Gustav Landauer - Etwas über Moral (1893)

Was ist Moral?

Moral ist die Summe der menschlichen Pflichten.

Und was ist Pflicht?

Es gibt Pflichten gegen Gott, Pflichten gegen die Mitmenschen und Pflichten gegen sich selbst – das ist die Leier des Kinderkatechismus.

Diese Moral gründet sich aber auf das religiöse Vorurteil. Es wird gedankenlos nach den Lehren der Vorväter angenommen, hinter der ewigen und unendlichen Welt, oder über ihr, oder in ihr wohne oder throne oder stecke ein vollkommenes Wesen, das sich selbst, oder dem der Mensch den Namen Gott beilegt. Legt er sich selbst den Namen bei, dann denkt er mit menschlichen Sprachbegriffen, ist also nicht vollkommen, weil menschlich. Hört er aber auf den von Menschen gemachten Namen und läßt sich sein Wille ausdrücken in der menschlichen Sprache, etwa in den zehn Geboten, dann ist er wiederum menschlich, also nicht vollkommen — also kein Gott.

Mit Gott also sind wir fertig und damit auch mit der Moral, die sich auf denselben zurückführt.

Nun sind seit mehr als hundert Jahren brave Menschen, die sich trotzdem Aufklärer nannten, gekommen und haben gelehrt: man braucht nicht an Gott glauben, oder wenigstens keiner bestimmten Konfession angehören und kann dennoch ein moralischer Mensch sein. Man braucht die fünf Bücher Moses nicht als göttliche Offenbarung betrachten, und kann darum doch an der Unverbrüchlichkeit der zehn Gebote festhalten.

Was ist nun in dem Munde dieser Moral? Phrase, Lüge oder Inkonsequenz.

Pflicht im absoluten Sinne, also etwas, was der Mensch unter allen Umständen tun soll, gilt nur für den, der eine absolute Macht anerkennt, die ohne Einschränkung gebieten kann. Was sollte es für eine Macht in diesem Sinne wohl geben, die nicht Gott zu benennen wäre?

Etwa der Staat? Es gibt wirklich Moralisten, die den Staat und seine Gebote an die Stelle Gottes setzen wollen. Sie glau­ben nicht mehr an Gott, sie glauben nicht, daß Gott vom Berge Sinai heruntergerufen hat: Du sollst nicht töten, aber sie erklä­ren es für unmoralisch, wenn jemand sich gegen die grundle­genden Paragraphen des Strafgesetzes vergeht. Diese sind fast allesamt Lügner. Sie verdammen nämlich den gesetzlichen Diebstahl, Mord usw., das Verhältnis des Ausbeuters zum Arbeiter, den Krieg, die Prostitution keineswegs.

Andere erklären, Moral sei ein geheimnisvolles Etwas, das sich bei jedem Menschen in seinem Innern vorfinde und ihm sagt, was er tun dürfe und was nicht. Sie verlegen den Gott in die »unsterbliche Seele« des Menschen. Nur merkwürdig, daß vor der geschichtlichen Betrachtung ihre Anschauung nicht stichhaltig ist. Alles, was heute für moralisch gilt, war einmal in vergangenen Zeiten unmoralisch.

Die Aufklärer haben also unrecht, weil sie sich scheuten, einzugestehen: in der Tat, mit der Religion geben wir auch die Moral preis. Irreligiös sein, daß heißt unmoralisch sein.

Seien wir also unmoralisch.

Was heißt das? Wenn man den Pfaffen glauben wollte, würde es nichts anderes bedeuten als: Tun wir das Gegenteil von dem, was die gegenwärtig herrschende Moral verlangt. Stehlen wir also, morden wir, huren wir usw.

Als ob das nicht erst recht wieder eine neue Moral wäre! Moral ist also, was anfängt: Du sollst. Du sollst stehlen, ist in diesem Sinne ebenso moralisch zu nennen wie: Du sollst nicht stehlen.

