Gustav Landauer - Aufruf zum Sozialismus
1.
Wer zum Sozialismus aufruft, muß der Meinung sein, Sozialismus sei eine Sache, die nicht oder so gut wie nicht, noch nicht oder nicht mehr in der Welt sei. Man könnte einwenden: "Natürlich ist kein Sozialismus, ist die sozialistische Gesellschaft nicht in der Welt. Sie ist noch nicht da, aber es sind Bestrebungen da, sie zu erreichen; Einsichten, Erkenntnisse, Lehren, wie sie kommen wird."
Nein, nicht so ist der Sozialismus gemeint, zu dem hier aufgerufen wird. Vielmehr verstehe ich unter Sozialismus eine Tendenz des Menschenwillens und eine Einsicht in Bedingungen und Wege, die zur Erfüllung führen. Und allerdings sage ich: so gut wie gar nicht, so schlecht wie nur je ist dieser Sozialismus da. Darum rede ich zu jedem, der mich hören will, und hoffe, daß meine Stimme schließlich auch zu manchen, zu vielen dringt, die mich nicht hören wollen, rufe ich auf zum Sozialismus.
Was ist er? Was wollen die Menschen, die Sozialismus sagen?
Und was ist das, was sich heute so nennt? Unter welchen Bedingungen, in welchem Moment der Gesellschaft – wie man gewöhnlich sagt, der Entwicklung – kann er Wirklichkeit werden?
Der Sozialismus ist ein Bestreben, mit Hilfe eines Ideals eine neue Wirklichkeit zu schaffen. Das muß zunächst gesagt werden; wenn auch das Wort Ideal durch traurige Heuchler und gemeine Schwächlinge, die sich gern Idealisten nennen, und sodann durch Philister und Wissenschaftskrämer, die sich gern Realisten nennen, in Verruf gekommen ist. In Zeiten des Niedergangs, der Unkultur, der Geistlosigkeit und des Elends müssen die Menschen, die nicht bloß äußerlich, sondern vor allem innerlich unter diesem Zustand, der sie umgibt und bis in ihren Kern, in ihr Leben, in ihr Denken, Fühlen und Wollen sie selber erfassen will, leiden, müssen die Menschen, die sich dagegen wehren, ein Ideal haben. Sie haben eine Einsicht in das Unwürdige, Gepreßte, Erniedrigende ihrer Lage; sie haben unsäglichen Ekel vor der Erbärmlichkeit, die sie wie ein Sumpf umgürtet, sie haben Energie, die vorwärts drängt, und also Sehnsucht nach dem Besseren, und daraus ersteigt ihnen in hoher Schönheit, in Vollendung ein Bild einer guten, einer reinen und gedeihlichen, einer freudebringenden Art des Zusammenlebens der Menschen. Sie sehen in großen, allgemeinen Zügen vor sich, wie es sein kann, wenn ein kleinerer, ein größerer, ein ganz großer Teil der Menschen es so will und tut, wenn ein ganzes Volk, ganze Völker dieses Neue innerlich glühend erfassen und ins Äußere, in die Vollbringung wirken; und nun sagen sie nicht mehr: es kann so sein; sagen vielmehr: es soll, es muß so kommen. Sie sagen nicht – wenn sie erst Einsicht in die uns bekannte bisherige Geschichte der Menschengeschlechter haben, dann sagen sie nicht: dieses Ideal muß so nackt, so ausgedacht, so errechnet, wie es auf dem Papier steht, Wirklichkeit werden.
Sie wissen wohl: das Ideal ist das Letzte, Äußerste an Schönheit und Freudeleben, was vor ihrem Gemüte, ihrem Geiste steht. Es ist ein Stück Geist, es ist Vernunft, ist Gedanke. Nie aber sieht die Wirklichkeit dem Gedanken einzelner Menschen völlig gleich; es wäre auch langweilig, wenn es so wäre, wenn wir also die Welt doppelt hätten: einmal im vorwegnehmenden Gedanken, das andere Mal in der äußeren Welt genauso noch einmal. So ist es nie gewesen und wird nie so sein. Nicht das Ideal wird zur Wirklichkeit; aber durch das Ideal, nur durch das Ideal wird in diesen unseren Zeiten unsere Wirklichkeit. Wir sehen etwas vor uns, hinter dem wir nichts Mögliches mehr, nichts Besseres erblicken; wir gewahren das Äußerste und sagen: Dieses will ich –! Und nun wird alles getan, es zu schaffen; aber – alles! Der einzelne, über den es wie eine Erleuchtung kam, sucht sich Gefährten; er findet, da sind andere, über die es im Geiste, im Herzen schon wie eine Erschütterung und ein Gewitter gekommen ist; es liegt in der Luft für seinesgleichen; er findet wiederum andere, die nur leicht schlummerten, über deren Verstehen nur etwas wie ein dünnes Häutchen, über deren Energie nur eine leichte Betäubung lag; sie sind nun beisammen, die Gefährten suchen sich Wege, sie reden zu mehreren, zu den Massen in den Großstädten, in den kleineren Städten, auf dem Lande; die äußere Not hilft die innere erwecken; die heilige Unzufriedenheit regt und rüttelt sich; etwas wie ein Geist – Geist ist Gemeingeist, Geist ist Verbindung und Freiheit, Geist ist Menschenbund, wir sehen es bald noch deutlicher – ein Geist kommt über die Menschen; und wo Geist ist, ist Volk, wo Volk ist, ist ein Keil, der vorwärts drängt, ist ein Wille; wo ein Wille ist, ist ein Weg; das Wort gilt; aber auch nur da ist ein Weg. Und immer lichter wird es; immer tiefer dringt es; immer höher wird der Schleier, das Netz, das Sumpfgewebe der Dumpfheit gehoben; ein Volk schließt sich zusammen, das Volk erwacht: es geschehen Taten, es geschieht ein Tun; vermeintliche Hindernisse werden als ein Nichts erkannt, über das man hinwegspringt, andere Hindernisse werden mit vereinter Kraft gehoben; denn Geist ist Heiterkeit, ist Macht, ist Bewegung, die sich nicht, die sich durch nichts in der Welt aufhalten läßt. Dahin will ich –! Aus den Herzen der einzelnen bricht diese Stimme und dieses unbändige Verlangen in gleicher, in geeinter Weise heraus; und so wird die Wirklichkeit des Neuen geschaffen. Sie wird anders sein, schließlich, als das Ideal war, ihm ähnlich, aber nicht gleich. Sie wird besser sein, denn sie ist kein Traum mehr der Ahnungsvollen, Sehnsucht- und Schmerzenreichen, sondern ein Leben, ein Mitleben, ein Gesellschaftsleben der Lebendigen. Es wird ein Volk sein; es wird Kultur sein, es wird Freude sein. Wer weiß heute, was Freude ist? Der Liebende, wenn er sich selber gesammelt als sein Lieb, in dunklem oder hellem Fühlen als den Inbegriff alles, was Leben ist und Leben zeugt, weiß; der Künstler, der Schaffende in seltener Stunde allein mit dem Freunde, dem Gleichen, oder wenn er im Gemüte und im Vollbringen die Schönheit und Fülle vorwegnimmt, die als Volk einst Lebendigkeit sein soll; der prophetische Geist, der den Jahrhunderten vorauseilt und der Ewigkeit sicher ist. Wer kennt heute sonst Freude, wer weiß nur, was ganze, große, hinreißende Freude ist? Heute niemand; schon seit langem niemand; zu manchen Zeiten waren ganze Völker vom Geist der Freude gepackt und getrieben. Sie waren es in den Zeiten der Revolution; aber es war nicht genug Helligkeit in ihrem Brausen; war zu viel Dunkel und Schwelen in ihrer Glut; sie wollten, aber sie wußten nicht, was; und die Ehrsüchtigen, die Politikanten, die Advokaten, die Interessierten haben wieder alles verdorben, und die Geistlosigkeit der Habgier und der Herrschsucht hat weggeschwemmt, was den Geist bereiten, was zum Volke wachsen wollte. Wir haben auch heute solche Advokaten, auch wenn sie keine Advokaten heißen; wir haben sie und sie haben und halten uns. Hüten wir uns; wir sind gewarnt, von der Geschichte gewarnt.
