Erich Mühsam - Idealistisches Manifest

Wer mit dem Blick auf zeitlose Weiten neue Moral, neue Gerechtigkeit, neue Menschlichkeit zum Inhalt seines Strebens macht, der weiß aus unzähligen Erfahrungen, daß er mißverstanden wird. Es ist fast notwendiges Schicksal seiner Überredungskunst, selbst bei Menschen von Verstand, Kritik und gutem Willen Kopfschütteln und Achselzucken zu erregen. Denn jede Agitation, deren Absicht nicht zeitlich begrenzt ist, steigt unbekümmert und rücksichtslos über praktische Bedenklichkeiten hin. Für bürgerliche — das heißt gegenwartsbesorgte — Naturen ist das Ziel immer der nächste Schritt. Wer aufs Ideal steuert, „schießt über das Ziel hinaus.“ Den Weg zu einem Ziele nicht in jeder Kurve kennen, das Werkzeug zu einem Kampfe nicht auf jede Gefahr erprobt haben, das bewirkt die Zweifel, das Warnen, das Bangemachen und selbst den gewalttätigen Widerstand gegen Tendenzen, gegen deren Ehrlichkeit garnichts eingewandt wird. Aber wer im reinen Gefühl die Wahrheit weiß und in kluger Skepsis von ihr abläßt, den heiße ich einen Lumpen.

Hier ist mein idealer Zweck — da sehe ich das Mittel, ihn zu erfüllen: was kümmert mich die Chamade der Vorsichtigen? Naturwissenschaftler, Volkswirtschaftler, Historiker, Geographen, Politiker und Kaufleute sollen hundertmal recht haben, — mein Gefühl, das seine Wege kennt, können sie nicht widerlegen. Ich will den Völkerfrieden, weil er mich gut dünkt. Ich weiß, er wird sein, wenn die Arbeit der Menschen nicht mehr für den Krieg steuert, wenn die Soldaten sich weigern, ihresgleichen zu töten, wenn der Wille der Völker auf Frieden aus ist Ich will Sozialismus und Anarchie. Ich weiß sie möglich, wenn Arbeit und Verbrauch in gerechten Ausgleich gebracht sind, wenn Ordnung und Friedfertigkeit in den Menschen Leben gewonnen haben, wenn Autorität und Gehorsam, Herrschaft und Knechtschaft aus der Gewohnheit der Völker gewichen sind. Sie werden weichen, wenn allenthalben aus der Sehnsucht nach Freiheit der Wille zur Freiheit geworden ist. Ich will Kultur und Kunst Gemeingut der Völker wissen. Sie werden es sein, wenn der Geschmack der Besten sich Allen mitgeteilt hat, wenn die Ethik der Massen sich zum Anstand geformt hat, wenn aus Zwang und Strafe Rechtlichkeit und Verständigung geworden ist.

Aber für den Frieden sind alle Vorbedingungen nicht erfüllt. Die Völker haben ein natürliches Expansionsbedürfnis und bedrohen die Grenzen der Nachbarn. Gehorsamsverweigerung, Generalstreik, Revolution ziehen entsetzliche Strafen nach sich. Der Gedanke, das Raubtier Mensch werde in Ordnung und Verständigung miteinander auskommen, der Geschmack der rohen Masse könne umgeformt werden, Freiheit werde jemals etwas anderes sein als eine schöne Phrase, ist absurd und kindlich. Schon die Formulierung deiner Ideale ist ein Beweis, wie unabwendbar und naturgewollt alle die Einrichtungen sind, die du bekämpfst. Bitte: ich fordere nicht auf, — ich bekenne. Und ich suche meine Gefühle, die mir Wahrheiten sind, in das Gefühl der Nebenmenschen zu verpflanzen. Verstandeskühle Einwendungen können richtig oder falsch sein, — an der Erkenntnis dessen, was gut und recht ist, prallen sie ab. Das also ist das Wesen der Agitation: auszusprechen, was subjektiv wahr ist, die Energie der andern nach der Richtung zu beeinflußen, die zu erstreben ist. Was die stärkste Energie — Weniger oder der Menge — wollen wird, das wird die Zukunft sein. Unmittelbare praktische Wirkungen gelten nicht allzuviel. Sie sind nur wertvoll als Symptome eines neuen Geistes, der unterirdisch im Werden ist. Der neue Geist aber entsteht heimlich und unbeobachtet, langsam und viel später, als sein Same gestreut ist. Wenn er zuerst in einem Gedanken, einer Tat, einem Kunstwerk oder einer Erkenntnis plötzlich aus dem Boden schießt, dann ist sein Ursprung längst nicht mehr zu entdecken, dann hat er gewirkt, als ob er selbstverständlich und ohne Bausch wäre.

