitet: aus unserem Wesen heraus wird es kommen, wenn wir das Unbekannte, Unbewußte heraufzwingen in unseren Geist, wenn unser Geist sich selbst vergißt im Elemente des ungeistig Psychischen, daß in unseren Höhlen auf uns wartet, wenn wir neu werden; dann wird die geahnte Welt werden, die die äußere Entwicklung nie bringen wird. Die große Zeit wird den Menschen kommen, die nicht nur Zustände und Einrichtungen, sondern sich selbst nicht mehr ertragen. Nicht andere umbringen, sondern sich selbst: Das wird das Kennzeichen des Menschen sein, der sein eigenes Chaos schafft, um sein Urältestes und Bestes zu finden und mit der Welt so mystisch eins werden, daß, was er in der Welt wirkt, aus einer unbekannten Welt in ihn hineingeflossen zu sein scheint. Wer die verflossene Welt in sich zum Leben, zu individuellem Leben erweckt, wer sich selbst als Strahl der Welt fühlt, nicht als Fremder: Der kommt, er weiß nicht woher, der geht, er weiß nicht wohin, dem wird die Welt sein wie er selbst. Die werden leben unter einander als gemeinsame, als Zusammengehörige. Da wird Anarchie sein. Das ist ein weites Ziel; aber es ist nun schon so gekommen, daß uns das Leben unfaßbar ist, wenn nicht Unglaublichem zuzusteuern uns vorzunehmen. Das Leben ist uns nichts und nichtig, wenn es uns nicht ein Meer ist, ein Unendliches, das uns Ewigkeiten verheißt. Was Reformen, was Politik, Revolution! Es ist doch immer das nämliche. Was Anarchismus! Was die Anarchisten uns als ideale Gesellschaft aufzeichen, ist viel zu vernünftig, viel zu sehr mit dem bloß Gegebenen rechnend, als daß es je Wirklichkeit werden könnte und sollte. Nur wer mit Unbekanntem rechnet, rechnet richtig. Denn das Leben und der eigentliche Mensch in uns, sie sind uns unbenannt und unbekannt. Nicht fernerhin Krieg und Mord, sondern Wiedergeburt.