2.
Sozialismus ist die Willenstendenz geeinter Menschen, um eines Ideals willen Neues zu schaffen.Sehen wir also zu, was das Alte ist, wie das Bisherige aussieht, unsre eigene Zeit. Nicht bloß unsre Zeit im Sinne von jetzt, ein paar Jahren oder Jahrzehnten; unsre eigene Zeit: vierhundert Jahre zum mindesten.
Denn prägen wir es uns ein, sagen wir es gleich jetzt im Anfang: es ist eine große, weitreichende Sache um den Sozialismus; er will helfen, niedergehende Geschlechter der Menschen wieder zur Höhe, zur Blüte, zur Kultur, zum Geiste und damit zum Bunde und zur Freiheit zu führen.
Solche Worte klingen schlecht in den Ohren der Professoren und Traktätchenverfasser, mißfallen auch denen, deren Denken von diesen Verderbern imprägniert ist, die die Lehre ausgeben: die Menschen, und ganz so ja auch die Tiere, die Pflanzen, die ganze Welt sei in einem stetigen Fortschritt, in einer Aufwärtsbewegung von ganz zu unterst nach ganz oben begriffen; immer weiter und weiter, vom tiefsten Höllendreck bis zu den allerhöchsten Himmeln. Und so sollen denn der Absolutismus, die Knechtseligkeit, die Feilheit, der Kapitalismus, die Not und die Verkommenheit, das alles sollen nur Etappen, Fortschrittsstufen auf dem Wege zum Sozialismus sein. Wir hängen hier keinerlei solchen sogenannt wissenschaftlichen Wahnvorstellungen an; wir sehen die Welt und die Menschengeschichte anders; wir sagen es anders.
Wir sagen, daß die Völker ihre Blütezeiten, ihre Höhepunkte der Kultur haben, und daß sie von diesen Gipfeln wieder herabkommen. Wir sagen, daß unsere Völker Europas und Amerikas seit langer Zeit – ungefähr seit der Entdeckung Amerikas – herabgekommene Völker sind. Völker sind dann in Blütezeiten hineingekommen und halten sich darin, wenn sie von einem Geiste überwältigt sind. Das klingt wiederum übel in den Ohren derer, die sich heutigen Tages Sozialisten nennen und die keine sind, die wir eben in ihrer darwinistischen Tracht flüchtig erblickt haben und die wir jetzt als Anhänger der sogenannten materialistischen Geschichtsauffassung betrachten könnten. Dies aber erst später; jetzt müssen wir weiter, und den Marxismus treffen wir noch auf unseren Wegen und werden ihn stellen und ihm ins Gesicht sagen: was er ist: die Pest unserer Zeit und der Fluch der sozialistischen Bewegung!
Der Geist ist es, der Geist der Denker, der Geist der vom Gefühl Überwältigten, der großen Liebenden, der Geist derer, denen das Selbstgefühl und die Liebe zusammenschmilzt zur großen Welterkenntnis, der Geist hat die Völker zur Größe, zum Bunde, zur Freiheit geführt. Da brach aus den einzelnen heraus wie eine Selbstverständlichkeit das nötigende Müssen, sich zu Gemeinsamem zu verbinden mit den Menschenbrüdern. Da war dann die Gesellschaft aus Gesellschaften, die Gemeinsamkeit aus Freiwilligkeit.
Wie ist der Mensch zu der Klugheit, zu der Einsicht gekommen, so wird wohl gefragt, aus seiner Vereinzelung herauszutreten, sich mit den Volksgenossen zu kleineren, dann größeren Verbänden zusammenzuschließen?
Diese Frage ist dumm und kann nur gefragt werden von den Professoren niedergehender Zeiten. Denn die Gesellschaft ist so alt wie der Mensch; sie ist das Erste, das Gegebene. Wo es Menschen gegeben hat, sind sie in Horden, in Sippen, in Stämmen, in Zünften zusammen gewesen, sind sie gemeinsam gewandert, haben sie zusammen gewohnt und zusammen gearbeitet. Es waren einzelne Menschen, Individuen, die durch gemeinsamen Geist (auch was man bei Tieren Instinkt nennt, ist gemeinsamer Geist), der ein natürlicher aber kein
auferlegter Zwang ist, zusammengehalten waren.
Aber dieser natürliche Zwang der verbindenden Eigenschaft, des gemeinsamen Geistes hat bisher, in der uns bekannten Menschengeschichte, immer äußere Formen gebraucht: religiöse Symbole und Kulte, Glaubensvorstellungen und Gebetvorkehrungen oder ähnliches solcher Art.
Darum ist der Geist in den Völkern immer in Verbindung mit dem Ungeist, das tiefe Denken des Symbols immer zusammen mit dem Meinen des Aberglaubens; über die Wärme und Liebe des verbindenden Geistes kommt die Starrheit und Kälte des Dogmas; statt der Wahrheit dessen, das so tief herauf gebracht ist, daß es sich nur im Bilde sagen läßt, stellt sich der Unsinn der Wörtlichkeit ein.
Und dazu kommt dann die äußere Organisation: die Kirche, und die Organisationen äußeren Zwanges weltlicher Art erstarken und wachsen ins Schlimme aus: die Leibeigenschaft, der Feudalismus, die mancherlei Behörden und Obrigkeiten, der Staat.
