William Godwin (1756-1836)

William Godwin ist nicht nur der erste Vertreter des modernen Anarchismus, sondern auch sein konsequentester und weitblickendster Theoretiker. Eine Ironie des Schicksals wollte jedoch, daß sein Einfluß auf die anarchistische Bewegung des 19. Jhdt. minimal blieb, während er aus der Literatur der englischen Romantik ebensowenig wegzudenken ist wie aus der englischen Arbeiterbewegung. Robert Owen und Francis Place stehen tief in seiner Schuld. Ja selbst Karl Marx dürfte über William Thompson eine vermittelte Bekanntschaft mit der Godwinschen Vorstellung vom „Dahinschwinden des Staates“ gemacht haben.

Godwin ist Moralist. Wie schon der Titel seines Hauptwerks „Political Justice“ sagt, steht die Gerechtigkeit im Zentrum seines Denkens. In seiner Vorstellung von der Gerechtigkeit versöhnt er auf eigenartige Weise die idealistische mit der empiristisch-utilitaristischen Tradition. An ersterer hat er teil durch seine Herkunft aus dem radikalen Dissentertum, an letzterer durch Beschäftigung mit Locke, Bentham, Helvetius und Holbach. Godwin geht davon aus, daß es einen objektiven Vernunftzusammenhang, ein unveränderliches Vernunftgesetz gibt. Alles Wissen aber beruht auf Erfahrung, und diese kann nur dann zur Erkenntnis der Wahrheit führen, wenn das Individuum sich ausschließlich auf die Autorität der eigenen Vernunft und des eigenen Gewissens verläßt. Alle Orientierung an institutionalisierten Autoritäten aber muß notwendig zur Perversion der Wahrheit führen. Nur in einer herrschaftsfreien Gesellschaft ist die Möglichkeit der Harmonie von subjektiver und objektiver Vernunft gegeben. Kampf allen Institutionen also, da sie ein Leben in Freiheit und Gleichheit behindern, das allein den Forderungen der Gerechtigkeit entspräche. Von diesem moralisch fundierten antiautoritären Ansatz her lassen sich alle Vorstellungen Godwins über menschliches Zusammenleben verstehen.

Godwin trifft die typisch anarchistische Unterscheidung zwischen dem gesellschaftlichen Zusammenschluß, der natürlich und in jeder seiner Formen ein Segen ist, da er dem altruistischen Bedürfnis aller Menschen nach gegenseitiger Hilfe entgegenkommt und dem staatlichen Zusammenschluß, der unnatürlich und noch in der besten seiner Formen ein Übel ist, da er ausschließlich den egoistischen Interessen einiger weniger dient. Staat und Ungleichheit korrelieren notwendig. Die Ungleichheit ist eine des Eigentums und der Staat sowohl Folge der durch die Akkumulation des Eigentums, in die Gesellschaft hineingeratenen Ungleichheit, als auch Ursache ihrer Perpetuierung. Godwin hat mit seiner Theorie von der „accumulation of wealth“ den kapitalistischen Antagonismus von „Arbeit“ und „Kapital“ vorweggenommen, zog aber nicht die marxistische Konsequenz des Klassenkampfes. Ihm geht es um Individuen, nicht um Klassen, denn er sieht Arme wie Reiche gleichermaßen verstrickt in der Korruption, die aus dem Reichtum geboren wird. Was die Falschheit ihres Bewußtseins anbetrifft, haben Herr und Sklave sich nichts vorzuwerfen. Die Diskrepanz zwischen moralisch begründeter individueller Gleichheit und staatlich sanktionierter sozialer Ungleichheit kann nur auf dem Wege von Aufklärungsprozessen überwunden werden. Nicht um seiner selbst willen wird nämlich nach Reichtum gestrebt, sondern des Sozialprestiges und der Herrschaftsfunktionen wegen, die mit ihm verbunden sind, wie Godwin in Vorwegnahme von Veblen argumentiert. Durch eine gleiche Verteilung des Bodens, den psychologischen Trick der Verächtlichmachung des Reichtums und Aufklärung darüber, daß allein die individuelle Leistung für das Allgemeinwohl natürliche Quelle von Sozialprestige sein kann, will Godwin allmählich zu einem Abbau von Herrschaft gelangen. Alle Herrschaft beruht letztlich auf dem Vertrauen der Beherrschten. Ihr Vertrauen aber ist die Folge ihrer Unwissenheit. Beseitigt man diese, wie die Demokratie als Regierungsform der Übergangsphase es ermöglicht, muß Herrschaft notwendig fallen. Die Freiheit ist demnach ein Problem der Erziehung. Die Herrschenden im Zuge einer Revolution zur Aufgabe ihrer Privilegien zwingen zu wollen, erscheint Godwin als falsch, weil in Revolutionen die Leidenschaften und nicht die Vernunft regieren und Revolutionen durch Gewalt anstatt durch die Gerechtigkeit entschieden werden. Auch wäre es unklug, einen „Zustand der Freiheit“ herbeizuführen, ehe im Bewußtsein der Menschen die „Liebe zur Freiheit“ erwacht ist. Sie wüßten sie nicht vernünftig zu nützen und Orientierungsunsicherheit, Anarchie im negativen Sinne, wären die Folge. Was bei Godwin schon anklingt, ist die im 20. Jh. viel diskutierte Phasenverschiebung von technologischer und moralischer Entwicklung, der es entgegenzuwirken gilt.

