Errico Malatesta - Die moralische Grundlage des Anarchismus

Würde ich das leere Gerede Martuccis ernst nehmen, dann wäre ich schnell damit fertig.

Da er nämlich erklärt, er kämpfe nur für sich selbst und würde zum Vorteil seines „Ich“, zur Erreichung seiner Ziele, „keinen Augenblick zögern, die verachtete, elende und dumme Menschheit in Meeren von Blut zu baden und unter Bergen von Leichen zu ersticken“, würde ich ihm antworten: „Sehr gut! Mach nur ... wenn du die Kraft dazu hast und wenn du Elende und Dummköpfe findest, die es zulassen, aber bitte, was erzählst du mir das? Die Welt ist voller Leute, die zum eigenen Vorteil die arme Menschheit ausbeuten, mit Füßen treten und in Blut baden, ohne das Bedürfnis zu verspüren, daraus eine Theorie über Recht und Moral zu machen und ohne sich als anarchistisch zu bezeichnen. Wenn du dein Wohl, deine Macht wirklich außerhalb der Solidarität, außerhalb der Liebe zu anderen Menschen suchen willst, dann mach es doch wie diese Leute und schlag dir diese Grillen aus dem Kopf, die, anstatt dir Herrschaft über die anderen zu verschaffen, dich sehr leicht ins Gefängnis bringen könnten, unter der Anklage - welche Ironie - das Wohl aller gewollt zu haben! Paß auf, mein Junge, und da du nicht ohne Verstand bist und keine lästigen Skrupel haben dürftest, wirst du mehr Erfolg haben, wenn du dir den Anschein eines finsteren Zerstörers gibst, einer Art Attila, der unter den Hufen seines Schlachtrosses das unwürdige Menschengeschlecht zermalmt - oder besser zermalmen möchte.“

Ich habe jedoch den Verdacht, daß diese ganze Niedertracht nichts als leeres Gerede ist, in dem eigentlich gute Gefühle zum Ausdruck kommen, die durch die Bosheit der Gesellschaft verletzt und irregeleitet worden sind. Daher vermag ich Martucci nicht zu antworten wie ich es einem Bourgeois gegenüber täte, der, wie einst Mode in den Pariser Salons, sich als Anarchist und Terrorist gebärden würde, um sich vor alten Jungfern interessant zu machen, die auf der Suche nach starken Emotionen sind.

Ich kenne Martucci nicht gut genug und möchte nicht Gefahr laufen, ihn zu verletzen, indem ich sage, daß er ein guter Junge ist, der sich gerne als Räuber verkleidet - als ein philosophierender Räuber. Ich habe allerdings viele Menschen gekannt - einige waren und sind immer noch teure Freunde - , die wie Martucci oder noch schlimmer redeten, in Wirklichkeit jedoch das Gegenteil dessen sind, was sie scheinen wollen. Exzentrik bei den einen, falsche Argumentation bei den anderen. Und wieviele falsche „Bilderstürmer“ habe ich nicht gekannt, die im Grunde nichts anderes als Bilderverehrer sind und einfach ein „Bild“ durch ein anderes, ein altes Symbol durch ein nicht weniger ... symbolisches neues ersetzt haben!

So wie es moralische Heuchler gibt, gibt es auch Prahlhänse, die sich gern mit Verbrechen brüsten, wie es Denkfaule gibt, die ungeprüft alles Herkömmliche übernehmen, gibt es auch „große Geister“, die ungeprüft alles ablehnen, was von anderen akzeptiert wird und sich nicht scheuen, in absurde und widersprüchliche Behauptungen zu verfallen, wenn diese nur originell erscheinen. Im allgemeinen lassen diese Prahlhänse jedoch auf tausend Arten ihre wahre Güte erkennen, wiederholen die „Neuerer“ nur das, was schon gesagt wurde und seit Jahrzehnten oder Jahrhunderten keine Neuigkeit mehr ist. Es ist nicht leicht, seine eigene Natur zu überlisten, und noch weniger leicht, neue Ideen, und seien es auch Dummheiten, zu finden!

