Erich Mühsam - Kindersegen

Erich Mühsam vergötterte in diesem und anderen Texten die “natürliche Mutterschaft der Frau“ - trat gleichzeitig aber für das Recht auf Abtreibung ebenso ein, wie für die Selbstbestimmung von Frauen über den eigenen Körper und das eigene Leben. (Anmwerkung www.anarchismus.at)

Die unleugbare Tatsache, daß viele Arbeiter unserer Tage mit 40 und mehr Mark wöchentlich entlohnt werden, ist den Leuten, deren Kouponschere größer ist als ihr Verstand, Anlaß zu der Behauptung, daß das sogenannte Proletariat ein wahres Wohlleben führe, und daß alles Elend nur noch von gewissenlosen Hetzern in die Massen hineindiskutiert werde. Es ist einigermaßen verdrießlich, daß gerade solche Personen am aufgeregtesten die Not des Volkes bestreiten, die am eigenen Leibe nie kennen gelernt haben, wie Hunger weh tut, solche Personen, die obendrein an einem Vorwand interessiert sind, den Kampf der Arbeiter um verbesserte Existenzbedingungen als „Begehrlichkeit“ zu verdächtigen. In Wahrheit verhält es sich so, daß jede Lohnaufbesserung des produzierenden Arbeiters vom profitierenden Kapitalisten durch erhöhte Belastung der konsumierenden Arbeiter wettgemacht wird, so zwar, daß letzten Endes stets noch ein Gewinn für den Unternehmer herauskommt. Auf diese gar nicht zweifelhafte Erfahrung hat Lassalle sein „ehernes Lohngesetz“ aufgebaut, und von diesem Gesetz leitete Marx (mit Unrecht, da er die Gegenmaßregeln des kapitalistischen Staates als Invaliditäts- und Altersversicherung etc. nicht in Betracht zog) seine Verelendungs- und daraus resultierend seine Katastrophen-Theorie ab.

Trotz der forcierten Fürsorge des Staates für Kranke, Arbeitslose, Witwen und Waisen und trotz der eifrigen Mitwirkung der in der Sozialdemokratie repräsentierten Arbeiterschaft an der Verhinderung des Zusammenbruches, häufen sich die Wirtschaftskrisen in den letzten Jahrzehnten in auffallendem Maße. Die entsetzliche Auspressung des Volkes für die Zwecke der Kriegsrüstung hat allmählich zu Verhältnissen geführt, die radikale Entschlüsse der konservativen oder der revolutionären Elemente im Staate zwingend machen. Der ständig wachsende Prozentsatz der Eigentumsvergehen in der Kriminalstatistik, die erhöhte Kindersterblichkeit, der steigende Verbrauch von Abfall-, Hundeund Katzenfleisch sind deutlich redende Symptome des wirtschaftlichen Niederganges.

Daß das von der deutschen Sozialdemokratie als Allheilmittel gepriesene allgemeine gleiche geheime und direkte Wahlrecht außer belanglosen Reförmchen innerhalb der bestehenden Einrichtungen garnichts nützen kann, beweist das Beispiel der Sozialdemokratie selbst an allen Enden. Einhundertelf (drei Schnäpse her!) würdige Volksmänner haben erst eben, ohne zu mucken, die ungeheuerste Militärvorlage über ihre Köpfe weg annehmen lassen, die je einem Parlament zugemutet worden ist. Kommt in einem halben Jahre eine entsprechende Flottenvorlage, dann werden sie es genau so machen. Fragt man sie aber, was werden soll, dann haben sie keinen anderen Rat, als: wählt rot!

