Erich Mühsam - Partei-Dämmerung (1928)

Die Kommunistische Partei Deutschlands hat in den fast zehn Jahren ihres Bestandes ungefähr soviel Krisen durchgemacht, wie sie Überzeugungswechsel vollzogen hat. Das bedeutet nicht wenig. Man braucht ja nur die zahlreichen Organisationen zu betrachten, die alle aus der KPD  hervorgegangen sind und deren Mitglieder heute als Konterrevolutionäre, Renegaten, Arbeiterfeinde, Agenten Chamberlains, Verbündete der Bourgeoisie, Helfershelfer der Sozialdemokraten, Weißgardisten, Verräter, Lumpen, Spitzel und Idioten bezeichnet wenden, weil sie alle einer der Meinungen treu geblieben sind, die irgendwann einmal Vorschriftsmeinung der KPD waren, weil sie alle an irgendeinem Punkt eine plötzlich kommandierte Links- oder (gewöhnlich) Rechtsschwenkung doch nicht mehr mitmachen wollten.

Von der Kommunistischen Arbeiterpartei mit ihren verschiedenen Nebenrichtungen angefangen über die Unionen, die Industrieverbände, die Katz-, Korsch-, Urbahns-, Maslowgruppen hinweg zu den trotzklstischen, rechten und „versöhnlerischen“ „Abweichungen“, die augenblicklich dran sind, - jede dieser Gruppen vertritt Auffassungen, die zu irgendeiner Zeit offizielle Parteiauffassungen waren und deren unumstößliche Richtigkeit die „Rote Fahne“ zu irgendeiner Zeit alle unter finsteren Bannflüchen gegen jeden Andersmeinenden bewiesen hat. Dann kam immer einmal ein Frühstück Tschitscherins mit Stresemann oder Seekt oder eine Sehnsuchtsanwandlung Litwinows nach der Gletscherlandschaft am Genfer See oder auch eine von Kreditbedürfnissen inspirierte neue kommunistische Theorie Bucharins und schon erfuhr die deutsche Parteizentrale, was seit gestern Nachmittag ewige Wahrheit und die richtige vom toten Lenin bestätigte Revolutionspolitik des deutschen Proletariats sei. Erlaubte sich dann ein Schurke, den Daumen im Munde, die schüchterne Äußerung: Aber entschuldigt, gestern Vormittag war doch noch das Gegenteil richtig, - dann war die Krise fertig. Denn, heißt es bei Paul Scheerbart, Charakter ist nur Eigensinn!

Die Krise, in die sich die KPD jetzt hineinbolschewisiert hat, ist die schwerste, die sie noch erlebt hat und man könnte sie schon als die Agonie ansehen, aus der es kein Aufstehen mehr geben kann, hätte man nicht allmählich die Erfahrung mit den proletarischen Führerorganisationen gemacht, daß sie ihren disziplinierten Nachläufern ohne jede Einschränkung alles, das Schimpflichste und Schmählichste bieten können, wenn sie dabei nur selber unentwegt behaupten, die einzige Arbeiterpartei, die konkurrenzlose Führerin des revolutionären Proletariats, die sauberste und zuverlässigste Hüterin aller Tugenden zu sein. Die Verfolgung der revolutionär gebliebenen Organisationen in Rußland mit Einschluß der scheußlichen Martern, die man ihre Vertreter in den Gefängnissen und sibirischen Eiszonengebieten erdulden läßt, werden, wenn die „Rote Fahne“ sie heute bestreitet, nicht geglaubt - Material beweist nicht, nur Schimpfereien -, wenn sie morgen zugegeben werden, als einzig gebotene revolutionäre Politik von Proletariern gebilligt, die für dieselben Ziele gekämpft und gelitten haben. Die Versorgung der deutschen Reichswehr mit Bürgerkriegs-Munition aus russischen Fabriken wurde vor überführendsten Beweisen abgestritten, nachher, als nichts mehr abzustreiten war, gebilligt. Trotzkis Bild, von 1918-23 mit roten Schleifen verziert, wurde 1924 ins Schubfach gesteckt, 1925 wieder aufgehängt, 1926 mit dem Kopf nach unten gedreht, 1927 zerrissen und 1928 verbrannt. Im nächsten Jahr hängt es vielleicht wieder mit roten Schleifchen am Ehrenplatz; man braucht nur die „Rote Fahne“ nachzulesen wie es gerade zu halten ist.

So ist also zu erwarten, daß die Partei auch weiterhin Führerin des die Revolution erhoffenden Proletariats bleiben wird, wie ihr Fackelträger Thälmann ja auch Führer der Partei und des Roten Frontkämpferbundes geblieben ist. Der Fall ist in der Arbeiterbewegung trotz allem, was sie schon erlebt hat - ein Gipfel. Der höchste Parteifunktionär Hamburgs, Wittorf, unterschlägt Arbeitergeld. Der Vorsitzende der Partei, intimer Freund Wittorfs, erfährt davon im Mai. Er sagt keinen Ton, läßt den Schädling in allen Ämtern, - bis der „Volkswille“, das Organ der linken Rausgeschmissenen - im September Krach schlägt. Wittorf fliegt, drei weitere Hamburger Funktionäre fliegen, Thälmanns Ausschluß wird ernstlich in der Zentralesitzung erwogen, aber mit einer Mehrheit von nur zwei Stimmen zugunsten des Vorschlags eines mit besonders gutem Riecher ausgestatteten Führers abgelehnt, Stalin soll entscheiden; inzwischen kriegt der Vorsitzende der Partei eine öffentliche, scharfe Rüge und wird vorläufig aller Funktionen enthoben. Thälmann kommt als Triumphator von Moskau zurück. Was kein Vereinsvorstand eines Kaninchenzüchterklubs ungestürzt überleben würde, der erste Mann der „einzigen proletarischen Partei“ kommt unbeschädigt darüber weg. Das EKKI in Moskau, das in ihrer derzeitigen Liquidationspolitik  keinen willfährigeren deutschen Filialleiter hat, als Thälmann, verfügt über brave revolutionäre deutsche Arbeiter: dieser Mann ist Euer Führer und bleibt es. Daß er die Betrügereien seines Freundes vertuscht hat, war Sorge um das Wohl des Ganzen, die zwar nicht ganz richtig, aber höchst begreiflich war.

