Erich Mühsam - Verbrecher und Gesellschaft

Die tiefe Verwahrlosung der Kultur unserer Zeit prägt sich am eindringlichsten in den Mitteln aus, mit denen die staatliche Gesellschaft ihre Einrichtungen nach innen und nach aussen schützt. Der Staat kennt in der Durchführung seiner Absichten keine andere Hilfe als die Gewalt. Zum Schutze beziehungsweise zur Erweiterung seiner geographischen Grenzen organisiert er stündlich schlagbereite, mit allen erdenklichen Mordwaffen ausgerüstete Riesenheere. Diese Heere rekrutieren sich aus Männern des Volkes, die gegen ihren eigenen Vorteil mit Gewalt zum Militärdienst gezwungen werden. Heer und Flotte wird durch gewaltsam eingetriebene Steuern alimentiert, und Gewalt zwingt die Menschen, sich den Gesetzen des Staates zu fügen, die keine andere Bedeutung haben, als der öffentlichen Gewalt das Ansehen eines geweihten Rechtsgutes zu geben und sie gegenüber der privaten Gewalt zu privilegieren und zu monopolisieren.

Um die Befolgung der Gesetze zu erzwingen, durch die die Beziehungen der einzelnen Menschen unter einander schematisch geregelt werden, reicht alle Gewalt der Erde natürlich nicht aus. Ein Verstoss gegen die paragraphierte Ordnung der Dinge treibt die staatliche Gewalt immer erst nachträglich auf die Beine. Aber sie bleibt deshalb nicht untätig. Wo sie nicht mehr zwingen oder verhindern kann, straft sie.

Darüber, dass die Strafjustiz nicht den mindesten Schutz gegen unsoziale Handlungen bietet ist sich die moderne Rechtsgelehrsamkeit völlig einig. Das Prinzip der Rache der Gesamtheit gegen den Einzelnen wird von allen Ethikern übereinstimmend verworfen. Die Bestrafung sogenannter Verbrecher hat demnach schon lange nur den Sinn, die Hilflosigkeit des Staates gegen Missachtung seiner Gesetze durch die verspätete Demonstrierung seiner Gewaltmittel zu bemänteln. Dabei ist der Staat so erpicht darauf, zu strafen, dass ihm für die Ermittlung von straffälligen Personen, auch wenn von ihrer Ergreifung niemand mehr Nutzen haben kann, keine Zeit, keine Kosten und keine Anstrengung zu gross ist.

Eine ganze Wissenschaft beschäftigt sich mit der Auffindung unzuverlässiger Zeitgenossen, die gesamte Technik wird, soweit sie nicht schon für militärische Zwecke usurpiert ist, in Polizeidienste gestellt, Hunde werden auf Menschen gehetzt, und lieber setzt man erst ein Dutzend Unbeteiligter ins Untersuchungsgefängnis, als dass man darauf verzichtete, einen Schuldigen auf Kosten der Steuerzahler in Staatsgewahrsam zu nehmen.

Leider erweist sich jedoch jede kriminalistische Statistik als traurige Blamage für den Prozesseifer der Staatsanwälte. Die Verbrechen nehmen nicht ab sondern zu, und da es in diesen Zeitläuften aufs heftigste verpönt ist, hinter den Symptomen einer Erscheinung die Erscheinung selbst zu suchen, als welche sich eine im Kapitalismus begründete sinnlose Gesellschaftsgebarung und dadurch geförderte soziale Nöte und sittliche Lockerungen ergeben müssten, hecken staatsfromme Bürger immer neue und immer radikalere Mittel aus, mit denen man — nicht den Verbrechen und ihren Ursachen, sondern den Verbrechern zu Leibe gehen solle.