Nun ist neuerdings aus den Reihen der Sozialdemokratie ein Vorschlag laut geworden, der unter Anarchisten längst erörtert, längst in die Praxis umgesetzt und von vielen (darunter von mir) längst verworfen ist: nämlich, unter den Frauen dahin zu wirken, daß die Geburtenziffer systematisch herabgemindert wird. In anarchistischen Kreisen rechnet man den Gebärstreik vielfach zu den Kampfmitteln der direkten Aktion. Man argumentiert dabei so: Der durch die Abnahme der Geburten bewirkte Menschenmangel trifft den Staat an seiner empfindlichsten Stelle, in der Armee, deren Leistungsfähigkeit und Schlagfertigkeit sehr wesentlich auf der automatischen Ersetzung der ausgedienten Soldaten durch jungen Nachwuchs beruht. Er trifft den Staat ferner in seiner Eigenschaft als Konkurrent auf dem Weltmarkt, da durch die Schwierigkeit, produzierende Arbeitskräfte in genügender Zahl zu erhalten, und durch das allmähliche Abschwellen der Konsumtion die Zirkulation der Waren verlangsamt wird. Dem konsumierenden Volk hingegen wird bei nachlassender Menschenvermehrung viel Sorge um Erhaltung und Heranziehung der jungen Generation erspart.

Es mag manchen mit einiger Genugtuung erfüllen, daß die von der Unfehlbarkeit ihrer „Wissenschaftlichkeit“ so heftig durchdrungene Sozialdemokratie bei der Erörterung ernster volkswirtschaftlicher Fragen sich wieder einmal in die Rüstkammer der Anarchisten bemüht. Das Prinzip der gewerkschaftlichen Koalitionen hat sie den anarchistischen Bewegungen entlehnt und praktiziert es in der Verwässerung ihrer zentralistischen Organisationen. Gegen Produktivgenossenschaften und Konsumvereine, die den Anarchisten von Anfang an als wichtigste Waffen für sozialistisches Leben galten, hat sich die Sozialdemokratie jahrzehntelang mit Händen und Füßen gewehrt, bis sie die gegen ihren Willen aufblühenden anarchistischen Einrichtungen übernahm und durch geistlose Schematisierung um den revolutionären Sinn brachte. Das syndikalistische Obstruktionsmittel des Generalstreiks, das bisher als undiskutabel verworfen wurde, findet neuerdings in der entfetteten Form des politischen Massenstreiks unter den Sozialdemokraten immer mehr Anhänger, und nun beginnt man also auch, das unter den Anarchisten schon überlebte Verfahren der organisierten Geburtenverhütung zu einer sozialdemokratischen Erfindung zu machen.

Vorerst sträuben sich die Parteiführer und ihre Preßorgane gegen den von sozialdemokratischen Ärzten empfohlenen Weg der Selbsthilfe. Dieses Sträuben will aber bei dem konservativen Geist, der in der Partei vorherrscht, wenig besagen. Wie in allen erwähnten Fällen werden auch hier die liberaleren Elemente schließlich recht behalten. Deshalb scheint es notwendig, die Maßregel der Konzeptionsverhinderung als Massenkampfmittel rechtzeitig zu kritisieren.

Der Einwand, der von Rednern und Redakteuren bisher geltend gemacht wurde, ist nichtssagend und albern: Die sozialdemokratische Partei brauche Kämpfer, der künstliche Druck auf die Geburtenziffer bedeute also eine Schwächung der Partei und somit eine Verzögerung des köstlichen „naturnotwendigen Hineinwachsens“ in den „Zukunftsstaat“. Käme es auf die Anzahl streitbarer Unterdrückter an, um der Minderheit derer Herr zu werden, die im Besitz der Produktionsmittel sind, dann wäre es für die Viermillionenpartei wohl längst an der Zeit gewesen, „hineinzuwachsen“. Das Problem liegt denn doch tiefer, und die Ablehnung des Vorschlages verlangt ernsthaftere Gründe.