Morallos sein heißt nichts anderes, als sich unter sein unverbrüchliches Gebot fügen. Es heißt auch nicht: Du sollst in jedem Falle anders handeln als andere Menschen. Ja, es heißt nicht einmal: Du sollst handeln, wie es dir gut dünkt. Denn ein solches moralloses Moralangebot könnte doch nur dazu füh­ren, daß der einzelne sich von vornherein besinnt, was ihm für alle möglichen Einzelfälle gut dünkt; er wird sein freies Ent­schließen und Handeln damit selbst festlegen, er würde sich selbst damit eine individuelle Moral geben. Das Individuum ist aber nicht, was das Wort besagt. Individuum heißt wörtlich zu deutsch: das Ungeteilte, das Unteilbare, also das absolut Einfache.

Der Mensch ist nicht einfach, nicht beständig, keineswegs unteilbar. Der einzelne Mensch ist nur eine Summe von vielen Trieben, Willensregungen, Wahrnehmungen und Gedanken. Der Mensch sagt allerdings: »Ich«, aber das »Ich« von gestern ist nicht das von heute, und was ich morgen will, weiß, sehe, wünsche, glaube und genieße, gilt dem, der heute »ich« sagt und sich als denselben, wie morgen und gestern, empfiehlt, weiter nichts anderes. Der Mensch hat viele Gedanken, und einer davon, der am festesten gewurzelt ist, ist der »Ich«-Gedanke. Wer »ich« sagt und »ich« denkt, der spricht damit den Gedanken aus, daß all das Erleben, das in seinem Bewußt­sein wohnt, im Gegensatz zu anderen Erlebnissen etwas Zu­sammengehöriges sei, das von einem Zentrum ausgehe.

Man muß die menschlichen Begriffe und Vorstellungen in zwei Kategorien teilen: in solche, mit denen der Mensch fertig werden kann, und in solche, mit denen er, solange er lebt, nicht fertig werden kann. Mit was für Dingen kann der Mensch fertig werden? Nennen wir sie die Dinge zweiter Ordnung. Es sind die, die der Mensch selbst sich durch Verallgemeinerung zurechtgesponnen hat; es sind die Begriffe im engeren Sinne des Wortes. Dahin gehören: Gott, Gesetz, Staat, Recht, Ehre usw. Diese Dinge, die der Mensch selbst in sich hineingefressen hat, kann er, wenn er sie lange genug verdaut hat, auch wieder von sich geben.

Das ist nicht der Fall mit den Dingen erster Ordnung. Wenn ich einen bestimmten Eichbaum ansehe, kann ich es allerdings erreichen, daß ich ihn nicht mehr sehe: nämlich, indem ich die Augen schließe. Aber ich kann ihn nicht aus der Welt schaffen. Ich kann sagen: Gott — oder Ehre — oder Moral — das gibt es nicht; aber diesen Stuhl, der vor mir steht, oder das Tintenfaß kann ich nicht leugnen.

Die Welt ist übrigens eine außerordentlich verkehrte. Wer leugnet, daß dieser Federhalter in der Welt ist, macht sich eines Unsinns erster Ordnung schuldig; aber kein Mensch will ihm darob etwas anhaben. Aber wer leugnet, daß Gott weislich oder daß ein bestimmter Mensch von einem Heiligenschein oder von Majestät umflossen ist, der ist oft verbrannt oder sonstwie ums Leben gebracht worden.

Die menschlichen Begriffe sind schwächlich, in der Zeit vergänglich, hinfällig: darum sind sie herrschsüchtig, unterdrückungswütig, freiheitsfeindlich.

Die einfachen Dinge dagegen sind ewig, weil sie natürlich sind. Sie sind nicht in der Lage, eine menschliche Knechtschaft zu begründen.

Zu diesen einfachen Dingen nun gehört auch das Ich. Es ist wie Stahl, Eichbaum, Sand und Meer durch keinerlei menschliche Begriffe und Gedanken aus der Welt zu schaffen.