Die „Frankfurter Zeitung“ brachte in ihrem ersten Morgenblatt vom 3. August dieses Jahres (Nr. 213) einen Artikel von A. J. Storfer (Zürich), der überschrieben war: „Kastration und Sterilisation von kriminellen Geisteskranken in der Schweiz.“ In dieser Abhandlung wird unverblümt der Vorschlag gemacht und begründet, man solle verbrecherisch veranlagte Personen durch Vernichtung ihrer sexuellen Potenz für sich und ihre Nachkommen von den Freuden des irdischen Daseins ausschliessen. Gleichzeitig erfahren wir, dass dieses Verfahren in einer ganzen Reihe von amerikanischen Staaten längst eingeführt ist, und dass man es seit einiger Zeit auch schon in mehreren Anstalten der Schweiz angewandt hat. Herr Storfer eifert nun dafür, dass man der Frage auch in Deutschland näher treten möge und ermuntert besonders die Juristen, dem Gegenstand, der bisher nur zur Kompetenz der Ärzte gehörte, erhöhte Aufmerksamkeit zuzuwenden. Die Redaktion der „Frankfurter Zeitung“ schliesst sich in einer Schlussbemerkung dieser Anregung freundlich an.

Die grauenvolle Tatsache, dass es bereits Länder gibt, in denen die Gesetzgeber die Scheusslichkeit einer körperlichen Verstümmelung in die Folterkammer ihrer staatlichen Gewaltmittel eingestellt haben, könnte als charakteristischer Rückfall unseres Jahrhunderts in die Zeit der Hexenprozesse hingenommen werden, und die betreffenden Staaten könnte man getrost der Verachtung der ganzen kultivierten Welt überlassen, träte uns die Mitteilung bloss als widerwärtiges Kuriosum entgegen. Wir erfahren aber die ekelhafte Infamie in der Form einer Propaganda zur Nacheiferung. Wir erfahren, dass die Domänen dieser neuen Justizschweinerei demokratische Republiken sind, die sich auf ihre freiheitliche Zivilisation besonders viel zu gute tun, und wir erleben, dass der erste Posaunenstoss für die Einführung der Entsetzlichkeit bei uns nicht von der abgewirtschafteten Kaste feudalistischer Kraftmeier ausgeht, sondern von einem Blatt, das — manchmal mit Recht — als das kulturell führende unter den Tageszeitungen gut. Es ist deshalb nötig, dem verruchten Plan polemisch entgegenzutreten, ehe das natürliche Begreifen seiner Verruchtheit durch eine liberal-demokratische Suggestion, er sei ein Triumph der Entwicklung, betäubt wird.

Natürlich wird die Humanität auch von den kastrierwütigen Staatsrettern bemüht. Sie wollen nämlich nicht etwa kastrieren und ihre Delinquenten zu äusserlich kenntlichen Eunuchen machen, sondern bloss „sterilisieren“, was als „dauernde Durchtrennung der die Fortpflanzungszellen von den Geschlechtsdrüsen nach aussen leitenden Kanäle“ definiert wird. Diese Operation, heisst es empfehlend, kann innerhalb drei Minuten ausgeführt werden und „der Operierte kann sofort zu seiner Arbeit zurückkehren“. Herr Storfer berichtet: „Im Jahre 1907 nahm Indiana, der Heimatstaat von Dr. Sharp (dem Erfinder der Sterilisation) ein Gesetz an, demnach jede staatliche Anstalt für Verbrecher und Schwachsinnige zwei Chirurgen zugeteilt bekommt. Wenn nach dem Urteil der kompetenten Organe die Fortpflanzung irgend eines Insassen nicht wünschenswert und eine Besserung seines Zustandes durchaus unwahrscheinlich ist, wird die Sterilisation vorgenommen.“ Welchen Eifer die „kompetenten Organe“ von Anfang an entwickelten, ergibt sich aus der in befriedigtem Sperrdruck verkündeten Feststellung, dass in den ersten vier Jahren nach Annahme des Gesetzes nahezu 900 Männer, hauptsächlich Verbrecher, sterilisiert wurden.