Mein Widerstand fußt zuvörderst auf ethischen Erwägungen. Mutterschaft ist das ursprünglichste Recht des Weibes. Es darf keinen Zweck geben, der von den Frauen einen Verzicht auf dieses Recht beansprucht. So wahr es ist, daß der Zweck die Mittel heiligt, so wahr ist es erst recht, daß jeder Zweck verwerflich ist, der nur mit schlechten Mitteln erreicht werden kann. Es ist traurig genug, daß unsere im tiefsten Grunde verdorbenen Gesellschaftszustände in zahllosen Frauen längst den Wunsch nach Kindersegen erstickt haben. Die Abneigung, die besonders in den sogenannten „besseren“ Ständen, vor allem aber unter Künstlerinnen, in der Boheme und unter ledigen Frauen gegen die Empfängnis vorherrscht, ist bei der verrückten Moral, die von Staat und Kirche gezüchtet wird, gewiß begreiflich, beweist aber doch eine höchst bedenkliche Abirrung von den Wegen der natürlichen Gesittung. Es ist natürlich wahr, daß sich in dieser abscheulichen Zeit Millionen Frauen und Mädchen die Mutterschaft selbst verbieten müssen, weil sie die Verantwortung nicht übernehmen können, ihre Kinder dem Hunger oder der Moral der Frommen auszusetzen. Dieser Not wird aber nicht gesteuert, indem man aus ihr eine Forderung macht. Das nenne ich Vogelstraußpolitik, wenn man den Schäden des öffentlichen Lebens das Objekt ihrer Wirkungen entzieht. Damit bekämpft man die Schäden nicht, man flieht sie nur. Die methodische Durchführung des Gebärstreiks wäre das denkbar beschämendste Eingeständnis der Hilflosigkeit gegen die Seuche des Kapitalismus und in der Wirkung auf Generationen hinaus der Verzicht auf alle kämpferische Auflehnung.

Außer solchen sittlichen sprechen aber auch Momente weitsichtiger Volksökonomie gegen die künstliche Dezimierung des Menschennachwuchses. Es ist wirklich erstaunlich, daß die hundertfachen Widerlegungen der Malthus'schen Lehre, wonach die Erde außerstande sein soll, alle enschen zu ernähren, nicht ausgereicht haben, um diesen Aberglauben wenigstens unter Revolutionären endgiltig totzuschlagen. Wir wissen heutzutage, daß nur die in die Hände weniger Volksaussauger gelegte Möglichkeit, die Mehrzahl der Menschen von der Benutzung des Bodens auszuschließen, die Ursache aller Not und aller Ungerechtigkeit ist. Wir wissen, daß jedes Land bei geeigneter Bewirtschaftung in der Lage ist, seine Bewohner selbst mit allen notwendigen Lebensmitteln zu versehen. Und wir wissen, daß die Bewirtschaftung des Bodens überall um so intensiver betrieben werden kann, je mehr Menschenkräfte sich an der Produktion der notwendigen Waren beteiligen. Es kommt auf das Freimachen möglichst vieler Arbeitskräfte für die Beschaffung des dringlichen Konsums an, um der Volksgemeinschaft ein Zusammenleben zu bereiten, in dem jeder sein reichliches Auskommen und reichliche Zeit für geistige Ausbildung und persönlichen Genuß findet. Diese Kräfte müssen freigemacht werden aus den Lagern des Militarismus, der Justiz, des Beamtentums, der kapitalistischen Faulenzerei und aus allen Industrieen und Gewerben, die im Dienst dieser Überflüssigkeiten arbeiten. Aber die Befreiungsarbeit ist Zukunftsarbeit, und die stärksten Kräfte, die ihr dienen sollen, sind die, die der Schoß unserer Frauen noch gebären muß. Darum ist es die Aufgabe der Gegenwart und der Zukunft, statt die Vermehrung der Menschheit zu verhindern, vielmehr darauf zu halten, daß wir ein körperlich und seelisch gesundes Frauengeschlecht haben, das imstande und willens ist, viele, gesunde, starke und denkende Menschen zur Welt zu bringen.

