Errico Malatesta - Der Generalstreik

Der „Generalstreik“ ist mit Sicherheit ein mächtiges Kampfmittel in den Händen des Proletariats: er ist oder kann Mittel und Gelegenheit für die Herbeiführung einer radikalen sozialen Revolution sein.Und doch frage ich mich, ob die Idee des Generalstreiks der Sache der Revolution nicht mehr geschadet als genützt hat.

Ich glaube, daß der Schaden den Nutzen in der Vergangenheit tatsächlich überwogen hat und daß heute das Gegenteil der Fall sein könnte, das heißt, daß der Generalstreik nur dann tatsächlich ein wirksames Mittel für die gesellschaftliche Umgestaltung sein kann, wenn er anders verstanden und praktiziert wird, als es bei den alten Verfechtern des Generalstreiks der Fall war.

In den ersten Zeiten der sozialistischen Bewegung, besonders in Italien zur Zeit der Ersten Internationale, als die Erinnnerung an die Kämpfe Mazzinis noch sehr lebendig war und noch viele derjenigen am Leben waren, die in den Reihen der garibaldischen Verbände für „Italien“ gekämpft hatten und jetzt über die von Monarchisten und Kapitalisten an Italien vorgenommene Verstümmelung enttäuscht und empört waren, war man sich völlig darüber im Klaren, daß das von der Gewalt der Bajonette geschützte Regime nur zerschlagen werden konnte, wenn man einen Teil der Soldaten auf die Seite des Volkes bringen und die Polizeikräfte und loyal gebliebenen Soldaten im bewaffneten Kampf besiegen konnte.

Und deshalb bildete man Verschwörungen, das heißt betrieb man aktiv Propaganda unter den Soldaten, versuchte man, sich zu bewaffnen, wurden Pläne für militärische Aktionen ausgearbeitet.

Die Ergebnisse waren, um der Wahrheit die Ehre zu geben, dürftig, denn man war gering an Zahl, die sozialen Zielsetzungen, für die man die Revolution machen wollte, wurden von der Allgemeinheit verkannt und abgelehnt und schließlich „waren die Zeiten noch nicht reif“.

Doch die Bereitschaft zur Vorbereitung auf die Insurrektion war vorhanden und fand allmählich Mittel und Wege, sich zu verwirklichen; die Propaganda begann sich auszuweiten und ihre Früchte zu tragen, „die Zeiten reiften heran“. Zum Teil war dies auf die direkte Tätigkeit der Revolutionäre zurückzuführen, mehr jedoch auf die ökonomische Entwicklung, die den Konflikt verschärfte und das Bewußtsein, des Konflikts zwischen Arbeitern und Unternehmern entwickelte, wovon die Revolutionäre profitieren konnten. Die Hoffnungen auf die soziale Revolution wuchsen, und unter Kämpfen, Verfolgungen, mehr oder weniger „unbesonnenen“ und glücklosen Versuchen, Wechseln zwischen fieberhafter Aktivität und Stillstand schien es sicher zu sein, daß man in einer nicht allzu fernen Zukunft schließlich den letzten und entscheidenden Schlag führen würde, der das herrschende politische und ökonomische System zerschlagen und den Weg für eine freiere Entwicklung zu neuen Formen gesellschaftlichen Zusammenlebens öffnen würde, die auf der Freiheit aller, der Gerechtigkeit für alle, der Brüderlichkeit und Solidarität unter allen Menschen gegründet sein würden.

Doch dann trat der Marxismus auf den Plan mit seinen Dogmen und seinem Fatalismus, um dem voluntaristischen Impuls der sozialistischen Jugend (damals bezeichneten sich auch die Anarchisten als Sozialisten) Einhalt zu gebieten.

Und leider geschah es, daß der Marxismus mit seinem wissenschaftlichen Schein (man befand sich mitten im Rausch der Wissenschaft) auch den größten Teil der Anarchisten täuschte und an sich zog.