Die grosse Zahl derer, deren Fortpflanzung „nicht wünschenswert“ erscheint, erklärt sich leicht, wenn man die Aufzählung der Einzelfälle beachtet, die in unserem trauten Nachbarlande, der freien Schweiz, praktiziert wurden. Ich will von den Kindesmörderinnen absehen, von denen da die Rede ist. Denn ich gebe den Herren Kastratoren zu, dass eine Frau, die keine Kinder kriegen kann, ihre Kinder auch nicht morden wird, wenngleich mein Widerwille gegen den gewaltsamen Eingriff in den Körper dieser Frauen durch fremde Personen nicht geringer ist als gegen die Gewalttat, die sich die Mütter selbst zuschulden kommen liessen. Ich sehe die beiden Verbrechen nur in der Nuance unterschieden. — Da wird aber auch von der „Kastration eines moralisch defekten Dienstmädchens“, gesprochen, bei der „nicht nur die Fortpflanzung verhütet, sondern auch der sexuelle Faktor, der für ihre Lügenhaftigkeit und ihre Diebstähle offenbar mitbestimmend war, bis zu einem gewissen Masse ausgeschaltet werden“ sollte. Erzählt also ein Mädel seiner Dienstherrschaft, es müsse seine Tante beerdigen helfen, während es in Wahrheit zum Schatz will, so kastriert man es. — Einer geschiedenen Bankbeamtensgattin wurde die „suggestionskräftige Lügenhaftigkeit“ wegsterilisiert, und ein fünfzehnjähriges Schulmädchen wurde entweibt, weil es sich schon seit Jahren sexuell betätigte und dabei der verführende Teil war. Die Tatsache früher starker Sinnlichkeit genügt also diesen Weltverbesserern schon zu einem Eingriff in die persönlichsten Rechte von Menschen und zur dauernden Unterbindung sinnlicher Regungen. Ich habe für das Verfahren kein anderes Wort als: viehisch!

Als wissenschaftliche Basis, auf der sich die neue Kriminal-Theorie aufbaut, muss Lombrosos Vererbungslehre herhalten. Die „erschreckende Häufigkeit, mit der sich Defekte vererben“, wird als ein naturgesetzliches Axiom behandelt und auf solche vage Theorieen stützt sich dann — wie man sieht, mit Erfolg — die Forderung, die unzählige Menschen von dem einzig Versöhnlichen ausschliessen will, das das Leben ihnen bieten kann. Es wird das Beispiel eines amerikanischen Verbrechers angeführt, von dem man 1200 Nachkommen in 75 Jahren nach weisen konnte. Darunter waren 310 Gewohnheitsbettler, die zusammen 2300 Jahre in Armenhäusern verpflegt wurden, 50 Prostituierte, 7 Mörder, 60 Gewohnheitsdiebe und 130 andere Verbrecher. „Die Kosten“, heisst es weiter, „die die Nachkommenschaft dieses einen Menschen der Öffentlichkeit verursacht hat, belaufen sich auf Millionen“. Aha, die Kosten. Wenn gar kein Argument ziehen sollte, der Hinweis auf den Geldbeutel wird gewiss die Einsicht dafür kräftigen, dass unbequeme Nebenmenschen verschnitten werden müssen.

Nun klingen ja die angeführten Zahlen sehr schrecklich. Ich möchte jedoch dieselbe Statistik zur Unterlage folgender Betrachtung machen: Ein Verbrecher, ein Ausgestossener also und Gemiedener, wird Stammvater von 1200 Personen binnen 75 Jahren. Alle diese 1200 Menschen sind unterernährt aufgewachsen, sind infolge ihrer Herkunft sozial degradiert, sind nie erzogen und nie gebildet worden. Dass von diesen von Hause aus zum Hungern Verurteilten 25,8 Prozent betteln, wird niemand überraschen. Dass von den Frauen (die ich auf 600 annehmen will) 10 Prozent durch die Vermietung ihres Leibes ihren Unterhalt erwerben, scheint mir überraschend wenig. Wenn unter den Personen, die Eigentum nie besessen haben und die sich zeitlebens wie Hunde behandeln lassen mussten, denen alles Menschliche im staatlichen Ordnungsbetriebe gewaltsam aus der Seele gerissen wurde, 5 Prozent die Unterscheidung zwischen Mein und Dein und 0,58 Prozent den Respekt vor dem Leben anderer Leute eingebüsst haben, so kann ich auch dabei nichts Aufregendes finden, als die Tatsache selbst, dass die verfluchten Gesellschaftsverhältnisse der Gegenwart imstande sind, unzählige Menschen im embryonalen und Säuglingszustand schon und dann das ganze Leben hindurch an aller Entwicklung zu verhindern. Was die 130 „andern Verbrecher“ für Spezialscheusäler sind, wird in der Statistik nicht verraten. Rechnen wir sie zu den übrigen, so ergibt sich, dass von den Nachkommen des Verbrechers mehr als die Hälfte trotz der ungünstigsten Bedingungen ihrer Existenz einen Wandel führten, an dem nicht einmal die statistischen Schnüffler, die sich mit dieser Familie ausgiebig beschäftigten, etwas für ihr kriminalistisches Material Verwendbares zu finden wussten. Das Beispiel ist also zur Begründung der Kastration als sozialhygienisches Prohibitivmittel unbrauchbar und liefert nur Material für die ungeheuerlichen Zustände des kapitalistischen Gesellschaftsgefüges.