Da geht es mit dem Geist in den Völkern, über den Völkern, mit der Selbstverständlichkeit, die aus den einzelnen strömt und sie zum Bunde führt, schnell oder langsam, hinab. Der Geist zieht sich in die einzelnen zurück. Einzelne, innerlich Mächtige waren es, Repräsentanten des Volks, die ihn dem Volke geboren hatten; jetzt liebt er in einzelnen, Genialen, die sich in all ihrer Mächtigkeit verzehren, die ohne Volk sind: vereinsamte Denker, Dichter und Künstler, die haltlos, wie entwurzelt, fast wie in der Luft stehen. Wie aus einem Traum aus urlang vergangener Zeit heraus ergreift es sie manchmal: und dann werfen sie mit königlicher Gebärde des Unwillens die Leier hinter sich und greifen zur Posaune, reden aus dem Geiste heraus zum Volke und vom kommenden Volke. All ihre Konzentration, all ihre Form, die in ihnen mit gewaltiger Schmerzlichkeit lebendig ist und oft viel stärker und umfänglicher ist, als ihr Körper und ihre Seele ertragen kann, die unzähligen Gestalten, und die Farbigkeit und das Gewimmel und Gedränge des Rhythmus und der Harmonie: all das – hört es, ihr Künstler! – ist ertötetes Volk, ist lebendiges Volk, das in ihnen sich gesammelt hat, das in ihnen begraben ist und aus ihnen wieder auferstehen wird.
Und neben ihnen erstehen andere einzelne, die ein Gemisch aus Geist und Geistlosigkeit isoliert hat: Gewaltherrscher, Reichtumserraffer, Menschenpächter, Landräuber. In solchen Anfängen der Untergangs- und Übergangszeit, wie sie uns am protzigsten und prächtigsten die Renaissance – das beginnende Barock – repräsentiert, haben diese Kerle noch viele Züge des Geistes, der auseinandergejagt und auch in ihnen wieder zum Teil zur Sammlung gekommen ist; und sie haben in all ihrer Wuchtigkeit und Macht noch einen Zug der Melancholie, der Starrheit und Fremde, des Unirdischen und Visionären, möchte man bei manchen dieser Erscheinungen fast sagen, der erzählt, daß auch in ihnen ein Gespenstisches lebt, das mächtiger ist als sie selbst, ein Inhalt, dem das Gefäß der isolierten Persönlichkeit zu eng ist. Und ganz, ganz selten erwacht auch einer von ihnen wie aus einem wüsten Traum und er schleudert die Krone von sich und steigt auf den Berg Horeb, um Ausschau zu halten nach seinem Volk.
Und es kommen manchmal die gemischten Naturen, an deren Wiege die Fee lange geschwankt hat: soll sie einen großen Eroberer, einen großen Freiheitshelden, ein Genie des Denkens und der schweifenden Phantasie oder einen Großkaufmann aus ihnen machen: Männer wie Napoleon und Ferdinand Lassalle.
Und diesen isolierten Wenigen, in die sich der Geist geflüchtet hat und die Macht und der Reichtum, entsprechen die von einander isolierten, die atomisierten Vielen, denen nur die Geistlosigkeit geblieben ist und die öde und das Elend: die Massen, die das Volk heißen, die aber nur ein Haufen Losgerissener, Preisgegebener sind. Losgerissen, in melancholischer Fremde, die Einzelnen, Wenigen, in denen der Volksgeist bestattet ist, auch wenn sie nichts von ihm wissen. Losgerissen, in Not und Ärmlichkeit Zerteilte, die Massen, in die der Geist wieder strömen muß, wenn er und das Volk wieder zusammen kommen, wieder lebendig werden sollen.
Der Tod ist die Atmosphäre zwischen uns; denn wo kein Geist ist, ist Tod; der Tod ist uns über die Haut gekrochen und bis in das Fleisch gedrungen; aber in uns, in unsrer Verborgenheit, in unserm Geheimsten und Tiefsten, in unserm Traum, in unsrer Sehnsucht, in den Gestalten der Kunst, im Willen der Wollenden, im Tiefblick der Schauenden, in den Taten der Tuenden, in der Liebe der Liebenden, in der Verzweiflung und Tapferkeit, in der Seelennot und Freude, in der Revolution und im Bunde: da wohnt das Leben, die Kraft und die Herrlichkeit; ist Geist verborgen, wird Geist gezeugt, der herausbrechen und Volk und Schönheit und Gemeinschaft schaffen wird.
Die Zeiten des Menschengeschlechts, die am schönsten in die Nachwelt glänzen, sind die, wo diese Tendenz des Versickerns des Geistes aus dem Volk in die Schluchten und Höhlungen vereinsamt stehender Personen gerade schon begonnen hat, aber noch nicht weit gediehen ist: wo der gemeinsame Geist, die Gesellschaft der Gesellschaften, die Durcheinanderschichtung der vielen aus dem Geist erwachsenen Bünde in voller Kraft stehen, wo aber dazu schon die genialen Persönlichkeiten erwachsen sind, die jedoch noch natürlich bezwungen sind von dem großen Geiste des Volkes, das darum auch nicht die banale Bestaunung ihrer großen Werke kennt, sie vielmehr wie eine natürliche Frucht des Mitlebens hinnimmt und sich ihrer mit heiligen Gefühlen freut, aber oft kaum die Namen der Urheber der Nachwelt überliefert.
Solche Zeit war die Blütezeit des griechischen Volkslebens; solche Zeit war das christliche Mittelalter.
Es war da keinerlei Ideal; es war Wirklichkeit. Und so sehen wir neben all dem Hohen, dem Freiwilligen, dem Geisthaften noch die Reste früherer, schon die Anfänge späterer Gewalt des Äußern, der Brutalität, des auferlegten Zwanges, des Staates. Aber der Geist war mächtiger; ja, oft durchdrang und verschönte er sogar solche Einrichtungen der Gewalt und der Abhängigkeit, die in den Zeiten des Verfalls ein Abscheu und Greuel werden. Nicht alles, was die guten Historiker Sklaverei nennen, war immer und ganz und gar "Sklaverei".
Es war da kein Ideal, weil Geist war. Der Geist gibt dem Leben einen Sinn, Heiligung und Weihe; der Geist schafft, zeugt und durchdringt die Gegenwart mit Freude und Kraft und Seligkeit; das Ideal wendet sich vom Gegenwärtigen ab, dem Neuen zu; es ist Sehnsucht nach der Zukunft, nach dem Besseren, nach dem Unbekannten. Es ist der Weg aus den Zeiten des Niederganges heraus zu neuer Kultur.