Selbstverständlich will ich mit meiner prinzipiellen Befürwortung der Geburtenförderung nicht etwa einer Pflicht der Frauen, Kinder zu gebären, das Wort reden. Ich wehre mich nur dagegen, daß dem weiblichen Teil der Menschheit aus mißverstandener Volksfreundlichkeit die Freude an der Mutterschaft vergällt werde. Dabei darf das freie Entscheidungsrecht der Mutter unter keinen Umständen angetastet werden. Die entsetzliche Tatsache, daß unzählige Kinder von unterernährten Frauen getragen und geboren werden, ungenügend ernährt aufwachsen, im unentwickelten Alter fürs Brot arbeiten müssen, um schließlich dahin zu gelangen, selbst wieder Menschen in die Welt zu setzen, die schon im Mutterleibe ans Hungern gewöhnt werden, — diese grauenhafte Tatsache sollte jede Frau ernsthaft bedenken, ehe sie einem Kinde das Leben gibt, das vielleicht schon im Säuglingsalter zum Hungertode verurteilt ist. So eifrig in jeder gesunden Frau der Wunsch, Mutter zu werden, geweckt werden sollte, so dringend muß doch darauf gesehen werden, daß kein Kind gegen den Wunsch der Mutter geboren werde. Der Mutter wegen nicht, weil eine widerwillige Schwangerschaft mit schrecklichen seelischen Kämpfen und Ängsten verbunden ist, die das ganze Leben eines Weibes vergiften können, vor allem aber des Kindes wegen nicht. Es gibt keine größere Sünde, als ein Kind fühlen zu lassen, daß es unwillkommen ist. Wo aber keine ehrliche Mutterfreude es umgibt, wird der feine Instinkt eines jeden Kindes den Mangel empfinden. Auch die sich häufenden Fälle scheußlicher Kindermißhandlungen und Kindesmorde reden eine deutliche Sprache.

Es ist eine kaum ausdenkbare Vorstellung, daß eine gewaltige Zahl von Menschen unter uns lebt, die ihr Dasein einer unüberlegten Laune verdanken, deren Mütter vor Angst und Grauen fast verzweifelt sind und die verflucht waren, ehe sie das Licht gesehen hatten. Könnte man eine Statistik anlegen über Zeugungen im Alkoholrausch, es würden erschreckende Zahlen offenbar werden. Es bedarf keiner Begründung, daß die Verhütung der Geburt solcher im Zeugungsbett gezeichneter Menschen für sie selbst, für ihre Mütter und für die gesamte Menschheit, die mit ihnen in höchst schädlicher Weise belastet wird, in jeder Weise erleichtert werden muß. Der billige Rat, die Frauen mögen sich eben vorsehen, ist ebenso dumm wie frivol. Denn ein absolut zuverlässiges Vorbeugungsmittel ist bis jetzt noch nicht erfunden, und die Manipulationen beim Geschlechtsverkehr, die während des Aktes vorsichtige Erwägungen bedingen, sind für mein Gefühl so häßlich, daß sie zum mindesten von Unbeteiligten nicht empfohlen werden sollten. Man soll aber auch nicht vergessen, daß der Liebesrausch plötzlich entsteht und, wo es sich nicht um ordnungsliebende Ehepaare handelt, ohne nüchterne Überlegungen zur Vereinigung drängt.

„Ein Seitenblick — des Bettes Planke kracht, — Das Weib stöhnt auf — da ist ein Kind gemacht“, heißt es in einem Wedekind'schen Gedicht. Für Menschen, deren Sittlichkeitsgefühl noch nicht von Heinzemännchen in Paragraphen zerhackt ist, liegt gerade in dieser elementaren Kraft der Sinnlichkeit die Schönheit und die religiöse Weihe der Geschlechtsliebe.

