Erich Mühsam - Patrioten
Das Vaterland, als Ding an sich betrachtet, ist gewiß eine schöne Sache. Nur wissen wir von seines Wesens Besonderheit nicht vielmehr, als was uns der Barde E. M. Arndt in seinem Trutzliede versichert: Es muß größer sein. Der beliebte Dichter spricht dabei zwar nur vom deutschen Vaterland, und die patriotische Lyrik unseres Erbfeindes ist mir nicht geläufig, — aber es ist wohl bestimmt zu hoffen, daß auch in den Kampfgesängen der Franzosen, Engländer, Russen und Turkestaner das Vaterland als ein geographisches Gebiet gedeutet wird, das größer sein muß. Denn darin haben sich die Völker der Erde gegenseitig nichts vorzuwerfen: haben sie sich einmal in einen Begriff verliebt, dann stehen sie dafür ein mit Leib und Leben, und es gibt keine Dummheit, die ein Volk nicht um einer Redensart willen begehen würde.
Patriotismus ist bei allen Völkern eine Voraussetzung, die keines Beweises bedarf, eine Eigenschaft, die der Kritik entzogen ist. Ich gestatte mir dennoch auf die Frage: Was ist Patriotismus? zu antworten: Ein gutes Geschäft oder eine leere Phrase.
Die wertgeschätzten Leser, die sich jetzt in ihren heiligsten Empfindungen verletzt fühlen, werden freundlichst ersucht, diese Empfindungen einen Augenblick neben sich zu stellen und ihren bewährten kritischen Verstand an deren Platz zu lassen. Dann werden sie erkennen, daß Patriotismus ein dem natürlichen Heimatgefühl künstlich aufgepfropfter Begriff ist. Ein Sentiment, das räumliche Grenzen voraussetzt, das bei uns Deutschen bis weit ins dänische, französische und polnische Nationalgebiet hineinstrebt und bei der Basler und Salzburger Zollrevision seine Wirksamkeit einstellt. Oder ist Patriotismus etwas anderes? Etwa das Bewußtsein einer nationalen Zusammengehörigkeit, einer Verschmolzenheit seelischer Interessen? Das wird zu prüfen sein.
Unsere gesellschaftlichen Einrichtungen sind solche, daß die Lebensmöglichkeit des Einzelnen sich nicht auf persönliche, oder korporative Tüchtigkeit gründet, sondern durchaus nur auf die Ruderkraft der Ellenbogen im sozialen Kampf. Da eine Minderheit der Menschen im Alleinbesitz aller Produktionsmittel ist, und die Mehrheit von ihrer Gnade abhängt, um auch nur zur Arbeit zugelassen zu werden (gegen den Preis kärglicher Entlohnung und frühzeitiger Kräfteabnutzung), da diese Mehrheit ferner unterernährt zur Welt kommt, unterernährt aufwächst und alle Energie für die Möglichkeit, primitiv zu existieren und schon im Keimzustand entrechtete Kinder zu zeugen, aufwenden muß, so ist der soziale Kampf der Menschen der ungleichste Kampf im ganzen Naturgeschehen. Ausbeuter und Ausgebeutete — so setzt sich ein Volk in diesen Zeitläuften zusammen. Und unter diesen Menschen soll das Bewußtsein nationaler Zusammengehörigkeit bestehen, unter ihnen sollen irgendwelche seelischen Interessen verschmolzen sein? Wer das behaupten wollte, müßte die Augen zehnfach verbinden vor dem Haß, der Gier, der Skrupellosigkeit, mit der die Menschen des gleichen Volksstammes gegeneinanderwüten. Wo aber wirkliche Interessen ineinandergreifen, da sind sie nicht an den Raum gebunden. Die Verbindungen der Reichen gegen die Armen greifen über die Grenzen der Länder hinaus und zeigen den Armen damit an, daß auch sie sich international verbinden müssen, wollen sie je wieder zu menschenwürdigen Zuständen gelangen.
Versuchen wir also, der Ergründung des Patriotismus von einer anderen Seite beizukommen. In welchen Formen äußern sich die Gemütswallungen der Patrioten? In devoten Kundgebungen für das Staatsoberhaupt oder die gerade gültige Staatsform und in säbelrasselndem Selbstlob auf Kosten des „Feindes“. Daraus ergibt sich, daß Patriotismus stets eng verquickt ist mit äußerlichen Zeiterscheinungen, mit der oft zitierten „Liebe zur Scholle“ aber garnichts zu tun hat. Die Liebe zur Scholle wird als Heimatsgefühl ursprünglich in jedem Menschen leben, ist aber von politischen Grenzabsteckungen ganz unabhängig und kann als ethisches Postulat überhaupt nicht verwendet werden, weil ihre Intensität von der Fülle und der Art individueller Jugendeindrücke bestimmt ist, und weil die gesegneten kapitalistischen Einrichtungen bei vielen, die nie eine Handbreit Scholle zu eigen besessen haben, das ursprüngliche Gefühl gar nicht haben aufkommen lassen. Ergo: Patriotismus ist, wo das Wort überhaupt eine Empfindung umschließt, politisch-konservative Staatsbejahung, verbunden mit kriegerischer Eitelkeit.
