Erich Mühsam - Die proletarische Linke
Proletarische Linke! Das ist eine ganz dumme Überschrift. Sie bezeichnet nicht im geringsten das, wovon hier die Rede sein soll. Sie ist nur eine Konzession an den albernen Sprachgebrauch, eine Konzession, die notwendig ist, damit der revolutionäre Proletarier, von schlechten Schlagworten gegen klare Formulierungen abgestumpft, auf den Inhalt des Artikels vorbereitet ist.
Die politische Scheidung von Rechten und Linken ist ursprünglich eine Übung parlamentarischer Zweckmäßigkeit. Die Auszählung der Stimmen durch den Präsidenten wird erleichtert, wenn er die Gruppen, die in der Regel gemeinsam stimmen, zusammen auf einer Seite vor sich sieht; so wurde es allmählich in allen Ländern Brauch, daß die systemerhaltenden Parteien zur Rechten und die grundsätzliche Opposition zur Linken des Wortführers Platz zu nehmen hatten.
Die proletarische Linke war in Deutschland vor der Zerspaltung und Zersplitterung der marxistischen Sozialisten unbestritten die sozialdemokratische Partei, denn sie allein stellte in den Parlamenten außerhalb der bürgerlich-liberalen Opposition die Vertreter der proletarisch organisierten Wähler. Heutzutage versteht man unter der proletarischen Linken allenthalben den revolutionär entschlossenen Teil des Proletariats im Gegensatz zur unrevolutionären proletarischen Rechten. Daß die Ausdrucksweise dem Parlament entstammt und nur im Zusammenhange mit parlamentarischen Sitten Sinn hat, ist selbst bei den strammsten Antiparlamentariern in Vergessenheit geraten, die mit der stolzen Betonung ihrer Linksheit ungewollt die parlamentarischen Vorstellungen im Proletariat stärken und beleben. Allenfalls, mag man sich für revolutionäre Antiparlamentarier das neuerdings von bolschewistischen Sprachbereicherern eingeführte Prädikat "ultralinks" gefallen lassen. Ultra- ist eine lateinische Präposition und heißt auf deutsch jenseits, darüber hinaus. Ein Ultralinker ist also einer, der noch jenseits der äußersten Linken des Parlaments steht, der seinen Platz über die Bänke der proletarischen Linken hinaus, somit außerhalb des Sitzungssaales hat. Die Anwendung freilich, die der neue Begriff bis jetzt findet, als moralhaltiges Schimpfwort gegen antirevisionistische kommunistische Partei-Parlamentaristen, entbehrt nicht der Komik. Immerhin ist es anständiger und den gemeinsamen Interessen des revolutionären Proletariats dienlicher, die radikaleren Genossen Ultralinke zu nennen und sich mit diesem Wort gesinnungsmäßig von ihnen abzugrenzen, als daß man sie, wie es leider bei der Führung der Kommunistischen Partei üblich geworden ist, persönlich suspekt macht und die Ehrlichkeit ihrer Überzeugung verdächtigt.
Der Titel "Die proletarische Linke" ist für diesen Artikel gewählt, weil er, trotz seiner parlamentarischen Herkunft, bei unserer Armut an allgemein verständlichen Begriffen, noch am umfassendsten die Bewegungen zu bezeichnen scheint, die wenigstens im subjektiven Wollen, der proletarischen Klasse die revolutionäre Mission der Beseitigung der bourgeoisen Klassendiktatur und die Überführung des kapitalistischen Staates in sozialistische Gesellschaftsformen mit den Mitteln des Aufstandes und des Umsturzes zuerkennen. Die Sozialdemokratie scheidet bei dieser Betrachtung selbstverständlich aus; sie rangiert längst als konservativste Partei des gegenwärtigen Staatsystems auf völlig bürgerlich-demokratischen Geleisen und ist sogar da schon vom fortschrittlichen Geist pazifistischer Republikaner weit überholt worden. Auch die Unabhängigen Sozialdemokraten können in diesem Zusammenhang übergangen werden. Ihr Streben beschränkt sich doch zu einseitig auf die Zurückleitung der Arbeiterschaft zu den Traditionen der Sozialdemokratie mit Bebels Deklamationen und Eisners Reformatoren-Romantik. Es sind aufrichtige und sympathische 48er, aber fast 80 Jahre Kapitalismus und Imperialismus haben einige Voraussetzungen ihres Idealismus erschüttert. Etwas anderes ist es mit Ledebours Sozialistischem Bund - der mit Gustav Landauers revolutionärer, Tatgemeinschaft nichts als den Namen gemeinsam hat -, hier scheint mir das Bett gegraben zu sein, in dem, vielleicht gar nicht in sehr langer Zeit, die vom kapitalistischen Polizeigeist ihrer Minister-Anwärter abgestoßenen Massen der Sozialdemokratie mit den resignierenden Scharen der Kommunistischen Partei in breitem Strom zu der großen, einigen, im Parlament zu grundsätzlicher demonstrativer Opposition vereinten sozialistisch-kommunistischen deutschen Arbeiterpartei zusammenfließen werden. Hier wird dann wieder eine "proletarische Linke" im eigentlichen Sinne ihrer parlamentarischen Bedeutung Leben gewinnen und vielleicht als Sammelbecken der Kräfte wirken, die dem ersten revolutionären Schlage der konzessionsfeindlichen radikalen Minderheit die Sicherung des Erfolges durch das Eingreifen der Massen folgen lassen. Die trüben Erfahrungen, die die deutschen Arbeiter bisher mit dem übersteigerten Partei-Zentralismus gemacht haben, lassen hoffen, daß sie sich in der Stunde der Erhebung die Direktiven nicht wieder von beamteten Führern, sondern aus der Erkenntnis des eigenen revolutionären Gewissens holen werden.
