Gustav Landauer - Revolution und Sozialismus (1919)
Revolution kann es nur eine politische geben. Sie brächte es nicht zur Unterstützung durch geknechtete Massen, wenn aus ihnen nicht auch soziale Gedrücktheit und wirtschaftliche Not aufbegehrte; aber die Umwandlung der Gesellschaftseinrichtungen, der Eigentumsverhältnisse, der Wirtschaftsweise kann nicht auf dem Wege der Revolution kommen. Von unten kann da nur abgeschüttelt, zerstört, preisgegeben werden; von oben, auch von einer revolutionären Regierung, kann nur aufgehoben und befohlen werden. Der Sozialismus muß gebaut, muß errichtet, muß aus neuem Geist heraus organisiert werden. Dieser neue Geist waltet mächtig und innig in der Revolution; Puppen werden zu Menschen; eingerostete Philister werden der Erschütterung fähig; alles, was feststeht, bis zu Gesinnungen und Leugnungen, kommt ins Wanken; aus dem sonst nur das Eigene bedenkenden Verstand wird das vernünftige Denken, und Tausende sitzen oder schreiten rastlos in ihren Stuben und hecken zum erstenmal in ihrem Leben Pläne aus fürs Gemeinwohl; alles wird dem Guten zugänglich; das Unglaubliche, das Wunder, rückt in den Bereich des Möglichen; die in unsern Seelen, in den Gestalten und Rhythmen der Kunst, in den Glaubensgebilden der Religion, in Traum und Liebe, im Tanz der Glieder und Glanz der Blicke sonst verborgene Wirklichkeit drängt zur Verwirklichung. Aber die ungeheure Gefahr ist, daß Schlendrian und Nachahmung sich auch der Revolutionäre bemächtigen und sie zu Philistern des Radikalismus, des tönenden Worts und der Gewaltgebärde machen; daß sie nicht wissen und nicht wissen wollen: Die Umwandlung der Gesellschaft kann nur in Liebe, in Arbeit, in Stille kommen. Noch eines wissen sie nicht, trotz allen Erfahrungen vergangener Revolutionen. Die sind alle große Erneuerung, prickelnde Erfrischung, die hohe Zeit der Völker gewesen; aber was sie Bleibendes brachten, war gering; war schließlich nur eine Umwandlung in den Formen der politischen Entrechtung. Auch politische Freiheit, Mündigkeit, aufrechten Stolz, Selbstbestimmung und organisch-korporative Verbundenheit der Massen aus einigendem Geiste heraus, Bünde der Freiwilligkeit im öffentlichen Leben kann nur der große Ausgleich, kann nur die Gerechtigkeit in Wirtschaft und Gesellschaft, kann erst der Sozialismus bringen. Wie sollte es in unsrer Ära, der vom christlichen Geiste her in den Gewissen die Gleichheit aller Menschenkinder nach Ursprung, Anspruch und Bestimmung feststeht, ein Gemeinwesen aus wahrhaften Gemeinden, wie sollte es ein freies, öffentliches Leben, durchwaltet von dem alles erfüllenden und bewegenden Geiste vorwärts befeuernder Männer und innig starker Frauen geben, wenn in irgendwelcher Form und Maskierung die Sklaverei, die Enterbung und Verstoßung aus der Gesellschaft besteht?
Die politische Revolution, in welcher der Geist an die Herrschaft, ans starke Gebot und entschiedene Durchsetzen kommt, kann dem Sozialismus, der Wandlung der Bedingungen aus erneuertem Geiste heraus, die Bahn freimachen. Aber durch Dekrete könnte man die Menschen höchstens als Staatsheloten in ein neues Wirtschaftsmilitär einreihen; der neue Geist der Gerechtigkeit muß selbst ans Werk gehn und muß sich seine Formen der Wirtschaft schaffen; die Idee muß die Erfordernisse des Augenblicks mit ihrem weiten Blick umspannen und mit ballender Hand gestalten; was bisher Ideal war, wird in der aus der Revolution geborenen Erneuerungsarbeit Verwirklichung.
Die Not zum Sozialismus ist da; der Kapitalismus bricht zusammen; er kann nicht mehr arbeiten; die Fiktion, daß das Kapital arbeite, zerplatzt zu Schaum; was den Kapitalisten einzig zu seiner Art Arbeit lockt, zum Risiko des Vermögens und zur Leitung und Verwaltung von Unternehmungen, der Profit winkt ihm nicht mehr. Die Zeit der Rentabilität des Kapitals, die Zeit des Zinses und Wuchers ist vorbei; die tollen Kriegsgewinne waren sein Totentanz; sollen wir nicht zugrundegehn in unserm Deutschland, wirklich und wortwörtlich zugrundegehn, kann Rettung nur bringen die Arbeit, wahrhafte, von gierlosem, arbeitsbrüderlichem Geist erfüllte, geführte, organisierte Arbeit, Arbeit in neuen Formen und befreit von dem ans Kapital zu leistenden Tribut, rastlos Werte schaffende, neue Wirklichkeiten schaffende Arbeit, welche die Erzeugnisse der Natur dem menschlichen Bedarf gewinnt und verwandelt. Das Zeitalter der Produktivität der Arbeit hebt an; oder wir sind am Ende. Uralt bekannte und neu entdeckte Naturkräfte hat die Technik in den Dienst der Menschheit gestellt; je mehr Menschen die Erde bestellen und ihre Produkte umformen, um so mehr gibt sie her; die Menschheit kann würdig und sorgenlos leben, keiner braucht Sklave der andern, keiner verstoßen, keiner enterbt zu sein; keinem braucht das Mittel zum Leben, die Arbeit, zur Mühsal und Plage zu werden; alle können dem Geiste, der Seele, dem Spiel und dem Gotte leben. Die Revolutionen und ihre peinlich lange, drückende Vorgeschichte lehren uns, daß nur die äußerste Not, nur das Gefühl des letzten Augenblicks die Massen der Menschen zur Vernunft bringt, zu der Vernunft, welche Weisen und Kindern allezeit Natur ist; auf welche Schrecknisse, auf welche Ruinen, auf welche Nöte, Landplagen, Seuchen, Feuersbrünste und Greuel der Wildheit sollen wir warten, wenn nicht in dieser Schicksalsstunde den Menschen die Vernunft, der Sozialismus, Führung des Geistes und Fügung in den Geist kommt?
Aus: Achim v. Borries / Ingeborg Brandies: Anarchismus. Theorie, Kritik, Utopie. Joseph Melzer Verlag, Frankfurt 1970
Nach: Aufruf zum Sozialismus (1911). Aus dem Vorwort zur zweiten vermehrten und verbesserten Auflage. (Datiert: München, 3. Januar 1919)S. X-XII
Mit freundlicher Erlaubnis des Abraham Melzer Verlag´s
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