Das politische Bekenntnis ist bei den Meisten viel weniger im Temperament begründet als in praktischen Erwägungen. Daher ist auch der wahre Patriot der, der seinen Nutzen in der Erhaltung des bestehenden Staatssystems und in der Feindschaft der Völker gegeneinander erkennt. Wenn sich diejenigen, deren Interessen in direktem Gegensatz zum Kapitalismus und Militarismus stehen, gleichwohl ebenfalls als Patrioten, bezeichnen, so ist das ein demagogischer Kniff und eine Anerkennung der Überlegenheit der Konservativen, denen es noch immer gelungen ist, ihr Geschäft mit Hilfe einer suggestiven Phraseologie zum idealen Wert der Gesamtheit zu machen.
Es genügt vollkommen, einer parlamentarischen Opposition Antipatriotismus vorzuwerfen, um sie als gekränkte Unschuld zum Greinen zu bringen. Der Begriff ist selbst den rötesten Schreiern als moralische Tugend so tief in Fleisch und Blut eingedrungen, daß sie uns, die wir uns aus Liebe zur Ehrlichkeit klar und offen als Antipatrioten bekennen, mit derselben Verachtung abschütteln, wie das die konservativsten Staatsstützen tun. Sie haben aber gegen die Loyalitätspächter den Nachteil, daß sie wider die Wahrheit Patrioten sind, und um ihre Suggestion zu erhalten, als Ideal konstruieren müssen, was den andern praktische Selbstverständlichkeit ist.
Wie sehr der Patriotismus bei seinen natürlichen Bekennern als geschäftliche Nützlichkeit gewürdigt wird, dafür hat die letzte Zeit beweiskräftiges Material in Hülle und Fülle geliefert. Und überall ergibt sich aus den Tatsachen das gleiche Bild: der spekulative Patriotismus der Staatsinteressenten schürt den ideellen Patriotismus der phrasengläubigen Völker und macht sein Geschäft dabei. Hier einige Beispiele.
Bulgarien. Ferdinand, ein aus Deutschland importierter Balkanfürst, ist ohne Anstrengung bulgarischer Patriot geworden. Er hat sein slavisches Volk gewöhnt, im Vivat-Schreien auf einen Westeuropäer seinen Patriotismus kundzutun. Er belohnt das Volk, indem er sich zum König macht. Da er Gebietserweiterungen anstrebt, die erhöhte Steuerleistungen und für ihn erhöhte Apanage zur Folge haben müssen, begibt er sich mit seinen slavischen Nachbarn auf den Kriegspfad und läßt zehntausende seiner durch Gottes Fügung dazu avanzierten Volksgenossen hinmorden, nicht ohne vorher erfolgreich an der Pariser Börse à 1a baisse spekuliert zu haben.
Montenegro. Nikita, der Fürst der schwarzen Berge, der sich ebenfalls bei günstiger Konjunktur zum König seines Ländchens befördert, erkennt die geschäftlichen Vorteile einer Beteiligung an dem Handel der übrigen Balkanländer. Die unterhandeln noch mit der Türkei, als ihm eine Wiener Bank anträgt, er solle ohne das Ergebnis der Verhandlungen abzuwarten, losschlagen, wofür ihm ein Trinkgeld von fünf Millionen Kronen zugesichert wird. Fünf Millionen Kronen sind ein tüchtiges Stück Geld, und Nikita enfesselt für diesen Preis den Krieg, der unzähligen Menschen das Leben kostet, unermeßliche Werte zerstört, unerhörte Infamie lebendig macht. Sein eigenes Land ist der Vernichtung nahe — aber Nikita hat seine 5 Millionen in der Tasche. Das Kriegsglück lächelt ihm. Skutari, das Ziel seines Strebens, fällt in seine Hand — durch den Verrat des Herrn Essad Pascha, der, bisher ein gefeierter türkischer Patriot, das ihm anvertraute Pfand dem Feinde unter der Bedingung überläßt, daß er künftighin — als König — albanischer Patriot sein dürfe. Die Geschäftsinteressen der in der Londoner Botschafter Konferenz repräsentierten Patrioten Westeuropas sind mit denen Nikitas nicht identisch. Er soll Skutari wieder hergeben. Er widersetzt sich und beschwört die Gefahr eines großeuropäischen Krieges herauf. Es scheint, er wird sich mit den Kompensationen abfinden lassen, die seinem kaufmännischen Prestige nicht zur Schande gereichen werden (1). Jedenfalls glaubt er es schon riskieren zu können, an der Wiener Börse à 1a hausse zu spekulieren.