Vom Staat und seinen Betreuern kann das gemütvolle Verständnis für die Poesie lendenstarker Leidenschaftlichkeit nicht wohl verlangt werden. Aber seiner scheinheiligen Praxis in der Unterscheidung zwischen Moral und Staatszweckmäßigkeit soll die gebührende Kennzeichnung nicht vorenthalten bleiben. Das nicht ordnungsmäßig im Ehebett gezeugte Kind gilt in der allgemeinen und vom Staat protegierten Auffassung als minderen Wertes. Seine Mutter ist eine „Gefallene“, ist nicht „unbescholten“, und der „Bastard“ hat sein Leben lang durch die Moral der lieben Nächsten, die mit Amtsstempel und Kirchensiegel zur Welt gekommen sind, Spießruten zu laufen. Andererseits braucht aber der Staat Menschen und nimmt sie, wo sie ihm geboten werden. Für den Militärdienst sind ihm die illegitimen Kinder ebenso lieb wie die legitimen, und er wacht strenge darüber, daß seine Bataillone um keinen Rekruten betrogen werden.

Der § 218 des Strafgesetzbuches lautet: „Eine Schwangere, welche ihre Frucht vorsätzlich abtreibt oder im Mutterleibe tötet, wird mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren bestraft. Sind mildernde Umstände vorhanden, so tritt Gefängnisstrafe nicht unter sechs Monaten ein. Dieselben Strafvorschriften finden auf denjenigen Anwendung, welcher mit Einwilligung der Schwangeren die Mittel zu der Abtreibung oder Tötung bei ihr angewendet oder ihr beigebracht hat.“ Hebammen oder sonstige Personen, die der Schwangeren gegen Entgelt Abtreibungsmittel verschaffen oder ihr beibringen, werden mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren bedroht. (§ 219).

Der Staat zwingt also seine weiblichen Angehörigen, die Leibesfrucht auszutragen, auch wenn die Schwangerschaft nicht gewollt war. Die Frauen werden von der Moral unserer Tage als Menschen zweiten Ranges bewertet. Sie müssen es sich gefallen lassen, daß sie durchaus nur als Objekt der Gesetzgebung behandelt werden. Männer schreiben ihnen ihr Verhalten vor, dekretieren ihnen ihre Kinder weg, nehmen ihnen die Entscheidung über das Schicksal ihrer Kinder aus der Hand, verfehmen sie, wenn sie ohne Staatsausweis (Eheschein oder Kontrollkarte) ihren Trieben folgen, verordnen, ohne sie zu fragen, Gesetze über die Behandlung der Säuglinge (Saugflaschengesetz etc.) und lassen ihnen bei alledem nicht einmal das Recht, mit dem eigenen Körper anzufangen, was ihnen beliebt. Sie müssen gebären, auch wenn sie keine Möglichkeit wissen, dem Kinde zu essen zu geben, auch wenn der Verlust ihrer Existenz droht, selbst auch, wenn sie nach der Schwängerung erfahren, daß der Vater ihrer Leibesfrucht syphilitisch ist. Der Staat verlangt, daß sie gebären — mögen sie selbst, mag das Kind noch so unglücklich dadurch werden. Der Staat braucht Soldaten — und die Frauen haben sie zu liefern, auch wenn der Staat selbst dafür sorgt, daß sie für ihr gemeinnütziges Werk geächtet werden.

Man verteidigt den § 218 mit dem Gefühlsmoment, daß die Abtreibung einer Art Mord gleichkomme. Das ist nach der eigenen Auffassung des Staates nicht der Fall. Denn das Bürgerliche Gesetzbuch erkennt das Recht der juristischen Person erst mit der Vollendung der Geburt an. Tatsächlich ist die Beseitigung der Frucht nichts anderes, als eine Verletzung des eigenen Körpers, die nach allgemeinem Rechtsbrauch straffrei ist. Wer ohne Brille zu sehen versteht, der durchschaut, daß für den Paragraphen durchaus keine moralischen, sondern nur ökonomische Gesichtspunkte maßgebend sind.