Was sich im Augenblick innerhalb der revolutionären deutschen Arbeiterbewegung vollzieht, ist bei allen betrübenden Erscheinungen der Prozedur eine Gesundungs-Operation. Es ist keineswegs eine Widerlegung des Parteiprinzips, daß jetzt die K.P.D. sich zur Massen-Amputation von Gliedmaßen der linken Seite genötigt sieht. Es ist aber eine Widerlegung des Wahns, als ob je und irgendwo eine Partei die historische Berufung haben sollte, durch ihren zentralen Verwaltungsapparat Revolutionen anzusetzen, zu leiten, durchzuführen, zu begrenzen und in ihrem Verlauf zu bestimmen. Eine zentralistische Partei hat alle Eigenschaften eines zentralistischen Staates und jeder andern zentralistischen Organisation, die Eigenschaften nämlich, die einen Mechanismus von einem Organismus unterscheiden. Es kann so wenig Selbstbestimmung von Parteimitgliedern geben, wie es Selbstbestimmung von Staatsbürgern geben kann. Initiative ist Angelegenheit derer, die mit der Aufgabe angestellt sind, Initiative innerhalb bestimmter starrer Vorschriften zu entfalten. In der Starrheit der Vorschriften erstarrt auch die Initiative der beamteten Initiatoren. Dagegen empört sich der Aktivitätsdrang der menschlichen Natur und so entsteht Bewegung, die den Parteirahmen zu erweitern sucht. Parteirahmen aber lassen sich nicht erweitern, sie lassen sich nur sprengen, und das hieße Zerstörung der Partei, die bei ihren Betreuern vermöge ihrer Struktur wie jeder zentralistische Apparat längst Selbstzweck geworden ist. Es ist klar, daß das Bestreben, eigene Initiative zu entwickeln, in einer Partei stets grade bei den Mitgliedern zu oppositioneller Aktivität drängt, deren revolutionäres Empfinden der Erstarrung im Bürokratismus am längsten trotzt. Die Monopolisierung der revolutionären Initiative für eine Parteileitung bedeutet also die Verdrängung jedes rebellischen Geistes, den Verzicht auf Rausch und Feuer im elementarischen Geschehen der schöpferischen Stunde, bedeutet Welterneuerung in der Retorte nach den in behaglicher Muße ertiftelten Formeln eines Rechenexempels. Die Ausschlüsse der Linksopposition aus der K.P.D. sind Notwehrakte derer, die, ohne selbst die Erstarrung der Partei zu empfinden, doch mit vollem Recht die Behinderung dieses Vorgangs als Angriff auf das Leben der Partei auffassen. Daß diese Krise der Kommunistischen Partei grade jetzt zur Auswirkung kommt, ist bei dem Abhängigkeitsverhältnis der Partei von der russischen Parteiregierung selbstverständlich. Da heute niemand mehr das Absterben des in Rußland den Sowjets übergeordneten Staates behauptet, sondern der Streit nur noch darum geht, ob die Festigung der wirtschaftlichen Verhältnisse als sozialistischer Aufbau innerhalb des Staates zu gelten habe oder nicht, stößt dieser Staat alle seine endgültige Stabilität gefährdenden Elemente aus, und dieser Prozeß überträgt sich fast automatisch auf seine als Keimzellen im Ausland etablierten Partei-Filialen.