Kehren wir nach dieser Abschweifung, die notwendig war, zur Moral zurück. Was setzen wir also, wir Morallosen, an die Stelle der Moral?

Wir setzen an die Stelle das Leben, das Ausleben unserer Individualität.

Wir betrachten uns als Teile der Welt, nicht mehr und nicht weniger; unserer Anlage und unseren Bedürfnissen wollen wir uns selbst und die Welt genießen.

Du sollst nicht töten?

Aber jeder Schritt auf dem Erdboden kostet anderen Existen­zen das Dasein, jede Befriedigung meines Hungers (mag ich Vegetarier sein oder nicht!) vernichtet andere Existenzen.

Du sollst nicht Menschen töten?

Aber wozu sollte ich denn einen Menschen umbringen? Vorausgesetzt, daß sie mich nicht vergewaltigen oder bedro­hen, habe ich meine Freude an den Menschen, liebe ich sie, brauche ich sie zu meinem Genuß.

Aber noch ein anderes Bild der Sache. Angenommen, heute oder auch in einer zukünftigen Gesellschaft, hat ein Mensch einen Menschen getötet. Er hat sich hinreißen lassen in der Leidenschaft, in der Eifersucht, in berechtigtem oder wahnsinnigem Zorn. Ich war vorher mit dem Mörder oft zusammen gewesen, wir haben Sympathie füreinander gefunden, wir ha­ben uns besprochen über Philosophie, Dichtung, Kunst. Unsere Ansichten haben in vielem zusammengestimmt, immer war er ein Mensch, mit dem ich gern verkehrte. Nun hat er gelegentlich einem Menschen das Leben geraubt. Was soll ich nun mit meinem Freunde anfangen? Ich denke, das Beste ist, ich fange gar nichts mit ihm an. Ich verkehre ruhig weiter mit ihm, ich betrachte seine Tat als seine ureigene Privatsache.

Hat aber ein anderer getötet, ein Mann, mit dem ich aus diesen oder jenen Gründen nie Verkehr gehabt habe, dann kümmere ich mich erst recht nicht darum. Ich verkehre ja auch fernerhin nicht mit ihm. Und wenn ich später mit ihm zusam­menkomme, dann frage ich nicht danach, was er früher einmal getan hat, sondern wie er mir jetzt vorkommt.

Ich kenne keine moralische Beurteilung; ich kenne lediglich die Frage: mit wem verkehre ich gerne? wer ist mir sympathisch? Und das richtet sich nach den Neigungen, Bestrebungen und Gedanken des Menschen!

Es gibt kein unverbrüchliches »Du sollst« für einen freien Menschen!

Und noch eines will ich sagen; ich habe es oft gesagt und es ist mir ein schöner und wichtiger Gedanke. Die Welt ist ewig, aber ich lebe nur einmal. Jch sehe eine Welt um mich, an der mir vieles, viel zu vieles verhaßt und abscheulich ist. Einer meiner Haupttriebe, der notwendig ist, um leben zu können nach meiner Natur, ist der, die Welt nach den Prinzipien, die ich als vernünftig liebgewonnen habe, umzugestalten. Da ich keinen Herrn und kein Gebot über mir anerkenne – sollte ich da nicht alles daransetzen, um für dies mein Ziel zu wirken? Der Mensch stirbt an Scharlach, an Diphtherie, an Trunksucht, an Cholera, an Altersschwäche. Gibt es einen schöneren Tod, als für ein Ideal zu sterben.

Ich lebe nur einmal, habe nur einmal die Zeit, auf die Welt zu wirken nach meinem Willen, und ich sterbe sehr bald. Warum sollte ich nicht mein alles einsetzen für die Befreiung der Menschheit?

Aus: Der Sozialist, 05.08.1893

Originaltext: http://raumgegenzement.blogsport.de/2013/05/27/gustav-landauer-etwas-ueber-moral-1893/


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