Im übrigen empört sich gerade Martucci, der die ganze Menschheit „in Blut baden würde“ usw. gegen die Faschisten, kämpft er gegen die Besitzenden und die Regierungen, die die Menschheit wirklich in Blut und Schmerz baden und zeigt, indem er die kommunistischen Anarchisten angreift, wie menschlich besorgt er angesichts der Gefahr ist, daß eine neue - auch freiwillige -  kommunistische Organisation Würde und Freiheit der Menschen beeinträchtigen könnte. Also?!

Aus all diesen Gründen hätte ich nichts dagegen einzuwenden, daß diese Jungen sich austoben wie sie wollen und möchte meine Zeit nicht damit verlieren, ihre Ansichten zu widerlegen: für mich gelten Taten mehr als Worte und das Verhalten mehr als die Theorie.

Doch leider verdrehen einige dieser aus dem Ärmel gezauberten Theorien gewissen Genossen den Kopf, die, wenn sie etwas nicht verstehen, ihrer „Unwissenheit“ die Schuld dafür geben und umso mehr Bewunderung zeigen, je weniger sie verstehen. Dann gibt es noch die wirklich Niederträchtigen, die sich auf die Theorie berufen, um in übler Weise gegen eigene Genossen vorzugehen, was sie in nicht geringe Gefahr bringen würde, richtete sich ihr Vorgehen gegen Angehörige der Bourgeoisie. Vor allem jedoch sind da unsere Feinde, die von der Art und Weise profitieren, in der einige den Anarchismus auslegen, um uns als verrückt oder niederträchtig hinzustellen und unsere Propaganda zu behindern. Man sollte die Dinge daher wieder zurechtrücken.

Ich werde Tatsachen wiederholen, die schon tausendmal von unseren Propagandisten gesagt wurden und allen vertraut sein müßten, die unsere Bewegung ein wenig kennen. Trotzdem können sie den Jungen nützen, die sie nicht kennen und den Alten, die sie vergessen haben. Da man davon ausgehen kann, daß der Mensch ein soziales Wesen ist, das als Mensch nur existieren kann, wenn es in ständigen materiellen und moralischen Beziehungen mit anderen Menschen steht, müssen diese Beziehungen entweder durch Zuneigung, Solidariät und Liebe oder durch Feindseligkeit und Kampf gekennzeichnet sein. Wenn jeder nur an das eigene Wohl denkt oder vielleicht an das der kleinen familiären oder landsmännischen Gruppe, der er angehört, dann gerät er zwangsläufig in Konflikt mit den anderen, aus dem er als Sieger oder als Besiegter hervorgehen kann: Unterdrücker, wenn er siegt, Unterdrückter, wenn er unterliegt. Die natürlichen Harmonien, die natürliche Übereinstimmung des Wohls des Einzelnen mit dem der Allgemeinheit sind Erfindungen der menschlichen Faulheit: anstatt für die Verwirklichung der eigenen Wünsche zu kämpfen, bildet man sich ein, daß diese sich spontan, durch Naturgesetz verwirklichen. In der Realität dagegen steht der Mensch ständig in einem Interessengegensatz zu den anderen, wenn es zum Beispiel um die Aneignung des schönsten und besten Wohnortes geht, um die Bebauung des fruchtbarsten Bodens und dann allmählich um die Nutzung all jener verschiedenen Gelegenheiten, die das Leben der Gesellschaft ständig für die einen oder anderen schafft. Und daher ist die Geschichte der Menschheit voller Gewalt, voller Kriege, Massaker, grausamer Ausbeutung fremder Arbeit, zahlloser Gewaltherrschaften und Versklavungen ganzer Völker.

