Gustav Landauer - Der Geist der permanenten Revolution
Die Gerechtigkeit wird immer von dem Geist abhängen, der zwischen Menschen waltet, und der verkennt den Sozialismus durchaus, der meint, jetzt sei ein Geist nötig und möglich, der sich so zur Gestalt kristallisiert, daß er Endgültiges durchsetzte und der Zukunft nichts mehr übrig ließe. Der Geist ist immer in der Bewegung und im Schaffen; und was er schafft, wird stets das Unzulängliche sein, und nirgends als im Bilde oder der Idee wird das Vollkommene zum Ereignis. Es wäre vergebliches und verkehrtes Bemühen, ein für allemal Patenteinrichtungen schaffen zu wollen, die jede Möglichkeit zur Ausbeutung und Bewucherung automatisch ausschließen. Unsere Zeiten haben gezeigt, was sich ergibt, wenn an die Stelle des lebendigen Geistes automatisch funktionierende Institutionen gesetzt werden. Sorge jede Generation tapfer und radikal für das, was ihrem Geist entspricht: Es muß auch später noch Grund zu Revolutionen geben; und sie werden dann nötig, wenn neuer Geist sich gegen die starr gewordenen Residuen verflogenen Geistes wenden muß. So wird denn auch der Kampf gegen das Eigentum zu ganz andern Resultaten führen, als manche, z. B. die sogenannten Kommunisten, wohl glauben. Eigentum ist etwas anderes als Besitz; und ich sehe in der Zukunft Privatbesitz, Genossenschaftsbesitz, Gemeindebesitz in schönster Blüte; Besitz keineswegs bloß an den Dingen des unmittelbaren Verbrauchs oder den einfachsten Werkzeugen; auch den von manchen so abergläubisch gefürchteten Besitz an Produktionsmitteln aller Art, an Häusern und an Boden. Keinerlei endgültige Sicherheitsvorkehrungen fürs tausendjährige Reich oder die Ewigkeit sollen hergestellt werden, sondern eine große und umfassende Ausgleichung und die Schaffung des Willens, diesen Ausgleich periodisch zu wiederholen. „Da sollst du die Posaunen blasen lassen durch all euer Land am zehnten Tage des siebenten Monats als dem Tage des Ausgleichs ... Und ihr sollt das fünfzigste Jahr heiligen, und ihr sollt ein Freijahr ausrufen im Lande allen, die drinnen wohnen; denn es ist euer Jubeljahr; da soll ein jeglicher bei euch wieder zu seiner Habe und zu seinem Geschlechte kommen. Das ist das Jubeljahr, da jedermann wieder zu dem Seinen kommen soll.“
„Wer Ohren hat zu hören, der höre.“
„Da sollst du die Posaune blasen lassen durch all euer Land!“ Die Stimme des Geistes ist die Posaune, die immer und immer und immer wieder ertönen wird, solange Menschen beisammen sind. Immer wird Unrecht sich festsetzen wollen, immer wird, solange die Menschen wahrhaft lebendig sind, der Aufruhr dagegen entbrennen.
Der Aufruhr als Verfassung, die Umgestaltung und Umwälzung als ein für allemal vorgesehene Regel, die Ordnung durch den Geist als Vorsatz: das war das Große und Heilige an dieser mosaischen Gesellschaftsordnung.
Das brauchen wir wieder: eine Neuregelung und Umwälzung durch den Geist, der nicht Dinge und Einrichtungen endgültig festsetzen, sondern der sich selbst als permanent erklären wird. Die Revolution muß ein Zubehör unsrer Gesellschaftsordnung, muß die Grundregel unsrer Verfassung werden.
Aus: Achim v. Borries / Ingeborg Brandies: Anarchismus. Theorie, Kritik, Utopie. Joseph Melzer Verlag, Frankfurt 1970
Nach: Aufruf zum Sozialismus (1911). Zweite vermehrte und verbesserte Auflage. Berlin 1919, S. 135-137
Mit freundlicher Erlaubnis des Abraham Melzer Verlag´s
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