Plötzlich ist eine neue Bewegung da, überraschend, scheinbar aus dem Nichts gestampft. Sie zieht Kreise, wächst, wirkt, aber ihre Herkunft ist verschollen. Aller Fortschritt ist diskreter Geburt, denn er stammt vom heiligen Geist, er stammt aus der Sehnsucht und der Bitternis vergangener Idealisten. Freilich sieht jeder Erfolg des Idealismus anders aus als seine Werbung. Was daraus eingeht in das Leben des Menschen, sind Anpassungen an geltende Verhältnisse, sind nichts weiter als Entwicklungsfaktoren. Gerade darum aber müssen die Forderungen an die Welt so schroff wie möglich gestellt werden, muß stets das denkbar Äußerste verlangt werden, ohne Rücksicht auf die Aussichten der Verwirklichung. Nur die ideale Forderung in ihrem weitesten Umfange schafft Fortschritte im engen Kreise. Die Utopie ist die Vorbedingung jeder Entwicklung.

Die Entwicklung hat mit dem Abrollen der Jahre nichts zu tun, nicht nur, weil uns die Irrealität der Zeit bewußt ist, sondern weil uns die Geschichte der Vergangenheit lehrt, daß die vorgeschrittene Jahreszahl keine Gewähr gibt für höhere Kultur und tieferen Menschenwert. Einsichten und Sitten entstehen und verschwinden mit dem Werden und Vergehen der Generationen. Nie wird die Zeit kommen, die keiner Revolution bedürfte. Dennoch wollen wir unser Weltbild gestalten nach dem Ideal der Vollkommenheit, und das können wir, wenn wir den Blick aufs Künftige, und das ist aufs Ewige, gerichtet halten. Und wir wollen uns freuen, wenn irgendwo aus dem Geschehen der Zeit eine Blüte treibt, in der wir verwandelt und verdünnt den Keim unserer Werbung erkennen.

Wir erleben seit einem halben Jahrhundert eine gewaltige soziale Bewegung. Die werktägige Menschheit, also die Sklaven und Entrechteten, haben sich auf ihren Anspruch besonnen, an den Lebenswerten teilzunehmen. Ja, sie haben begriffen, worauf ihre Versklavung beruht und sie haben erkannt, daß die Ablösung des Kapitalismus Sozialismus heißen muß. Zwar kamen die Advokaten und Politiker, die Geschäftemacher und Demagogen, und bemächtigten sich der Idee der Gerechtigkeit und der Befreiung, indem sie daraus ein Parteiprogramm machten. Zwar kam die Trägheit des Denkens und Handelns wieder über die Massen und der tiefste Fluch des Lebendigen, die Zufriedenheit. Aber ein Funke aus der heiligen Glut der Saint-Simon, Proudhon, Bakunin, Lassalle schwelt noch unter dem Schutt, und wir Lebenden dürfen nicht ruhen, ihn freizumachen und zu neuem hellen Feuer anzublasen. Aus der Schande tausendjähriger Entwürdigung als Kreatur der Männer ist das Weib erwacht.

Es will Mensch sein, die Rechte und die Anerkennung des Menschen haben. Daß die kämpfenden Frauen unserer Tage im Langen nach dem Gute der Freiheit vorbeigreifen und statt Menschenrechte Männerrechte begehren, soll uns nicht verdrießen. Die Not und die Verstocktheit der Zeit hat den Frauen Männerpflichten auferlegt. Vielleicht schafft sich doch ein mal die Einsicht Bahn, daß nun nicht die Assimilation ans andere Geschlecht, sondern die Befreiung von seiner Herrschaft — das ist die Freiheit des Weibes in Liebe und Mutterschaft — das Glück des Frauentums wäre. Sie müssen ihre Ziele weit setzen, die Frauen, die in den Kampf getreten sind. Die Neubildung aller gesellschaftlichen Formen auf dem Boden des Mutterrechts müssen sie verlangen. Wenn sie es dann einmal erreichen, daß kein Weib mehr ein anderes deswegen verachtet, weil es Mutter ist, dann müssen sie die Genugtuung fühlen, daß ihr Werben und Kämpfen nicht umsonst war, wie sie selbst Zeugnis dafür sein sollten, daß die herrlichen Frauen der Romantik nicht umsonst die Vorbilder freier, schöner Weiblichkeit waren.