Sehr falsch würde man aber widerum meine Meinung verstehen, wenn man in dieser gewandelten Auffassung eine Abkehr von der vielseitig fördernden, zusammenfassenden und erneuernden Thätigkeit des freien, undogmatischen Sozialismus finden wollte. Vielleicht liegt es unsereinem, der solchen Dingen seit Jahren sein Thun gewidmet hat, nicht nah genug, gerade jetzt auf all das hinzuweisen, wo der Kinderglaube an eine radikale Wandlung durch äußeres Geschehen überall aufgegeben wird, wo man sieht, daß der Sozialismus nicht eine Sache ist, die hinter der bürderlichen Gesellschaft als neues, glänzendes Gebilde aufsteigt, sondern etwas, das innerhalb unserer kapitalistischen Welt selbst wächst und sich überall in sie hineindrängt. Diese Erkenntnis, so selbstverständlich sie zu werden beginnt, ist doch zu sehr mit Schmerzen erkauft, als daß wir uns so schnell in die neue Art der Thätigkeit hineinfinden könnten. Es ist etwas Helles, Hartes, Praktisches in den modernen Sozialismus gekommen. Das ist erfreulich, gewiß: aber wir Schwärmer von anno dazumal waren so sehr an das Halbdunkel und die Romantik der Erwartung und der Vorbereitung des Plötzlichen gewöhnt, daß man uns schon einige Zeit gönnen mag, uns nun an die neue Art zu gewöhnen; es fehlt ja auch nicht an frischen Kräften, die am Werke sind. Ebensowenig übersehe ich, daß die Massen, die aus sozialer Noth und Unsicherheit herauswollen, gar wenig mit den höchsten Kulturbedürfnissen und den seelischen Nöthen zu thun haben, von denen ich hier rede. Es ist ihnen gleichgültig, wonach wir Besonderen ringen, und es wäre wiederum verderbliche Romantik, wenn man glaubte, die Erneuerungen, die den sozial abhängigen und armen Massen nothtun, seien identisch oder auch nur unlöslich verschmolzen mit der Wesenswandlung der Menschen, von der ich hier spreche. Wir müssen lernen, daß es hunderterlei Wege giebt, staatliche und außerstaatliche, um den Massen vom Fleck zu helfen; wir müssen uns abgewöhnen, jede Verbesserung, jede Erneuerung nur in Verbindung mit unserem höchsten und letzten Ziel und unter keinen Umständen anders haben zu wollen. Es ist ein wundervoller Gedanke, den Wohlstand, das Gedeihen der Massen und die innerste Nothwendigkeit der Kultur so ineinander zu verkoppeln, daß beide Ziele auf einem Weg erreicht werden; aber er ist falsch, wie alle solche starren, reinlichen Begriffsgedanken falsch sind. Wir haben lange genug unter Sozialismus eine vage, allverbindende Weltanschauung verstanden, eine Springwurzel, die alle Thore öffnet und alle Fragen löst; wir könnten jetzt wissen, daß alles in der Welt da draußen und ebenso in unserer Seele, so durcheinander gewirrt ist, daß es niemals einen Weg giebt, den alle zu einem Ziele gehen könnten. Was ich hier also vertrete, ist keineswegs eine Aufforderung an die Menschengesellschaft; wir müssen einsehen, daß es verschiedene Stufen der Kultur nebeneinander giebt, und können ruhig den Traum aufgeben, der nicht einmal schön ist, daß alle auf ein Niveau gehoben werden sollen. Keine Aufforderung; ich will nur den inneren Zustand beschreiben, aus dem heraus einzelne vielleicht dazu gelangen können, den anderen Kommunismus und Anarchie vorzuleben. Ich will nur sagen, daß diese Freiheit erst im innersten Menschen geboren und erzogen sein muß, bevor sie sich als äußere Thatsächlichkeit sehen lassen kann. Auch Sozialismus ist allmählich ein altes ort geworden; er hat vielerlei zusammengefaßt, daß jetzt in mehrere Selstständigkeiten auseinanderfällt. Überall geht die Dogmatik zu Ende und der Kampf für Schlagwörter, die man als utopistische Grenzpfähle an den Beginn einer neuen Periode gestellt hatte; überall ist aus den Worten Wirklichkeit und Fließendes geworden, Unberechenbares und Schwankendes. Klarheit giebt es eben nur im Lande des Scheins und der Worte; wo das Leben beginnt, hört die Systematik auf.

Auch die Anarchisten sind bisher gar zu sehr Systematiker und in feste, enge Begriffe eingeschnürte gewesen; und das ist schließlich die lezte Antwort auf die Frage, warum Anarchisten im Menschenthöten etwas Werthvolles erblicken. Sie haben sich angewöhnt, gar nicht mehr mit Menschen zu thun zu haben, sondern mit Begriffen. Es giebt zwei feste, getrennte Klassen für sie, die einander feindlich gegenüberstehen; sie töteten nicht Menschen, sondern den Begriff des Ausbeuters, des Unterdrückers, des Staatsrepräsentanten. So ist es gekommen, daß die gerade, die im Privatleben und Empfinden oft die Menschlichsten sind, im öffentlichen Treiben der Unmenschlichkeit sich hingeben. Ihr Empfindungsleben ist dann ausgeschaltet; sie handeln als denkende Wesen, die, ähnlich wie Robespierre der Göttin der Vernunft, der scheidenden und urtheilenden unterthan sind. Aus den Urtheilen der kalten, innerlich unwissenden, unlebendigen, lebensfeindlichen Logik sind die kalten Todesurtheile zu erklären, die von den Anarchisten gefällt werden. Die Anarchie ist aber nichts so Nahes, Kaltes, Deutliches, wie die Anarchisten gewähnt hatten; wenn die Anarchie ihnen zum dunklen, tiefen Traum wird, statt eine begrifflich erreichbare Welt zu sein, wird ihr Ethos und ihr Handeln von einerlei Art werden.

Originaltext: http://www.twokmi-kimali.de/texte/Landauer_anarchistische_gedanken_ueber_anarchismus.htm


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