Aber hier ist noch eines zu sagen. Vor diesen Zeiten der glänzenden Höhe, die schon auf der Wende stehen, hat es, nicht ein einziges Mal in der sogenannten Entwicklung, sondern immer wieder im Auf und Ab der einander ablösenden und sich mischenden Völker, andere Perioden gegeben. Da war auch verbindender Geist, da war auch gemeinsames Leben in Freiwilligkeit, aus natürlichem Zwang der Zueinandergehörigkeit. Aber es ragten keine in allen Einzelheiten in Schönheit glitzernden, in Harmonie und Besonderheit zusammengewachsenen Münstertürme gen Himmel, und keine Säulenhallen standen in geruhsamer Sicherheit gegen die durchsichtige Bläue des Himmels. Es waren da einfachere Verbände; noch keine Persönlichkeiten genialer Individualität und Subjektivität waren die Repräsentanten des Volkstums; es war ein primitives, ein kommunistisches Leben. Es waren – und es sind – lange Jahrhunderte und oft Jahrtausende des ziemlichen Stillstandes – Stillstand, hört es, gelehrte und liberale Zeitgenossen, ist für jene Zeiten, für diese fast noch neben uns lebenden Völker ein Zeichen ihrer Kultur; Fortschritt, was ihr Fortschritt nennt, dieses unaufhörliche Gewackel und Gefackel, dieses Schnellmüdewerden und neurasthenische, kurzatmige Jagen nach dem Neuen, wenn es nur mal wieder neu ist, Fortschritt und die damit in Zusammenhang Stehenden verrückten Ideen der Entwicklungspraktiker und die maniakalische Gewohnheit, bei der Ankunft schon wieder Adieu zu sagen, Fortschritt, diese unstete Ruhelosigkeit und Hetze, dieses Nichtstillhaltenkönnen und dieses Reisefieber, dieser sogenannte Fortschritt ist ein Symptom unsrer abnormen Zustände, unsrer Unkultur; und ganz etwas anderes als solche Symptome unsrer Verdorbenheit brauchen wir, um aus unsrer Verdorbenheit herauszukommen – es waren und es sind, sage ich, Zelten und Völker des gedeihlichen Lebens, Zeiten der Tradition, des Epos, des Ackerbaus und des ländlichen Handwerks, ohne viel herausragende Kunst, ohne viel geschriebene Wissenschaft. Zeiten, die weniger glanzvoll sind, sich selbst weniger Denkmäler, Grabmäler setzen als jene Höhezeiten, die so herrlich sind, weil schon ihre Erben bei ihnen sind und ihre annoch wundervolle Jugend mit ihnen verbringen: eine Zeit vielmehr langen und breiten, fast behaglich zu nennenden Lebens. Es war da noch nicht der selbstbewußte Geist mit magischer Bezwingergewalt, der schon im Begriff steht, sich abzusondern und als hohe Botschaft über die Lande zu gehen und die Seelen in seinen Bann zu zwingen. Auch diese Zeiten waren; auch diese Völker sind; und auch solche Zeiten werden wieder kommen.
In solchen Zeiten sieht der Geist wie versteckt aus; man erkennt ihn, wenn man forschend hinblickt, fast nur an seinen Äußerungen: an den Formen des Gesellschaftslebens, an den wirtschaftlichen Einrichtungen der Gemeinschaft.
In die allerersten, die primitiven Anfänge, die Vorstufen dieser Zeiten sind die Menschen immer wieder hineingekommen, wenn sie sich aus noch früheren Zeiten des Niedergangs, der Geistlosigkeit, der Tyrannei, Ausbeutung und Staatsgewalt gerettet hatten, oft mit Hilfe von Völkerschaften, die in diesem Zustand der fruchtbaren Stille langsam sich neuen Plätzen zu über die Erde bewegten und aus dem Dunkel des Unbekannten, der Ferne neu und gesund in sie einströmten. So sind die Römer und Griechen der späten Kaiserzeit in dieses Jungbad getaucht und wieder Kinder, wieder primitiv geworden und reif für den neuen Geist, der zu gleicher Zeit von Osten her über ihr Leben kam. Es gibt für den, der mit der Menschheit, ihrem ewigen Dahingang und ewigen Wiederwerden mitfühlt, kaum etwas Erschütternderes, zugleich Seelenpeinigendes und zu fast kindlich frommer Zuversicht Aufrichtendes als die Werke der frühbyzantinischen Kunst, die man doch ebensowohl spätgriechische nennen könnte. Durch welche Verderbnis und durch welche ungeheuerliche Wiederaufrichtung, durch welches Grauen und welche Seelennot sind da Generationen hindurchgegangen, bis sie aus dem modisch-eleganten Formalismus und der Totenkälte der Virtuosität zu dieser fast schaudererregenden Herzensinnigkeit, zu dieser kindlichen Schlichtheit, zu dem Nichtmehrrichtigsehenkönnen alles Körperlichen gekommen waren! Die Virtuosität des Auges und der Hand hätte sich von Geschlecht zu Geschlecht in Kunst und Handwerk weiter vererbt, wenn die Seele sie nicht von sich gespien hätte wie Unrat und bittere Galle. Welche Hoffnungen, was für tiefe Tröstungen liegen in solchem peinvoll-erquickenden Anblick für uns, für alle, die daraus lernen können, weil sie wissen: keinerlei Fortschritt, keinerlei Technik, keinerlei Virtuosität wird uns Heil und Segen bringen; nur aus dem Geiste, nur aus der Tiefe unsrer inneren Not und unsres inneren Reichtums wird die große Wendung kommen, die wir heute Sozialismus nennen.
Für uns aber gibt es kein so Fernes, kein so Unbekanntes, keine Plötzlichkeit und Überraschung aus dem Dunkel mehr irgendwo draußen in der Welt. Keinerlei Analogie der Vergangenheit kann auf uns mehr ganz zutreffen: die Erdoberfläche ist uns bekannt, wir haben die Hand auf ihr und den schweifenden Blick um sie herum. Völker, die noch vor Jahrzehnten wie durch Jahrzehntausende von uns getrennt waren – Japaner, Chinesen – sind eifrig dabei, ihren Stillstand mit unserm Fortschritt, ihre Kultur mit unsrer Zivilisation zu vertauschen. Andere, kleinere Völker dieser Stufe haben wir ausgerottet oder mit Christentum und Alkohol depraviert.
Aus uns selbst muß diesmal die Erneuerung kommen, wennschon zu glauben ist, daß Völker neuer Mischung wie die Amerikaner, Völker älterer Stufe wie die Russen, die Inder, vielleicht auch noch die Chinesen, uns dabei am fruchtbarsten helfen werden.