Hätte es im menschlichen Geist nur diesen bohrenden Instinkt, über andere herrschen und von ihnen profitieren zu wollen, gegeben, so wäre die Menschheit im Stadium tierischer Rohheit geblieben und nicht einmal die Entwicklung der historischen und gegenwärtigen Ordnungen wäre möglich gewesen, die auch in den schlimmsten Fällen doch stets einen gewissen Ausgleich zwischen dem Geist der Gewaltherrschaft und einem Minimum an gesellschaftlicher Solidarität darstellen, das für ein etwas zivilisiertes und fortschrittliches Leben unerläßlich ist.

Doch glücklicherweise ist in den Menschen noch ein anderes Gefühl vorhanden, das sie ihren Nächsten näherbringt, nämlich das Gefühl der Zuneigung, der Toleranz, der Liebe und dank dieses Gefühls, das mit unterschiedlicher Stärke bei allen Menschen vorhanden ist, konnte sich die Menschheit ständig zivilisieren und ist unsere Idee entstanden, die aus der Gesellschaft eine wirkliche Gemeinschaft von Brüdern und Freunden machen will, die alle für das Wohl aller arbeiten.

Woraus dieses Empfinden entstanden ist, das seinen Ausdruck in den sogenannten moralischen Normen findet, und das in dem Maße, wie es sich entwickelt, die herrschende Moral negiert und eine höhere Moral an ihre Stelle setzt, ist eine Sache, die die Philosophen und Soziologen interessieren mag, jedoch nichts an der Tatsache ändert, daß dieses Gefühl für sich existiert, unabhängig von den Erklärungen, die man dafür geben kann. Ob es sich nur aus der einfachen physiologischen Tatsache der sexuellen Paarung ableiten läßt, die für die Arterhaltung notwendig ist, oder aus der Befriedigung, die man in einer Gesellschaft von Seinesgleichen aus dem Vorteil zieht, den die Einheit im Kampf gegen den gemeinsamen Feind und in der Auflehnung gegen den gemeinsamen Unterdrücker bietet, oder aus dem Wunsch nach Ruhe, nach Frieden und Sicherheit, den selbst die Sieger verspüren, oder aber vielmehr aus all diesen und tausend anderen Gründen, ist ohne Bedeutung: es existiert und auf seine Entwicklung und Ausbreitung gründen wir all unsere Hoffnungen für die Zukunft der Menschheit.

„Gottes Wille“, „die Naturgesetze“, „das Gesetz der Moral“, „der kategorische Imperativ“ der Kantianer, selbst das „wohlverstandene Interesse“ der Utilitaristen sind allesamt metaphysische Spitzfindigkeiten, die nichts ausrichten. Sie stellen den lobenswerten Versuch des menschlichen Geistes dar, alles erklären zu wollen, den Dingen auf den Grund zu gehen und könnten als vorläufige Arbeitshypothesen im Hinblick auf weitere Forschungen akzeptiert werden, wären sie nicht meistenteils Ausdruck der menschlichen Neigung, niemals die eigene Unwissenheit eingestehen zu wollen und sich lieber mit völlig inhaltslosen verbalen Erklärungen zufriedenzugeben anstatt „ich weiß nicht“ zu sagen.

Welche Erklärung oder Pseudoerklärung man auch bevorzugen mag, die Frage bleibt unverändert: es gilt zu wählen zwischen Haß und Liebe, zwischen brutalem mörderischem Kampf und brüderlicher Zusammenarbeit, zwischen „Egoismus“ und „Altruismus“.

Ich sagte „Altruismus“ und schon spüre ich den Bannfluch der „Bilderstürmer“ auf mich niedergehen. Dafür besteht kein Grund.

Dieser nunmehr jahrhundertealte Disput zwischen „Egoisten“ und „Altruisten“ ist im Grunde nichts als ein beklagenswerter Wortstreit. Es liegt auf der Hand und wird von allen zugestanden, daß wir alles, was wir freiwillig tun, deshalb tun, weil wir damit unsere Sinne oder Vorlieben befriedigen oder unserer Gesinnung folgen. Auch der reinste Märtyrer opfert sich deshalb auf, weil er beim Akt seiner Aufopferung eine tiefe Befriedigung empfindet, die ihn reichlich für das erlittene Leid entschädigt; und wenn er bewußt und freiwillig auf das Leben verzichtet, dann deshalb, weil es in seinen Augen etwas gibt, was einen höheren Wert als das Leben hat. In gewissem Sinn kann man daher - ohne Angst, einem Irrtum zu unterliegen - sagen, daß alle Menschen Egoisten seien.