Obwohl Godwin, wie fast alle Anarchisten, den unabhängigen Kleinproduzenten als gesellschaftliches Idealbild vor Augen hat, ist er kein Maschinenstürmer. Er will im Gegenteil alle Möglichkeiten der Automation ausgeschöpft wissen, glaubt er doch, daß durch sie die physische Arbeit auf eine halbe Stunde pro Tag reduziert werden kann. Was Godwin an der Phase der Industrialisierung, in die er sich hineingeraten sieht, so stört, ist die Notwendigkeit menschlicher Kooperation bei der Bedienung von Maschinen. Es gilt, möglichst rasch ins Zeitalter der Automation hinüberzugelangen, in dem der einzelne Herr der Maschine und damit auch wieder seiner Zeiteinteilung sein wird. Godwins freiheitlich-individualistische Grundeinstellung ist so radikal, daß ihm jede Form von Zwang, der er das Individuum ausgesetzt sieht, im Innersten zuwider ist. Sogar gemeinsame Mahlzeiten empfindet er als unzumutbaren Zwang, erst recht natürlich die Ehe.

Die Ehe ist in seinen Augen die tyrannischste Form des Eigentums, eine Konsequenz der Feigheit, nicht des Mutes der Männer. Weil sie den Vergleich scheuen, weil sie sich nicht der Gefahr aussetzen wollen, eine Frau an einen Überlegenen zu verlieren, monopolisieren sie ihren Besitz. Dabei beruht die Ehe auf dem romantischen Irrtum von der Ewigkeit der Liebe. Ist die Liebe vergangen, hält man an der Illusion fest, und da ein Mensch, der sich im Privatbereich Täuschungen hingibt, auch im öffentlichen Bereich keine klare Urteilskraft besitzen kann, sind die Menschen durch die Ehe befangen in einem System des Betrugs.

Ein weiteres Hindernis auf dem Wege nach Utopia sieht Godwin im Strafsystem angelegt. Was er auf diesem Gebiet zu sagen hat, dringt heute allmählich ins Bewußtsein moderner Strafrechtsreformer. Als einer der ersten formuliert er die These von der gesellschaftlichen Vermittlung von Verbrechen. Außerdem ist er der Auffassung, daß Strafe nur zwei Legitimationsgründe kennt. Der erste ist der Schutz der Gesellschaft vor dem Verbrecher, der zweite ist die Resozialisierung des Delinquenten. Diese Resozialisierung ist in Einzelhaft überhaupt nicht, allgemein im Gefängnis kaum zu erreichen. Am vernünftigsten wäre es, den Delinquenten in einen Gesellschaftszustand zu versetzen, der Godwins anarchistischem Ideal vom föderativen Gesellschaftsaufbau entspräche: Soziales, d. h. verantwortungsbewußtes Verhalten läßt sich nur in überschaubaren Gruppen erlernen, in denen jeder unter dem wachsamen Auge der Öffentlichkeit lebt. Der „milde Zwang“ der öffentlichen Meinung, auf den Godwin hinauswill, birgt nur dann nicht die Gefahr eines neuen Totalitarismus, wenn der neue, der altruistische Mensch schon Wirklichkeit geworden ist. Vorher könnte dieses Erbe puritanischen Geistes sich durchaus intoleranter abweichendem Verhalten gegenüber gebärden, als gesetzliche Normen es zu tun pflegen.

Obwohl Godwin an einen immanenten Fortschritt auf eine Gesellschaft von Freien und Gleichen hin glaubt - Perfektibilität gehört zur Natur des Menschen -, hält er es für wesentlich, daß jeder einzelne an diesem Fortschritt mitarbeite, um den Prozeß zu beschleunigen. Dabei scheint Godwin weniger an dem Zustand der Perfektion selbst orientiert - es bleibt offen, ob er überhaupt zu erreichen ist - als an dem Weg zu diesem Ziel. Das stete Bemühen um Vervollkommnung genügt, um allmählich die Harmonie von subjektiver und objektiver Vernunft wieder herzustellen, an deren Auseinanderklaffen die gegenwärtige Gesellschaft leidet. Man könnte natürlich versucht sein, Godwins These von der Harmonie von subjektiver und objektiver Vernunft dahingehend zu interpretieren, daß das Individuum die Normen der objektiven Vernunft, sprich Gesellschaft, verinnerlicht hat, und die anvisierte freieste aller Gesellschaften in Wirklichkeit die repressivste ist, weil sie dem Individuum nicht einmal mehr die Möglichkeit läßt, die Zwänge zu durchschauen, unter denen es handelt. Ein solcher Vorwurf liefe einmal darauf hinaus, daß man Godwin verarge, Freud nicht gelesen zu haben, zum anderen übersähe man, daß Godwins Individuum von vornherein nur auf natürliche, nicht aber auf sittliche Freiheit angelegt ist. Natürliche Freiheit findet ihre Grenze an der Vernunft, sittliche Freiheit wäre eine Freiheit auch von Vernunft, d.h. das Individuum hätte die Möglichkeit, bewußt böse zu handeln. Eine solche Freiheit hält Godwin in getreu thomistischer Tradition für absurd, weil der Mensch als „animal sociale“ sein eigenes Glück nur in Übereinstimmung mit dem Glück aller verwirklichen kann. Schon bei dem ersten modernen Vertreter des Anarchismus erweist sich also die bürgerliche Identifikation von Anarchie und Chaos als falsch. Nicht Freiheit und Ordnung widersprechen einander für den Anarchisten, sondern Freiheit und autoritäre Ordnung. Seine wichtigsten Werke sind:

  • An Enquiry Concerning the Principles of Political Justice, and its Influence on General Virtue and Happiness. London 1793. Nachdruck der dritten Auflage: Toronto 1946
  • Caleb Williams (kafkaesker Roman; 1794)


Aus: Achim v. Borries / Ingeborg Brandies: Anarchismus. Theorie, Kritik, Utopie. Joseph Melzer Verlag, Frankfurt 1970

Mit freundlicher Erlaubnis des Abraham Melzer Verlag´s

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