Den Menschen, die sich aus dem Zustand irgendwelcher Verdorbenheit zuerst wieder erhoben und in die sagenhaften, epischen Zeiten der wieder einmal anfänglichen Kultur, des Kommunismus retteten, winkte vielleicht oft noch lange kein neuer Geist, in sichtbarer, in greifbarer, in aussprechbarer Gestalt. Sie hatten nicht den Glanz eines überwältigenden Wahnes, der sie in seinen Bann zwang. Aber den Aberglauben, den elenden, nicht wieder zu erkennenden Rest früherer Höhezeiten, hatten sie hinter sich gebracht; sie wollten nur das Irdische; und so fing ihr Leben neu an mit dem Geiste der Gerechtigkeit, der ihre Einrichtungen, ihr Zusammenleben, ihr Arbeiten und Verteilen der Güter erfüllte. Der Geist der Gerechtigkeit - ein irdisches Tun und ein Schaffen freiwilliger Bünde, noch vor dem himmlischen Wähnen, das später das irdische Tun in Gemeinschaft verklärt und – erst recht – natürlich erzwingt.
Rede ich mit diesen Worten von den Barbaren längst vergangener Jahrtausende? Spreche ich von den Vorfahren der Araber, der Irokesen, der Grönländer? Ich weiß es nicht. Wir wissen so gar nichts von den Veränderungen und Entstehungen dieser sogenannten barbarischen Völker früherer und unserer Zeiten. Wir haben da kaum Überlieferungen und keine rechten Anhaltspunkte. Nur das wissen wir, daß die sogenannt primitiven Zustände angeblicher Barbaren oder Wilden keine anfänglichen in dem Sinne sind, daß damit die Menschheit angefangen hätte, wie viele Fachmenschen zu meinen glauben, die mehr gelehrt sind als sie denken können. Wir wissen von keinerlei solchem Anfang; auch die Kulturen der "Barbaren" kommen irgendwoher, kommen tief aus dem Menschlichen her; vielleicht aus einer wirklichen Barbarei, ähnlich der, aus der wir heraus wollen.
Denn ich rede jedoch von unsern eigenen Völkern; ich spreche von uns selbst.Wir sind das Volk des Niederganges, dessen Pioniere und Voreilende der blöden Gewalt, der schimpflichen Isolierung und Preisgebung der Einzelmenschen überdrüssig sind. Wir sind das Volk des Herabgleitens, wo kein verbindender Geist mehr ist, sondern nur noch seine entstellten Reste, der Unsinn des Aberglaubens, und sein gemeines Surrogat, der Zwang der äußern Gewalt, des Staates. Wir sind das Volk des Untergangs und darum des Übergangs, dessen Vorkämpfer keinerlei über das irdische Leben hinaus weisenden Sinn erblicken, die keinen Himmelswahn vor sich sehen, den sie glauben und heilig künden könnten. Wir sind das Volk, das wieder aufwärts schreiten kann nur durch einen einzigen Geist: den Geist der Gerechtigkeit in den irdischen Dingen des Gemeinschaftslebens. Wir sind das Volk, das nur zu retten, nur zur Kultur zu bringen ist durch den Sozialismus.
3.
So also steht unsre Zeit zwischen den Zeiten. Wie sieht sie aus? Ein verbindender Geist – ja, ja! hier wird etwas oft Geist gesagt. Vielleicht geschieht es darum, weil die Menschen unsrer Zeit und zumal die sogenannten Sozialisten so wenig Geist sagen wie sie Geist tun. Sie tun nicht Geist und sie tun nichts Wirkliches und nichts Praktisches; und wie könnten sie Wirkliches schaffen, da sie nicht wirklich denken! – ein verbindender Geist, sage ich, der die Menschen von innen her zum Zusammenarbeiten in den Dingen der Gemeinsamkeit, der Herstellung und Verteilung der gebrauchten Güter triebe, ist nicht da. Ein Geist, der wie ein Lerchenlied aus den Lüften oder ferner, brausender Gesang von unsichtbaren Chören über aller Arbeit und jeder fleißigen Regung schwebte, der Geist der Kunst, der Verklärung des irdisch-betriebsamen Tuns, ist nicht da. Ein Geist, der die Gegenstände des Gebrauchs, der die natürlichen Triebe, die Befriedigungen, die Feste mit Notwendigkeit und Freiheit erfüllte, ist nicht da. Ein Geist, der alles Leben in Beziehung zur Ewigkeit setzte, der unsre Sinne heiligte, alles Leibliche himmlisch, jeden Wandel und alles Wandeln zur Freude, zum Schwung, Umschwung und Überschwang machte, ist nicht da.
Was ist da? Gott, der die Welt geschaffen hat; der einen Sohn hat, welcher diese Welt von der Sünde erlöst ... genug davon, von diesen unverstandenen Resten einer Symbolik, die einmal Sinnes genug hatte, Resten, die nun wörtlich genommen und mit Haut und Haar und mit allen Buchstaben und Wundergeschichten geglaubt werden sollen, auf daß die sogenannte Seele oder auch der Körper mit Haut und Haar nach der Verwesung selig werden können. Genug davon. Dieser Geist ist ein Ungeist; hat weder Beziehungen zur Wahrheit noch zum Leben. Wenn etwas beweisbar falsch ist, so sind es diese Vorstellungen allesamt.
Und unsere Gebildeten wissen es. Ist das Volk, ein sehr großer Teil des Volkes, im Geist des Falschen, des Unrichtigen und des Verderblichen befangen, so stecken wie viele! unserer Gebildeten im Geiste der Lüge und der Feigheit. Und wie viele hinwiederum, im Volk und bei den Gebildeten, kümmern sich gar um keinerlei Geist mehr und meinen, es gebe nichts Überflüssigeres, als sich mit derlei Dingen abzugeben.
In der Schule werden die Kinder mit Lehren aufgezogen, die nicht wahr sind, und die Eltern werden gezwungen, das Denken ihrer Kinder in Falsches verkehren zu lassen. Eine furchtbare Kluft wird aufgemacht zwischen den Kindern der Armen, die in der alten Religion mit Gewalt erhalten werden, und den Kindern der Reichen, denen allerlei halbe Aufklärung und gelinder Zweifel mit auf den Weg gegeben wird. Die Kinder der Armen sollen dumm, botmäßig, furchtsam bleiben; die Kinder der Reichen werden halb und frivol.
Wie wird gearbeitet in unserer Zeit? Warum wird gearbeitet?
Was ist denn das – Arbeit?
Nur wenige Tierarten kennen das, was wir Arbeit nennen; Bienen, Ameisen, Termiten und Menschen.Der Fuchs in seinem Bau und auf der Jagd, der Vogel in seinem Neste und beim Insektenfang oder Körnersuchen – sie alle müssen sich mühen, um zu leben; aber sie arbeiten nicht. Arbeit ist Technik; Technik ist gemeinsamer Geist und Vorsorge. Es gibt keine Arbeit, wo nicht Geist und Vorsorge und wo nicht Gemeinsamkeit ist.
Wie sieht der Geist aus, der unsre Arbeit bestimmt? Wie ist es mit der Vorsorge bestellt? Wie ist die Gemeinsamkeit beschaffen, die unsre Arbeit regelt?