In Rußland ist man der Überzeugung, daß der Kapitalismus im europäischen Westen sich wieder befestigt habe, daß also die Bedingungen zu einer sozialen Revolution vorläufig nicht mehr gegeben seien. Daraus ziehen die in Staat und Partei maßgebenden Persönlichkeiten die logisch einwandfreie Folgerung, daß Sowjetrußland sich mit der kapitalistischen Umwelt abzufinden habe und daß die Kommunistischen Parteien des Auslands sich innerhalb des geordneten kapitalistischen Staats- und Wirtschaftsbetriebes als Dauer-Opposition einrichten müssen. Diese von Stalin und Bucharin vertretene Auffassung mag unrichtig sein - ich bin der unumstößlichen Meinung, daß sie verhängnisvoll falsch ist - so kann doch kein Zweifel bestehen, daß ein straff diszipliniertes Gebilde wie die Kommunistische Internationale, will sie ihre Struktur, die ihr Wesen ist, nicht preisgeben, von ihren Mitgliedern die Unterwerfung unter ihre noch so verkehrten Anschauungen verlangen kann, da doch das gesamte praktische Verhalten der Partei, um einheitlich zu sein, von der unbedingten Anerkennung der von oben diktierten Anschauungen bestimmt wird. Die K.P.D. hat unbestreitbar das Recht, sich wie jede andre Vereinigung diejenigen Statuten zu geben, die ihr richtig scheinen. Wer mit den Statuten der Vereinigung nicht einverstanden ist, gehört nicht hinein. Mit dem Ausschluß der Opposition stärkt die Partei trotz zahlenmäßiger Verluste ihre ideologische Position, verliert aber zugleich den letzten Anspruch auf die Führung der Revolution, deren Akutwerden in abschätzbarer Zeit sie selbst ja für so unwahrscheinlich hält, daß sie ihre gesamte Politik dem Fortbestehen der gegenwärtigen Verhältnisse anpaßt.
Ob die revolutionsgläubig gebliebenen Genossen der K.P.D. nach ihrem Ausschluß eine neue parlamentarische kommunistische Partei links der offiziellen werden aufbauen können, hängt davon ab, was sie den Dutzend Tageszeitungen der alten Partei an Werbemitteln entgegenzustellen ermöglichen. Der Unterschied zwischen den beiden Parteien nach einer regulären Spaltung wird nicht größer sein als seinerzeit zwischen S.P.D. und U.S.P.; die theoretische Basis bleibt die gleiche, aber die verschiedene Abschätzung der augenblicklichen historischen Situation schafft Differenzen über die anzuwendende Taktik, die eine organisatorische Trennung bedingen, bis klarere Sicht die Wiedervereinigung möglich macht. Die rüde Schimpferei in beiden Lagern sollte nicht allzu wichtig genommen werden. Erbitterte Liebe tobt immer ärger als sachliche Feindschaft, und meinen Geifer kann ich nur dem ins Gesicht spucken, der mir ganz nahe steht.
Liest man die Blätter der antiparlamentarischen Marxisten, so möchte man glauben, es gäbe in der ganzen Welt überhaupt nichts andres mehr anzufeinden als die Kommunistische Partei und ihre russischen Kommandeure.
Allenfalls übertroffen wird die Ruppigkeit ihrer Tonart, mit der die linkskommunistischen Blätter die Zentrale-Anhänger und die Partei-Offiziosi die linke Opposition regalieren, nur noch durch den Jargon, mit dem sich die Linken untereinander die marxistische Bibel auslegen. Auch da stellen immer die Richtungen, die einander ideologisch am nächsten verwandt sind, im Kampf gegeneinander die Rekordleistungen auf. Die Wortführer der K.A.P.D. und der A.A.U.E. gießen in der letzten Zeit Schlammkübel übereinander aus, als ob es Schande wäre, mit dem anderen die gleiche Luft zu atmen; dabei ist die ganze Sturzflut von Schimpf-Unflat nur die Wirkung des Scheiterns erst vor kurzem geführter Einigungsverhandlungen. Der junge Spartakusbund linkskommunistischer Organisationen, der doch die Grundlage eines Kartells aller revolutionären Organisationen schaffen wollte, beteiligt sich kräftig an dem mißtönenden Konzert und beweist damit, daß das unbedingt anzustrebende Bündnis zwischen den proletarischen Revolutionären Deutschlands anders geartet sein muß als der eigentümliche Dreibund, dessen Versuch verdienstvoll war, aber an seinen Inkonsequenzen zerschellen mußte.