In der Umgangssprache jedoch, die meiner Meinung nach immer dann vorzuziehen ist, wenn sie keine mißverständlichen Interpretationen erzeugt, ist ein Egoist jemand, der nur an sich denkt und die anderen seinen Interessen opfert, und ein Altruist jemand, der sich auch mehr oder weniger stark um die Interessen der anderen kümmert und alles in seinen Kräften Stehende tut, um ihnen zu helfen. Kurz, der Egoist wäre der schlechtere Egoist und der Altruist der bessere Egoist: eine Frage der Wortwahl.

Warum sind wir Anarchisten?

Abgesehen von unseren Vorstellungen über den politischen Staat und die Regierung, das heißt über die zwangsmäßige Organisation der Gesellschaft, die unser spezifisches Wesensmerkmal bilden, abgesehen auch von unseren Ideen über die beste Möglichkeit, allen Menschen die Benutzung der Produktionsmittel und die Beteiligung an den Vorteilen des gesellschaftlichen Zusammenlebens zu garantieren, sind wir Anarchisten aufgrund eines Gefühls, das die Triebfeder sämtlicher gesellschaftlicher Neuerer ist und ohne das unser Anarchismus eine Lüge oder ohne Sinn wäre.

Dieses Gefühl ist die Liebe zu den Menschen, ist die Tatsache, an den Leiden der anderen zu leiden. Wenn ich (ich spreche in der ersten Person, doch das gleiche könnte man von allen Genossen sagen, auch vom guten - darf ich ihn so nennen? - auch vom guten Martucci), wenn ich esse, dann kann ich keinen Geschmack daran finden, wenn ich denke, daß Menschen Hungers sterben; wenn ich meiner kleinen Tochter ein Spielzeug kaufe und ganz glücklich über ihre Freude bin, dann wird diese Freude schnell getrübt, wenn ich vor dem Schaufenster des Händlers Kinder mit weit aufgerissenen Augen sehe, die mit einem Pfennigpüppchen glücklich gemacht werden könnten; wenn ich mich vergnüge, dann verdüstert sich mein Gemüt, sobald mir in den Sinn kommt daß es Unglückliche gibt, die im Kerker schmachten; wenn ich studiere oder eine Arbeit mache, die mir gefällt, empfinde ich so etwas wie Gewissensbisse, wenn ich daran denke, wie viele es gibt, die klüger sind als ich und gezwungen sind, ihr Leben in einer abstumpfenden, oft unnützen oder schädlichen Arbeit zu vergeuden. Reiner Egoismus, wie ihr seht, doch ein Egoismus, den andere Altruismus nennen und ohne den, man nenne ihn wie man wolle, niemand ein wirklicher Anarchist sein kann.

Unduldsamkeit gegenüber Unterdrückung, der Wunsch, frei zu sein oder seine eigene Persönlichkeit in all ihren Möglichkeiten ausleben zu können, machen noch keinen Anarchisten aus. Wird dieses Streben nach unbegrenzter Freiheit nicht von der Liebe zu den Menschen und vom Wunsch, daß alle anderen die gleiche Freiheit besitzen mögen, korrigiert, so kann es Rebellen hervorbringen, reicht jedoch nicht aus, um Anarchisten hervorzubringen: Rebellen, die, falls ihre Stärke ausreicht, sich sehr rasch in Ausbeuter und Gewaltherrscher verwandeln.

(In Beantwortung der „Gedanken eines Bilderstürmers“ von Enzo Martucci) (Umanita Nova, 16. September 1922)

Aus: Errico Malatesta - Gesammelte Schriften, Band 2; Karin Kramer Verlag Berlin, 1980

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