So sieht er aus und so sind sie beschaffen: Die Erde, und damit die Möglichkeit des Wohnens, der Werkstatt, der Tätigkeit; die Erde und damit die Rohstoffe; die Erde und damit die aus der Vergangenheit ererbten Arbeitsmittel sind im Besitze von Wenigen. Diese Wenigen drängt es nach wirtschaftlicher und persönlicher Macht in Gestalt von Bodenbesitz, Geldreichtum und Menschenbeherrschung.
Sie lassen Dinge herstellen, wovon sie nach Stand der jeweiligen Sachlage glauben, daß der Markt sie mit Hilfe einer großen Armee von Agenten, Reisenden, auf deutsch: überredenden Schwätzern, Großhändlern, Kleinhändlern, Zeitungsinseraten und Plakaten, Feuerwerk und verlockender Ausstattung aufnehmen kann.
Aber auch selbst wenn sie wissen, daß der Markt ihre Waren nur schwer oder gar nicht oder wenigstens nicht zum gewünschten Preis verdauen kann, müssen sie ihn immer weiter mit ihren Erzeugnissen bombardieren: weil ihre Produktionsanstalten und Unternehmungen sich gar nicht nach den Bedürfnissen einer zusammenhängenden, organischen Menschenschicht, einer Gemeinde oder einer größeren Konsumentenvereinigung oder eines Volkes richten, sondern nach den Erfordernissen ihres maschinellen Betriebs, auf den Tausende von Arbeitern wie Ixion aufs Rad gespannt sind, weil sie gar nichts anderes können als an diesen Maschinen kleine Teilarbeiten verrichten.
Ob sie Kanonen zur Menschenvertilgung, oder Strümpfe aus gesponnenem Staub oder Senf aus Erbsmehl machen, ist gleichgültig. Ob ihre Waren gebraucht werden, ob sie nützlich oder sinnlos, schön oder häßlich, fein oder gemein, solid oder liederlich sind, ist gleichgültig. Wenn sie nur gekauft werden, wenn sie nur Geld einbringen.
Die große Masse der Menschen ist von der Erde und ihren Produkten, von der Erde und den Arbeitsmitteln getrennt. Sie leben in Armut oder in Unsicherheit; es ist keine Freude und kein Sinn in ihrem Leben; sie arbeiten Dinge, die zu ihrem Leben keine Beziehung haben; sie arbeiten auf eine Weise, die sie freudlos und stumpf macht. Viele, Massen, haben oft kein Dach über dem Kopf, frieren, hungern, verderben.
Weil sie sich ungenügend nähren und wärmen, werden sie schwindsüchtig oder sonstwie kränklich und sterben vor der Zeit. Und was der häusliche Druck und die Not, die schlechte Luft und das verpestete Hausen gesund lassen, verdirbt oft die Überanstrengung, der stechende Staub, der giftige Stoff und Dunst in der Fabrik.
Ihr Leben hat keine oder verschrumpfte Beziehungen zur .Natur; sie wissen nicht, was Pathos, Freude, was Ernst und Innigkeit, was Erschauern und was Tragik ist: sie erleben sich nicht; sie können nicht lächeln und können nicht Kind sein; sie ertragen sich und wissen nicht, wie unerträglich sie sind; sie leben auch seelisch in Schmutz und verdorbener Luft, in einem Qualme häßlicher Worte und widerwärtiger Vergnügungen.
Der Ort, an dem sie zusammenkommen und ihre Art Gemeinsamkeit pflegen, ist nicht der freie Marktplatz unter dem Himmel und kein hoher Kuppelraum, der ihnen die geschlossene Verbundenheit unter der Himmelsfreiheit und Unendlichkeit nachbildete, und kein Gemeindesaal und keine Gildhalle und kein Badhaus: ihr gemeiner Ort ist das Wirtshaus. Da ergeben sie sich dem Trunke und können oft nicht mehr leben, ohne sich zu betrinken. Sie betrinken sich, weil ihnen nichts so wesenhaft fremd ist, wie der Rausch.
Es ist notwendig und bestimmt, daß sehr viele arbeiten wollen und nicht können, daß viele, die das Arbeiten vermöchten, das Wollen nicht mehr vermögen; daß sehr viele Keime im Mutterleib, daß sehr viele Kinder nach der Geburt getötet werden; daß sehr viele lange Lebensjahre im Zuchthaus oder Arbeitshaus verbringen.
Man hat Zuchthäuser und Gefängnisse bauen, man hat Schaffotte errichten müssen. Das Eigentum und das Leben, die Gesundheit, der heile Körper und die Freiheit der Geschlechtswahl sind von Verkümmerten und Verkommenen immer bedroht. Nicht oft mehr von Empörern und Frevlern, denn jetzt gibt es weniger kühne Räuber als früher; dafür unzählige Diebe, Einbrecher und Betrüger, und Gelegenheitstotschläger, die man Mörder nennt.
Priester und von der Sitte gebändigte Bürgersleute haben es aufgebracht, daß man wie von Tieren von diesen Armen spricht, die für unsere verruchte Unschuld unschuldig Schuldige sind: man nennt sie Vieh, Schwein, Bock und Tier. Ihr Menschen aber!: sehet sie, wie sie als Kinder sind: sehet nach ihnen und schauet inständig lange auf ihre Züge, wenn sie auf den Leichenschrägen liegen, und dann zutiefst in euch hinein. Schonet euch nicht, zu lange habt ihr euch geschont und zu lange eure guten Kleider, eure Haut und eure bis zur Verruchtheit zartfühlenden Herzen gewahrt! sehet auf die Armen, die Elenden, die Gesunkenen, die Verbrecher und die Huren, ihr braven Bürger, ihr eingezogenen und gehaltenen Jünglinge, ihr züchtigen Mädchen und ehrbaren Frauen; blicket hin, auf daß ihr erfahret: eure Unschuld ist eure Schuld; ihre Schuld ist euer Leben.
Ihre Schuld ist das Leben der Wohlgestellten; nur daß auch diese längst keine Unschuldigen und keine wohl zu Beschauenden sind. Die Not und der Ungeist zeugt schreiende Häßlichkeit, Entbehrung und Öde; der Wohlstand und der Ungeist paaren sich zu Öde, Leere und Lüge.
Und es ist ein Punkt, es ist ein Ort, wo die beiden sich treffen: der Arme und der armselige Reiche. In der Geschlechtsnot kommen sie zusammen. Die allerärmsten sind die jungen Weiber, die nichts zu verkaufen haben als ihren Leib. Die allerarmseligsten sind die jungen Männer, die durch die Straßen irren und nicht wissen, woher ihnen das Geschlecht kommt und wohin sie damit sollen. Kein Marktplatz und kein hoher Kuppelraum, kein Tempel und Gemeindehaus ist in dieser unsrer Zeit der Ort der Gemeinschaft für alle. Nun aber, wo Gewalt und Geld da wohnen, wo der Geist daheim sein möchte, ist die Lust so weit geschwunden, daß es Menschen gibt, die sie kaufen wollen und Menschen, die ihr ekles Surrogat verkaufen müssen. Wo Lust zur Ware wurde, da ist kein Unterschied mehr zwischen den Seelen der Oberen und der Untersten; und das Lusthaus ist das Repräsentantenhaus dieser unsrer Zeit.