Die Festlegung des Spartakusbundes auf die marxistische Theorie schloß von vorneherein eine große Anzahl bester kommunistischer Revolutionäre aus und zog wiederum die Schranke nur gegen links: gegen die Bakunisten. Gleichzeitig verpflichtete das Kartell die zum Anschluß bereiten Organisationen auf die Prinzipien nur einer der drei Körperschaften, die sich zunächst zusammenfanden, der Allgemeinen Arbeiter-Union (Einheitsorganisation). Das Parteiprinzip, die Beteiligung am Parlamentarismus und an staatlich-legalen Einrichtungen sowie jegliche Gewerkschaftspolitik wurde verworfen, während doch die Katz-Gruppe ausgesprochenen Partei-Charakter trägt, auch noch durch mehrere Vertreter am parlamentarischen Leben teilnimmt und der Industrieverband des Verkehrsgewerbes eine gewerkschaftliche Korporation ist, die an gesetzlichen Betriebsratswahlen teilnimmt. Das Programm des Spartakusbundes ist zu eng und seine bisherige Wirksamkeit war viel zu sehr die Schaustellung einzelner rednerisch geübter Führer, als daß größere revolutionäre Massen sich zu diesem Kartell sollten drängen mögen. Dennoch ist die Kartellierung der Revolutionäre die organisatorische Lösung des Problems der proletarischen Einheitsfront. Ich verkenne gewiß nicht die zahllosen Schwierigkeiten, die sich dem Bündnis im Bekenntnis und im taktischen Operieren weit unterschiedener revolutionärer Formationen entgegenstellen. Die Sekten-Verbissenheit bei den meisten Anarchisten - mit deren Tugenden und Nachteilen sich demnächst ein besonderer Aufsatz befassen soll, ein weiterer mit den proletarischen Jugendbewegungen -, auf der andern Seite die autoritative Alleswisserei sämtlicher marxistischer Richtungen kann nicht anders in ein dauerhaftes kameradschaftliches Verhältnis gebracht werden, als durch eine Föderation mit den Gesichtspunkten, die den Sektionen der Allgemeinen Arbeiter-Assoziation bei der Aufrichtung der Ersten Internationale maßgebend waren: völlige Autonomie aller angeschlossenen Gruppen, Verbände und Individuen, aber regelmäßige Verständigung durch räteartige Delegationen über den gemeinsamen Kampf gegen das kapitalistische System und für die internationale Solidarität der proletarischen Klasse.
Die Zersplitterung und Zersetzung der sogenannten linken Organisationen der deutschen Arbeiterbewegung kann, richtig, verstanden und benutzt, zur Genesung des durch zentralistische Irrtümer, katechisierte Theorien und autoritäre Mißleitung in Reformismus und Opportunismus geratenen Klassenkampfes führen. Keine Verbreiung und Verkittung der Splitter ist nötig, sondern ihre Sammlung zu gelegentlichen gemeinsamen Aktionen. Der bevorstehende schwere Winter wird nicht vorübergehen, ohne daß die Reaktion gegen Hungersnot und Verzweiflung den § 48 aus dem Fache holen wird. Dessen Ruten schlagen auswahllos auf alle Revolutionäre. Die Reaktion, in Weltanschauung, politischem Glauben und staatsbürgerlicher Denkweise mindestens ebenso zerrissen wie die revolutionäre Arbeiterschaft, ist - gestützt auf die zum Kampf gegen die proletarische Revolution zum äußersten entschlossene Sozialdemokratie - in der Verteidigung der kapitalistischen Ausbeutungs-Privilegien ohne jede zentrale Befehlsgewalt unlöslich verbunden. Das Klassengefühl einigt sie. Das einigende Band des Klassengefühls ist auch beim revolutionären Proletariat vorhanden. Es muß nur erfaßt werden, und es kann nicht reißen, wenn alle, die sich daran halten, erfüllt sind vom Glauben an die revolutionäre Mission des Proletariats und vom unbeirrbaren Willen zum Kampf!
Aus: FANAL, 1. Jahrg., Berlin Dez. 1926, Nr. 3
Gescannt aus: Erich Mühsam: Staatsverneinung, Freiheit als gesellschaftliches Prinzip u.a. Beiträge. Reihe Konstruktiv Nr. 10, AHDE – Verlag 1981.
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