Seit ganz kurzem aber beobachten wir die ersten Atemzüge einer neuen Bewegung, die vielleicht berufen sein wird, das höchste anarchistische Ideal, die Selbstbestimmung des Menschen, sein stolzes Vertrauen auf die eigene Persönlichkeit zur Sehnsucht der gehorsambeherrsch teil Zeitgenossen zu machen. Zum erstenmale organisiert sich die Jugend gegen Autorität und Zwang, gegen Tradition und Erziehung, gegen Schule und Eltern. Die jungen Leute wollen die Hälse freibekommen von den Umschnürungen der Verbote und des Drills. Sie wollen anerkannt werden als Menschen mit eigner Sehnsucht, mit eignem Leben, die nicht zu danken, sondern zu fordern haben. In schönem Radikalismus streben sie nach den größten Dingen: nach Wahrheit in Empfangen und Geben, nach Freiheit in Leben und Lernen, nach Raum zum Atmen und Werden. Was in der Zeitschrift der Jugend „Der Anfang“ aus jungen Herzen nach Ausdruck drängt, das ist viel ungegorenes und manchmal bizarres Zeug, aber es ist die Sprache der Jugend, es ist das aufgeregte und den Freund der Zukünftigen heiß aufregende Bekennen heiliger, starker revolutionärer Inbrünste. Mögen Lehrer, Pfaffen und Eltern vor Entsetzen bersten, mögen sie sich mit Maulkörben bewaffnen und die Polizei herbeirufen, um das freie Wort im Munde der Jungen zu verstopfen, — es nützt nichts mehr. Der Gedanke ist stärker als das Wort, der Gedanke ist losgelassen, ihn hält nichts mehr auf. Das Problem Väter und Söhne ist gelöst, die Jugend hat es gelöst. Sie schreitet dahin über den Jammer der Alten wie der Frühling über die Dürre des Winters. Die immer und immer bewährten „Erfahrungen“ der Sechzig- und Siebzigjährigen sind um diese bereichert worden: daß die recht haben, die eine ganze Generation jünger sind, also um eine Generation Erfahrungen mehr haben. Der Kampf der Jungen ist angefacht. Er wird zum Siege führen, denn an Nachwuchs wird er nie Mangel haben, und die fröhliche Torheit, die das schöne Vorrecht der Jugend ist, wird allzeit seine gute Waffe sein.

Hier ist ein prächtiges Beispiel, wie idealistische Agitation wirkt, bis der Ursprung verwischt ist und bis plötzlich an einer Stelle, die niemand kannte, in einer Art, die niemand voraussah, ihr Segen aus der Erde quillt. Was haben die Alten nicht getan, um ihre Macht über die Jungen zu konservieren! Sie haben verboten und gestraft, geprügelt und gelogen, sie haben das Geheimnis der Menschwerdung vor den Kindern gehütet, als ob alles Seelenheil in Gefahr wäre, wenn der Junge weiß, wie das Mädel beschaffen ist. Und nun stellt sich die Jugend lachend vor ihnen auf und ruft ihnen ins Gesicht: ihr braucht uns nichts zu erklären, denn wir sind längst so klug wie ihr. Ihr braucht uns nichts zu verbieten, denn wir tun doch, was wir für rocht halten. Ihr braucht uns nichts zu befehlen, denn wir gehorchen euch nicht mehr. Wir Älteren haben das noch nicht gewagt, wie brünstig wir es auch gefühlt haben. Aber nun wollen wir uns ehrlich freuen, daß wir es bei den Jüngeren mit ansehen dürfen, und die nach uns kommen werden, wollen wir in einem Geiste aufwachsen lassen, der die Beherrschung in sich selbst hat und keine Beherrschung von außen mehr duldet. Die Jugend, der Nachwuchs, die kommende Generation hat sich mündig erklärt. Das Alter ist nicht berechtigt, mit seinen überlebten, verknöcherten Prinzipien daran zu rütteln. Bei der Jugend ist alle Zukunft geborgen. Ihr wollen wir unsere Ideale anvertrauen. Haben wir die jungen Leute gewonnen, dann haben wir alles gewonnen: Freiheit und Kultur, Revolution und neue Menscheit. Die Jugend soll uns die Staaten zertrümmern und den Frieden aufbauen, sie soll Sozialismus und Kultur schaffen, sie soll die Erde dem Geiste und dem Menschenglück bewohnbar machen. Wir anderen müssen uns ja wohl begnügen, ihr in Dichtung und Werbung anfeuernd zuzurufen und zu gleichem Tun denen den Mund zu öffnen, in denen die geistigen Güter der Menschheit gespeichert sind.

Noch verträumen die Künstler und Kulturellen ihre Zeit in aesthetischen Zirkeln. Noch haben sie nicht begriffen, daß sie zum Volke gehören, in die Gemeinschaft aller, und daß ihr Werk erst Wert erhält, wenn es Resonnanz findet im Herzen der Mitmenschen. Der Geist der Lebenden gehört an die Spitze und in die Gefolgschaft der rebellischen Jugend. Seien wir Agitatoren, bilden wir eine Jungmannschaft der Welt, auf daß auch unser Wort Keime lege zu neuem Geschehen und neuer Gestaltung! Verstopfen wir unsere Ohren vor den Unkenrufen träger Philister und vor den Rechenexempeln praktischer Nörgler! Rufen wir die Wahrheit unserer Ideale aus, unbekümmert um Erfahrungen und zweifelnde Erwägungen, — und wir werden eine Welt erleben, die auf Schönheit und Gemeinschaft und — fern ab von Gott und Kirche — auf religiöser Inbrunst er richtet ist.

Aus: Kain. Zeitschrift für Menschlichkeit, 4. Jahrgang, Nr. 1/1914. Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ae zu ä, That zu Tat usw.) von www.anarchismus.at.


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