Um in all dieser Geistlosigkeit, diesem Unsinn, diesem Wirrwarr, dieser Not und Verkommenheit Ordnung und Möglichkeit des Weiterlebens zu schaffen, ist der Staat da. Der Staat mit seinen Schulen, Kirchen, Gerichten, Zuchthäusern, Arbeitshäusern, der Staat mit seinen Gendarmen und seiner Polizei; der Staat mit seinen Soldaten, Beamten und Prostituierten. Wo kein Geist und keine innere Nötigung ist, da ist äußere Gewalt, Reglementierung und Staat. Wo Geist ist, da ist Gesellschaft. Wo Geistlosigkeit ist, ist Staat. Der Staat ist das Surrogat des Geistes.
Das ist er auch noch in anderer Richtung. Denn etwas, das wie Geist aussieht und tut, muß dasein. Lebendige Menschen können ohne Geist nicht einen Augenblick leben, die Materialisten mögen übrigens rechtschaffene Leute sein; aber sie verstehen von dem, was Welt und Leben ausmacht, nicht die Bohne. Nur, was für ein Geist ist es, der uns am Leben läßt? Der Geist, der unsere Arbeit regelt, heißt hüben Geld, drüben Not, wir haben es gesehen. Der Geist, der uns über Leib und Individualität hinaushebt, heißt unten Aberglauben, Hurerei und Alkohol; oben Alkohol, Hurerei und Luxus. Und so gibt es noch allerlei Geister – vorüber, vorüber! Und der Geist, der die einzelnen zur Gesamtheit, zum Volke erhebt, heißt heute Nation. Nation als natürlicher Zwang der geborenen Gemeinschaft ist ein urschöner und unausrottbarer Geist. Nation in der Verquickung mit dem Staate und der Vergewaltigung ist eine künstliche Roheit und boshafte Dummheit – und ist doch ein Ersatzmittel des Geistes, das den Menschen, die heute leben, wie ein angewöhntes Gift und Berauschungsmittel unentbehrlich geworden ist, Spiritus.
Die Staaten mit ihren Grenzen, die Nationen mit ihren Gegensätzen sind Ersatzmittel für Volks- und Gemeinschaftsgeist, der nicht da ist. Die Staatsidee ist ein nachgemachter künstlicher Geist, ein falscher Wahn, Zwecke, die nichts miteinander zu tun haben, die nicht am Boden kleben, wie die schönen Interessen der gemeinsamen Sprache und Sitte, die Interessen des Wirtschaftslebens (und was für eines Wirtschaftslebens heutzutage, wir haben es gesehen!) verkuppelt er mit einander und mit einem bestimmten Landgebiet. Der Staat mit seiner Polizei und all seinen Gesetzen und Eigentumsrechtseinrichtungen ist um der Menschen willen da, als miserabler Ersatz für den Geist und die Zweckverbände; und überdies sollen nun die Menschen um des Staates willen dasein, der so etwas wie ein ideales Gebilde und ein Selbstzweck, wiederum also ein Geist zu sein vorspiegelt. Geist ist etwas, was in den Herzen und Seelenleibern der einzelnen in gleicher Weise wohnt; was mit natürlicher Nötigung, als verbindende Eigenschaft, aus allen herausbricht und alle zum Bunde führt. Der Staat sitzt nie im Innern der einzelnen, er ist nie zur Individualeigenschaft geworden, nie Freiwilligkeit gewesen. Er setzt den Zentralismus der Botmäßigkeit und Disziplin an die Stelle des Zentrums, das die Welt des Geistes regiert: das ist der Schlag des Herzens und das freie, eigene Denken im lebendigen Leibe der Person. Früher einmal gab es Gemeinden, Stammesbünde, Gilden, Brüderschaften, Korporationen, Gesellschaften, und sie alle schichteten sich zur Gesellschaft. Heute gibt es Zwang, Buchstaben, Staat.
Und dieser Staat, der überdies ein Nichts ist und sich, um das Nichts zu verhüllen, lügnerisch mit dem Mantel der Nationalität bekleidet und diese Nationalität, die ein Feines, Geistiges zwischen den Menschen ist, lügnerisch verbindet mit einer Land- und Bodengemeinschaft, die nichts damit zu tun hat und die nicht da ist: Dieser Staat will also ein Geist und ein Ideal, ein Jenseitiges und wie Unbegreifliches sein, für das Millionen enthusiastisch und todestrunken einander hinschlachten. Das ist die äußerste, die höchste Form des Ungeistes, der sich eingestellt hat, weil der wahre Geist der Verbindung dahin und zugrunde gegangen ist; und wiederum sei es gesagt: hätten die Menschen diesen schauerlichen Aberglauben nicht an Stelle der lebendigen Wahrheit natürlicher Geistverbundenheit, sie vermöchten nicht zu leben, denn sie erstickten in der Scham und Schmach dieses Unlebens und dieser Verbindungslosigkeit, sie zerfielen zu Staub wie vertrockneter Kot.
So also sieht unsere Zeit aus. So steht sie da – zwischen den Zeiten. Fühlt ihr, die ihr meine Worte hört, mit Ohren höret und dem ganzen Menschen, fühlt ihr, daß ich kaum sprechen konnte bei dieser Beschreibung? Daß ich nur notgedrungen, weil es zur Sache und um euretwillen sein muß, von diesem Furchtbaren redete, und ins Bewußtsein heraufrief, was ich in mir nicht mehr nötig habe bewußt werden zu lassen, weil all dieses Schimpfliche der Umgebung längst ein Stück meines Grundes, meines Lebens, meiner Körperhaltung sogar und Mienen geworden ist? Daß ich wie zusammengekrampft war und einem übermächtigen Drucke fast erlag, daß ich kurzen Atems war und mir das Herz bis zum Halse hinauf schlug?
Ihr Menschen allesamt, die ihr leidet unter diesem Entsetzen: lasset zu euch dringen nicht nur die Stimme, die ich spreche, und die Färbung meiner Worte. Vernehmet vor dem mein Schweigen und meine Tonlosigkeit, meine Ersticktheit und mein Bangen. Sehet dazu meine geballten Fäuste, meine verzerrten Mienen und die blasse Entschlossenheit all meiner Haltung. Erfasset vor allem das Ungenügende dieser Schilderung und mein unsägliches Unvermögen, denn ich will, daß Menschen mich hören, daß Menschen zu mir stehen, daß Menschen mit mir gehen, die es nicht mehr aushalten können gleich mir.