Man hat schon aus den angeführten Beispielen gesehen, wie weit der Begriff „Verbrechen“ gedehnt werden kann und wie schon die ärztlichen Vorkämpfer der Idee Prostitution, hervorragende Sinnlichkeit, Lügenhaftigkeit und ähnliche Dinge als Eigenschaften beanspruchen, die die Verstümmelung der betreffenden Personen rechtfertigen. Wohin es führen wird, wenn die erstrebte „gesetzliche Grundlage“ für die Verschneidung Tatsache wird, ist unberechenbar. Zweifelt irgend ein Mensch, dass man sehr bald dahin gelangen wird, unbequeme Ansichten als vererbbare Eigenschaften imbeziller Naturen zu betrachten und zu behandeln? Sozialisten, Anarchisten, Atheisten, erotische Schriftsteller und Maler, Ehebrecherinnen und Kurtisanen, Majestätsbeleidiger, Trinker und Spieler sind bedroht, ohne Rücksicht darauf, ob sie für die Kultur der Menschheit dauernde Werte schaffen oder nicht. Von Homosexuellen gar nicht zu reden. Kennt doch schon der Bericht über die in der Schweiz bereits ausgeführten Operationen „die Kastration zweier Männer, deren Leben von einem pathologisch übermächtigen Sexualtrieb in einer sowohl für die Gesellschaft als für sie selbst äusserst ungünstigen Weise beherrscht war.“

Heutzutage wird man für Zeit eingesperrt, späterhin wird man für die Dauer des Lebens unglücklich gemacht werden. Wir, die wir das eine wie das andere als menschenunwürdig und dumm obendrein ablehnen, werden fortwährend gefragt: wie soll sich denn nun die Gesellschaft gegen unsoziale Elemente schützen? Die Antwort ist seht einfach: indem sie menschliche soziale Einrichtungen schafft. Dass es ungeheures Elend gibt, und dass solches Elend ewig Verbrechen zeugt, sieht jeder, der Augen hat. Deshalb ist die Propaganda für den Sozialismus auch etwas sehr andres, als der erklügelte Sport weltfremder Schiwärmer. Aufklärung ist nötig über die Ursachen der sozialen Verrottung. Fast sämtliche Verbrechen, die begangen wurden, geschehen aus dem Antriebe der Not. Die Strafgesetze, nach denen wir uns richten müssen, schützen zum überwiegenden Teil den Besitzenden gegen die Gelüste des Armen. Freilich gibt es auch Vergehen gegen die Rechte des Nebenmenschen, die von andern Trieben als denen der Selbsterhaltung bestimmt werden. Ich glaube aber, dass in solchen Fällen eine Luft- oder Diätveränderung allemal mehr Nutzen stiften wird als eine verbitternde Internierung hinter vergitterten Fenstern. Vor allem sollten sich die Massnahmen, die die Gesellschaft zu ihrem Schutze ergreift, niemals entfernen von den Eingebungen der Menschlichkeit. Verständigung führt weiter als Gewalt. Als ich es seinerzeit unternommen hatte, die sogenannten Verbrecher, den „Auswurf“ und die „Hefe“, die Lumpen und Vagabunden in ihren Kaschemmen aufzusuchen und von Mensch zu Mensch mit ihnen über ihre Not und deren Ursachen zu sprechen, da fiel alles höhnend und schimpfend über mich und meine Kameraden her. Ich glaube aber immer noch, dass unser Verfahren zu besserem Ziele führen muss als Zuchthaus, Arbeitshaus und Gefängnis, zu besserem Ziele auch als „die dauernde Durchtrennung der die Fortpflanzungszellen von den Geschlechtsdrüsen nach aussen leitenden Kanäle“.  

Aus: Kain. Zeitschrift für Menschlichkeit, 2. Jahrgang, Nr. 6/1912. Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ae zu ä, That zu Tat usw.) von www.anarchismus.at.


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