Die zur moralischen Beurteilung des Falles interessanteste Frage wurde weder in den Berliner, noch in den Moskauer Erklärungen überhaupt gestreift: nämlich, wie sich die persönlich Freundschaft zwischen Wittorf und Thälmann in der Zeit vom Mai bis zum September ausgewirkt hat. Hat Teddy noch mit dem Betrüger gekneipt, als er schon wußte, was für ein sauberer Bruder das war? Ja oder nein? Solange um die Beantwortung der Frage herumgeschlichen wird, soll sich niemand wundern, wenn einige Leute, auch bürgerlicher Kreise, den Kopf schütteln. Wo anders als in der KPD hätte allerdings schon der zugegebene „Fehler“ des Oberbonzen genügt, um ihn wenigstens von der sichtbarsten Stelle verschwinden zu lassen. In dieser Partei aber genügt ein Wink von Moskau, um vor revolutionären Arbeitern den Kotgestank der Korruption als edelsten Wohlgeruch gesinnungsfester Erkenntnis auszugeben und nicht die Verursacher der Fäulnis zu entfernen, sondern diejenigen, die zu behaupten wagen: hier stinkt etwas.

Von der Thälmann-Schweinerei ist es ganz still geworden. Dagegen um so lauter von den Gegnern der Thälmannrichtung innerhalb der bekanntlich vollkommen einigen Partei, die allein in ihrer Zentrale selbst in vier Fraktionen gespalten ist. Die Richtung der „Rechten“ Thalheimer-Brandler,  im leitenden Apparat durch Hausen und Walcher vertreten, fliegt, und die Gruppe der „Versöhnler“, von Ewert und Gerhard geleitet, wird ebenfalls schon madig gemacht. Die Stalinisten haben die Knechte, de immer vor der jeweils sommandierenden und zahlenden Obrigkeit kuschen; gezwungen, de- und wehmütig ihren eigenen Beschluß gegen Thälmann zu verurteilen und öffentlich eine Selbstentwürdigung vorzuführen, die, wenn noch nicht den Arbeitern selbst, so doch ihren faschistischen Feinden zum Bewußtsein gebracht hat, was das für eine klägliche Gesellschaft ist, die täglich von sich selber behauptet, nur unter ihrer Führung sei das Proletariat fähig, revolutionär zu denken und zu handeln. Die Sozialdemokratie, völlig gesinnungslos und im Ehrgeiz versumpft, als Scherge des Kapitals proletarische Ansprüche niederzuhalten, macht die besten Geschäfte durch die Ausnutzung der Widerlichkeiten unter den Partei-Kommunisten und es ist wahrlich keine Freude, feststellen zu müssen, daß der Vorwärts, selber von Dreck starrend, beim Aufzeigen des Dreckes bei den Nachbarn zur Linken alle Gründe auf seiner Seite hat.

Thalheimer, Mitbegründer des Spartakusbundes, der Kommunistischen Partei und der dritten Internationale, jetzt also Renegat Parteifeind und Überläufer, hat erklärt, daß in der Partei die ideelle Korruption noch schlimmer sei als die materielle. Er muß es wissen und wir dürfen ihm glauben. Denn - der Verlauf der Thälmann-Begebenheit beweist mit aller Deutlichkeit dieses: daß die materielle Korruption gar nicht Gegenstand etwelcher Entrüstung in der Zentrale gewesen wäre, hätte sie nicht den Vorwand geboten, eine Fraktionsrichtung durch eine andere zu schädigen. Die materielle Korruption der Thälmannfreunde trat in den Dienst der ideellen Korruption der Thälmannfeinde. Die Partei im ganzen aber ist, wie der „Roten Fahne“ in jeder Spalte zu entnehmen ist, mit sich Selbst überaus zufrieden.

Der Ausfall des Volksbegehrens war kein Sieg der Sozialdemokraten, war kein Bekenntnis der Massen zu Panzerkreuzerbauten, sondern war offener Protest der Arbeiter gegen die lächerlichen Stimmzettelmethoden der Kommunisten, ein Protest, der dadurch wirksam werden konnte, daß die neuesten Vorgänge in der KPD dem besten Teil ihrer eigenen Anhängerschaft sogar die Disziplin verschlagen haben. Die Autorität der Führer hat einen schweren Stoß erhalten. Die Partei-Dämmerung hat eingesetzt. Bei den revolutionären Massen ist zum ersten Male die Frage ins Bewußtsein gedrungen, ob denn die proletarischen bürokratischen Führerorganisationen überhaupt noch daseinsberechtigt seien. Der Werbung für unsere dezentralistischen, antibürokratischen, antiautoritären, tatbejahenden und freiheitlichen Auffassungen sind wertvolle Zugänge zum Verständnis im Proletariat geöffnet. Wissen wir sie zu finden, so wird die Partei-Dämmerung überwunden werden von der Morgensonne anarchistischer Erkenntnis.

Aus: Fanal, 3. Jahrgang, Nr. 2, November 1928. Digitalisiert von www.anarchismus.at anhand des Nachdrucks aus dem Impuls Verlag (bearbeitet, Ue zu Ü usw.)


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