4.
Sozialismus ist die Willenstendenz geeinter Menschen, um eines Ideals willen Neues zu schaffen. Warum das Neue geschaffen werden soll, haben wir nun gesehen.Wir haben das Alte gesehen; wir haben das Bestehende noch einmal vor unsre schaudernden Blicke geführt. Jetzt sage ich nicht, wie wohl mancher erwarten könnte, wie das Neue, dem wir zustreben wollen, in seiner Ganzheit beschaffen sein soll; ich gebe keine Schilderung eines Ideals, keine Beschreibung einer Utopie. Was davon jetzt zu sagen ist, habe ich durchblicken lassen und habe es Gerechtigkeit mit Namen genannt. Von unsern Zuständen, von unsern Menschen ist ein Bild entworfen worden; glaubt jemand; man brauche nur Vernunft und Anstand oder gar Liebe zu predigen, und sie geschähen?
Der Sozialismus ist eine Kulturbewegung, ist ein Kampf um Schönheit, Größe, Fülle der Völker. Niemand kann ihn verstehen, keiner kann ihn führen, wem der Sozialismus nicht aus den Jahrhunderten und den Jahrtausenden herkommt. Wer den Sozialismus nicht als einen Weitergang langer und schwerer Geschichte erfaßt, weiß nichts von ihm; und damit schon ist gesagt – wir hören noch mehr davon – daß keinerlei Tagespolitiker Sozialisten sein können. Der Sozialist erfaßt das Ganze der Gesellschaft und der Vergangenheit; hat es im Gefühl und im Wissen, woher wir kommen, und bestimmt danach, wohin wir gehen.
Das ist das Kennzeichen des Sozialisten im Gegensatz zum Politiker: daß er aufs Ganze geht; daß er unsre Zustände in ihrer Gesamtheit, in ihrer Gewordenheit erfaßt; daß er das Allgemeine denkt. Daran schließt sich dann an, daß er das Ganze unsrer Mitlebensformen ablehnt, daß ihm nichts im Sinn ruht, daß er nichts zu verwirklichen ausgeht, als das Ganze, das Allgemeine, das Prinzipielle.
Nicht nur, was er ablehnt, nicht allein, was er zu erreichen ausgeht, ist dem Sozialisten ein Allgemeines und Umfassendes; auch seine Mittel können nicht am einzelnen kleben; die Wege, die er einschlägt, sind keine Einzelwege, sondern Hauptwege.
Der Sozialist also muß im Denken, Fühlen und Wollen ein Zusammensehender, ein das Vielfache Sammelnder sein.
Mag in ihm die große Liebe überragen oder die Phantasie oder das lichte Schauen oder der Ekel oder die wilde Angriffslust oder das starke Denken des Vernünftigen oder was sonst immer seine Herkunft sein mag; ob er ein Denker ist oder ein Dichter oder ein Kämpfer oder ein Prophet: etwas der Art, Leben des Allgemeinen, wird der wahre Sozialist haben; nie aber wird er (vom Wesen ist hier die Rede, von keinem äußern Beruf) ein Professor, ein Advokat, ein Zahlenmensch, ein Einzelheitskrämer, ein Hans Dampf in allen Gassen, einer vom Dutzend sein können.
Hier nun ist der Ort, wo gesagt werden muß (weil es jetzt eben schon gesagt worden ist): die sich heutigentages Sozialisten nennen, sind allesamt keine Sozialisten; was bei uns Sozialismus geheißen wird, ist ganz und gar kein Sozialismus. Auch hier, in dieser sogenannten sozialistischen Bewegung, wie in allen Organisationen und Einrichtungen dieser Zeiten, ist an die Stelle des Geistes ein elendes und gemeines Surrogat getreten. Hier aber ist die gefälschte Ersatzware noch besonders schlimm, durch etwas besonderes ausgezeichnet, besonders lächerlich für den, der dahinter gekommen ist, besonders gefährlich für die Getäuschten. Dieses Surrogat ist eine Karikatur, eine Imitation, eine Travestie des Geistes. Geist ist Erfassung des Ganzen in lebendig Allgemeinem, Geist ist Verbindung des Getrennten, der Sachen, der Begriffe wie der Menschen; Geist ist in den Zeiten des Hinübergangs Enthusiasmus, Glut, Tapferkeit, Kampf; Geist ist ein Tun und ein Bauen. Was heute den Sozialismus fingiert, will auch eine Ganzheit erfassen, möchte auch die Einzelheiten unter allgemeine Sammlungen bekommen. Aber da in ihm kein lebendiger Geist wohnt, da ihm, was er anschaut, nicht Leben gewinnt und da ihm das Allgemeine nicht zum Gestalten wird, da es keine Intuition und keinen Impuls hat, wird sein Allgemeines kein wahres Wissen sein und kein echtes Wollen.
An die Stelle des Geistes ist ein überaus absonderlicher und komischer Wissenschaftsaberglauben getreten. Kein Wunder, daß diese kuriose Lehre eine Travestie des Geistes ist, da sie ja auch ihrer Entstehung nach eine Travestie wirklichen Geistes, der Philosophie Hegels nämlich, vorstellt. Der diese Droge in seinem Laboratorium ertüftelt hat, heißt Karl Marx. Karl Marx, der Professor. Wissenschaftsaberglauben an Stelle geisthaften Wissens; Politik und Partei an Stelle des Kulturwillens hat er uns gebracht. Da aber, wie wir gleich sehen, seine Wissenschaft in Widerspruch steht mit seiner Politik und jeglichen Parteibetätigungen, in Widerspruch steht überdies von Tag zu Tag offensichtlicher mit der Wirklichkeit; da ja eben ein so von Grund aus unechtes und imitiertes Allgemeines wie diese Wissenschaft sich nie auf die Dauer gegen die leibhaften Sinnes- und Tageswirklichkeiten der Einzelerscheinungen halten kann, hat sich in der Sozialdemokratie von Anfang an, nicht erst, seit es den sogenannten Revisionismus gibt, der Aufstand der geistlosen Tageskämpfer, Einzelheitskrämer und Hans Dämpfe in allen Gassen gegen die Wissenschaftstravestie abgespielt. Hier aber wird gezeigt werden, daß es ein anderes gibt, und daß weder die einen noch die andern Sozialisten sind. Hier wird gezeigt werden, daß der Marxismus kein Sozialismus ist und der Flickenrock der Revisionisten ebensowenig. Hier soll gezeigt werden, was Sozialismus nicht ist und was er ist. Sehen wir zu.
Weiter geht`s bei Teil 2 & Teil 3!
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2012 wurde dieser Text Gustav Landauers als Buch neu aufgelegt.
Originaltext: http://www.twokmi-kimali.de/texte/Landauer_Aufruf_zum_Sozialismus.htm