Aber abgesehen von allen Gründen der Gerechtigkeit und Menschlichkeit verlangen auch sehr ernste Bedenken hygienischer Art die Aufhebung der gräßlichen Bestimmungen. Es braucht hier nicht erst erzählt zu werden, sondern jeder erwachsene Mensch weiß, daß — trotz der furchtbaren Strafdrohung — in Deutschland ebensoviel abgetrieben wird, wie in Frankreich, wo das Staatswohl offenbar keinen Schaden daran nimmt, — denn dort ist die Abtreibung erlaubt. Zahllose Personen nehmen es trotz der fürchterlichen Warnung des § 219 auf sich, teils aus Eigennutz, teils aus Nächstenliebe, unglückliche Frauen und Mädchen von der Angst ihrer Schwangerschaft zu befreien. Natürlich geschieht das nicht unter Wahrung aller hygienisch notwendigen Vorsicht und Sachkenntnis. Die von selbst gebotene Heimlichkeit der Operation und die Angst vor Entdeckung verursacht oft genug ein Außerachtlassen der primitivsten Reinlichkeit, — und alle Augenblicke liest man, daß eine Hebamme verhaftet wurde, da ihre Klientin infolge mangelnder Vorsorglichkeit bei der Entfernung der Frucht ums Leben kam. Noch gefährlicher und dabei noch häufiger ist die Selbsthilfe der Schwangeren. Mit allen möglichen ungeeigneten Instrumenten geht sich so ein armes Geschöpf zu Leibe, und die Folge ist allzuoft dauernder Schaden an der Gesundheit.

Gäbe man es in die Hand erprobter Ärzte, die an sich ja ganz unbeträchtliche Operation vorzunehmen, — die Gesundheit und das Lebensglück zahlloser junger Personen, die vielleicht sehr wohl imstande sind, unter günstigeren Bedingungen die gesunden Mütter gesunder Kinder zu werden, wäre nicht aufs Spiel gesetzt. Die Angst der Heimlichkeit, auf die heute zahllose Fälle von Körper- und Gemütskrankheiten zurückzuführen sind, und die Möglichkeit der Entdeckung mit der schrecklichen Folge des Zuchthauses und der häufigeren des Selbstmordes — wäre ersetzt durch eine völlig ordnungsmäßige Krankheitsbehandlung, bei der die Todesfolge auf ein Minimum von Fällen beschränkt wäre.

Die Paragraphen 218 und 219 sind vielleicht die grausamsten und neben dem § 166 (Gotteslästerung), 184 (Verbreitung unzüchtiger Schriften) und 175 (Päderastie) sicher die sinnlosesten des ganzen deutschen Strafgesetzbuchs, — und das will etwas heißen. Es ist Pflicht aller, die ein Herz im Leibe haben, diese Paragraphen mit allen Mitteln zu bekämpfen. Auf den Kampf gegen derlei absurde, entsetzliche und obendrein verlogene Gewaltsamkeiten, wie die Entziehung des Verfügungsrechtes der Frauen über den eigenen Leib, sollten sich auch die Neu-Malthusianer beschränken, wenn ihnen am Wohl der Frauen und ihrer Kinder gelegen ist.

Die Gesundung des Volkes kann nur ausgehen von der Freiheit der Persönlichkeit. Von dieser Freiheit haben bis jetzt die Frauen am wenigsten erfahren. Ihr Kampf, der zugleich ein Kampf um die Freiheit der Kinder ist, muß unterstützt werden, damit sie nicht mehr gezwungen werden können, gegen den eigenen Willen Mutter zu werden, und damit sie zu ihrem besten Rechte kommen, nach freiem Ermessen Kinder zu gebären, sobald ihre gute mütterliche Natur danach verlangt.

Aus: Kain. Zeitschrift für Menschlichkeit, 3. Jahrgang, Nr. 6/1913. Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ae zu ä, That zu Tat usw.) von www.anarchismus.at.


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