Österreich-Ungarn. Die Donaumonarchie verfügt über ungewöhnlich gewandte Patrioten. So dumm wie unsere östlichen Bundesfreunde hat sich selten ein Volk bluffen lassen. So unverfroren wie dort ist aber auch selten der unbeteiligte Patriotismus des Volkes aufgekitzelt worden. Auf der Blutwiese des Balkankrieges wünschte auch Österreich sein Schäfchen zu weiden. Dazu empfahl es sich für das im Wesentlichen slavische Land, den Anwalt des nichtslavischen Europas zu spielen. Als der Krieg mit dem Unterliegen der Türkei ausging, mischte sich Österreich-Ungarn hinein, um die Sieger um den Ertrag ihrer Anstrengungen zu bringen und schuf den ganz Europa bedrohenden Konfliktsfall Skutari. Das darf nicht an Montenegro fallen, weil das für die Geschäfte der österreichischen Patrioten nicht opportun ist. Montenegro wehrt sich natürlich so lange es kann gegen die Herausgabe — und nun spielt Österreich den Beleidigten, spielt ihn mit so ausgezeichneter Mimik, daß die Volksseele in jedem Bürger der Wiener Josephsstadt kocht. Die Bevollmächtigten des österreichischen Patriotismus haben es allmählich so weit gebracht, daß ihnen die Opfer ihrer Spekulationen in die Ohren schreien: Es ist eine Affenschande, was ihr für Schlappschwänze seid! Wir schämen uns Österreicher zu sein, wenn ihr Euch die Frozzeleien Nikitas noch länger gefallen laßt! Wir wollen Krieg! Krieg! Krieg! — Ob Österreich-Ungarn den heldenhaften Feldzug gegen das winzige Balkanländchen unternehmen wird, oder ob es bei der Verhängung des Belagerungszustandes in den Kronländern bleibt, läßt sich, während ich dies schreibe, noch nicht übersehen. Auch nicht, ob im ersteren Falle Österreich-Ungarn Cetinje oder Montenegro Wien okkupieren wird. Das aber läßt sich übersehen, daß das Losmarschieren der Österreicher vor der Geschichte nicht als eine Abwehrmaßregel gegen schmähliche Herausforderungen, sondern als ein ganz ordinärer Raubzug dastehen würde, dessen Folgen unabsehbar wären. Denn daß die Österreicher-Patrioten sich nicht mit einer polizeilichen Aktion begnügen würden, steht doch fest. Wenn die Monarchie aber erst einmal nach Balkanland für den eigenen Bedarf langt, dann werden Rußlands Patrioten gewiß nicht müßig zusehen — und dann gnade uns Gott.
Deutschland. Im Reichstag hat Dr. Karl Liebknecht einige Mitteilungen gemacht, die den geschäftlichen Charakter einer gewissen Sorte von Patriotismus magisch beleuchtet. Danach unterhält die Firma Krupp eine reguläre Spitzelorganisation, die berufen ist, mit Hilfe von Bestechungsgeldern die Absichten der Regierungsämter zu ermitteln und darauf Spekulationen zu gründen. Danach hat die Deutsche Waffen- und Munitionsgesellschaft falsche Nachrichten über neue französische Rüstungsaktionen in die französische Presse zu lanzieren versucht, um die deutsche Regierung auf Kosten der Steuerzahler und zum Nutzen der Waffenindustrie zu weiteren Militärausgaben zu veranlassen. Diese Mitteilungen sind nicht gerade überraschend, aber wichtig, weil sie endlich einmal positives Material bringen. Psychologisches Interesse bietet dabei auch das Verhalten der patriotischen Presse. Die konnte zwar nicht anders, als im Brustton der Überzeugung schonungslose Aufklärung fordern, erging sich aber gleichzeitig in Beschimpfungen gegen Dr. Liebknecht und suchte mit dem bewährten (und von den Sozialdemokraten keineswegs mißachteten) Mittel der persönlichen Verunglimpfung die Wucht der erbaulichen Tatsachen abzuschwächen. Die Bewilligung der von Deutschlands Patrioten als notwendig erachteten neuen Wehrmittel mit all ihren scheußlichen Nachwirkungen auf die Volkswirtschaft des Landes wird denn auch über die Kleinigkeit dieser patriotischen Schweinereien nicht stolpern. Man soll übrigens nicht ungerecht sein und die deutsche Militärindustrie für korrupter halten als die ausländische. Kein ehrlicher Mensch zweifelt daran, daß die Geschäftschancen der französischen, englischen und italienischen Waffenfabriken genau die gleichen sind. Der Patriotismus der Völker gedeiht dabei überall vortrefflich.
Wir erkennen an allen diesen Beispielen, daß die Woge der nationalen Begeisterungen einem cirulus viciosus gleicht. In den Geschäftskontoren der Interessenten wird der Patriotismus erregt. Der fertige Patriotismus schafft aus sich selbst heraus fortgesetzt Reibungen und Skandale (wie z.B. den Dummenjungenkrach in Nancy), aus den Reibungen entwickelt die Geschäftigkeit der Interessenten neuen Patriotismus. Die Völker aber, die lieber verrecken, als sich von ihrer patriotischen Phrase trennen, zahlen die Kosten.
Fußnote:
(1) Inzwischen geschehen
Aus: Kain. Zeitschrift für Menschlichkeit, 3. Jahrgang, Nr. 2/1913. Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ae zu ä, That zu Tat usw.) von www.anarchismus.at.