Die Marxisten behaupteten, daß „die Revolution kommen, aber nicht gemacht werde“, daß der Sozialismus zwangsläufig durch den „unvermeidlichen Lauf“ der Dinge kommen werde und daß der politische Faktor (der doch die Macht und Gewalt im Dienste der ökonomischen Interessen ist) keine Bedeutung habe und das ganze Leben der Gesellschaft durch den ökonomischen Faktor bestimmt werde. Und so wurde die Vorbereitung auf die Insurrektion vernachlässigt und praktisch aufgegeben.

Nebenbei möchte ich noch bemerken, daß diese Marxisten, die dem politischen Kampf mit Verachtung begegneten, als dieser im wesentlichen auf die Insurrektion abzielte, später beschlossen, daß die Politik einziges und nahezu ausschließliches Mittel sei, um dem Sozialismus zum Sieg zu verhelfen, dann nämlich, als sich ihnen die Möglichkeit auftat, in das Parlament einzuziehen und den politischen Kampf auf den Wahlkampf zu beschränken. Und im Zuge dieser Entwicklung bemühten sie sich, in den Massen jegliche Begeisterung für die Insurrektion zu ersticken.

In dieser Situation, in dieser allgemeinen geistigen Haltung wurde die Idee des Generalstreiks lanciert, welche begeistert von denen aufgenommen wurde, die kein Vertrauen in die parlamentarische Tätigkeit hatten und darin eine neue und vielversprechende Möglichkeit für das Volk sahen.

Das Unglück war jedoch, daß die meisten im Generalstreik nicht ein Mittel sahen, um die Massen zur Insurrektion zu bewegen, das heißt zur gewaltsamen Zerschlagung der politischen Macht und Inbesitznahme von Grund und Boden, Produktionswerkzeugen und allem gesellschaftlichem Reichtum, sondern einen Ersatz für die Insurrektion, eine Möglichkeit, „die Bourgeoisie auszuhungern“ und sie ohne Blutvergießen zur Kapitulation zu zwingen.

Und da Komisches und Groteskes sich oft mit Ernstem mischen, gab es auch welche, die nach Kräutern und „Pillen“ suchten, mit denen man den menschlichen Körper in die Lage versetzen konnte, unbegrenzte Zeit ohne Nahrung auszukommen. Damit wollten sie die Arbeiter fähig machen, in einer friedlichen Fastenzeit darauf zu warten, daß die Bürger kämen, um Entschuldigung  und Pardon zu bitten.

Aus diesem Grund bin ich der Meinung, daß die Idee des Generalstreiks der Revolution geschadet hat.

Jetzt hoffe und glaube ich, daß die Illusion, die Bourgeoisie durch Hunger zur Kapitulation zu zwingen, völlig verschwunden ist - und wenn ein wenig davon geblieben ist, dann haben die Faschisten es übernommen, diese Reste zu zerstreuen.

Der Generalstreik, der zum Zweck des Protestes durchgeführt wird oder um ökonomische oder politische Forderungen zu unterstützen, die mit dem System vereinbar sind, kann von Nutzen sein, wenn er zu einem günstigen Zeitpunkt stattfindet, an dem Regierung und Unternehmer es für angebracht halten, aus Angst vor noch Schlimmerem nachzugeben. Aber man darf nicht vergessen, daß man jeden Tag essen muß und daß, wenn der Widerstand nur einige Tage andauert, man sich entweder schmachvoll dem Joch der Unternehmer beugen oder sich erheben muß ... auch wenn die Regierung oder die anderen Kräfte der Bourgeoisie nicht die Initiative der Gewalt ergreifen.

Daraus folgt, daß ein Generalstreik, mag er im Hinblick auf eine definitive Lösung durchgeführt werden oder für vorübergehende Ziele, mit der Bereitschaft und der entsprechenden Vorbereitung erfolgen muß, die Frage mit Gewalt zu entscheiden.

(Umanita Nova, 7. Juni 1922)

Aus:
Errico Malatesta - Gesammelte Schriften, Band 2; Karin Kramer Verlag Berlin, 1980

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