Christian Cornelissen - Ein internationaler anarchistischer Kongress (1907)
Vorbemerkung
Die internationale Wichtigkeit der nachstehend besprochenen Angelegenheit, ihre allgemeine Dringlichkeit veranlassen uns, diesem von kundiger Seite verfassten Artikel ausführlichen Raum zu gewähren. Doch können wir es im Interesse der allseitigsten Kenntnisnahme nicht verschweigen, dass bereits jetzt, in diesem, so frühen Stadium der Vorbereitungen, Dissonanzen hörbar werden. Die Nummer 99 des "De vrije Sozialist" enthält eine ziemlich scharf geführte Polemik zwischen den Genossen J. L. Bruijn und F. Domela Nieuwenhuis, in der es sich einerseits um die von Cornelissen gebrauchte Terminologie von "freiheitlich-" statt frank und frei, "anarchistisch", andererseits um die allein von den nachstehend genannten Gruppierungen, unter Nichthinzuziehung der von dem Genossen N., vertretenen Gruppierung, geübten Initiative der Einberufung des internationalen Kongresses handelt.
Ist erster Einwand weniger bedeutend, so ist doch letzterer unbedingt schwerwiegend. Schon der Wunsch, diesem so hochbedeutenden Ereignis zu grösstmöglichem Erfolge zu verhelfen, als auch seine Zweckmässigkeitsgründe lassen es ausserordentlich angebracht erscheinen, dass die Einladung an die Genossen aller Länder von der gesamten Bewegung eines Landes ausgehen soll. Unzweifelhaft wird der bevorstehende Kongress diejenigen Schritte und Massnahmen veranlassen, welche dem für die Zukunft vorbeugen müssen, dass bloss eine einzige Gruppierung, unter Ausserachtlassung von den übrigen, welche ebenfalls mit dem zu erlassenden Aufruf einverstanden sind; die Initiative der Einberufung eines internationalen Kongresses übernimmt, dabei gewissermassen monopolisierend. Allerdings, wir haben Zeit genug, auf den Kongress zu warten und unsere Angelegenheiten wie auch Streitpunkte dort, im Forum von begütigenden Genossen, zum Austrag zu bringen. Vorläufig muss es vor allen Dingen lauten: Alle Mann ans Werk, an die Arbeit für den internationalen Kongress!
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Gemeinschaftlich mit der "Freiheitlich-kommunistischen Gruppierung" von Belgien hat die holländische "Föderation der kommunistischen und freiheitlichen Gruppen" beschlossen, einen internationalen revolutionären und anarchistischen Kongress im Laufe des Sommers 1907 nach Amsterdam einzuberufen. Die Beziehungen dieser beiden Körperschaften zu den anarchistischen Föderationen anderer Länder gestatten die Hoffnung, dass der Kongress stattfinden wird, unterstützt von der Serie aller Gruppierungen der diversen Länder und, gemäss seinem Ursprung, einen durchaus internationalen Charakter tragen wird.
Wir Nordischen rechnen lebhaft darauf, dass die anarchistisch-kommunistischen Gruppen, die revolutionären Syndikate, die Delegaten kommunistischer Kolonien, Journale und freiheitlicher Revuen von allen Teilen Frankreichs kommen und sich in grosser Anzahl beteiligen werden.
Hier einige unserer Hauptgründe dafür: Der Kongress von Amsterdam soll aufs Neue ein Versuch der freiheitlichen Kameraden aller Schattierungen sein, in einer internationalen Konferenz einander zu begegnen, um gegenseitig die gegenwärtig alleinigen revolutionären und antiparlamentarischen Streitkräfte zu unterstützen.
Auch wohl, weil vom ersten freiheitlichen Kongress an, welcher im Jahre 1893 in Zürich stattfand, wie bis zur zweiten Konferenz, die in London 1896 abgehalten wurde, die Antiparlamentarier und Anarchisten sich stets sozusagen im Schatten des sozialdemokratischen Arbeiterkongresses versammelten; an dem viele unserer Freunde teilnahmen, bis, wie man weiss, in London anno 1896, es schliesslich zu einem vollständigen Bruch kam zwischen unseren Gruppierungen und den politischen Parteien.
Später beabsichtigten unsere Kameraden, einen Kongress im Jahre 1900 abzuhalten, zur Zeit der Pariser Weltausstellung. Dieser Kongress wurde durch das Ministerium Waldeck-Millerand verboten; und in ihren geheimen Zusammenkünften konnten die Delegaten mehrerer Länder nur eine oder zwei wichtige Fragen diskutieren. In seiner Totalsumme war die Veröffentlichung der meisten Berichte das hauptsächlichste Resultat des beabsichtigten Kongresses von 1900.
Im Jahre 1907 handelt es sich darum, in dieser unternommenen Arbeit fortzufahren, das heisst, all die Berichte zu diskutieren, welche aus allen Teilen der Welt einliefen, im gegenseitigen Einverständnis unsere Ideen durch die Kameraden der diversen Länder darzustellen, die sie betreffenden Länder wahrzunehmen, das Unbestimmte und missverständlich Aufgefasste aufzuhellen und aus diesem ganzen Zusammenwirken die zweckmässigsten Mittel der revolutionär-freiheitlichen Propaganda auszulesen.
Aber der Kongress von 1907 beansprucht auch darum internationale Aufmerksamkeit, denn er umschliesst unsere Propaganda in ihrer ganzen Grösse, und weil wir seit kurzem ein wenig Gefahr laufen, unsere Kräfte auf Teilbewegungen zu verzetteln, wie etwa die freidenkerisch, antimilitaristische, syndikalistische und kooperative, die Esperantobewegung es sind.
Als freiheitlich empfindende Menschen bestreiten wir die Bedeutung des Kampfes gegen die Kirche nicht. Allein, wir wissen auch, dass die Kirche, als soziale Institution eng verbunden ist mit dem Problem des Privateigentums und der ganzen bestehenden Ordnung; wir haben nun nicht dieselben Ideen über diesen Kampf wie diejenigen, die sich ihm speziell widmen. Und in diesen unseren Ideen trennen wir uns nicht nur vollständig nicht bloss von den radikalen oder liberalen Freidenkern, sondern überdies auch von der grossen Majorität der Sozialdemokraten, welche dem Kampf gegen die Kirche entweder ausweicht oder denselben kategorisch verneint.
Wir hegen dieselben relativen Einwände gegen den Antimilitarismus, den Syndikalismus usw. Für uns ist der Antimilitarismus eine Bewegung, die als Ziel ein negatives besitzt, um das sich jedoch die verschiedenen Lager gruppieren könnten. Indessen haben wir, die freiheitlichen Kommunisten, positive Ideen über die freiheitliche Bewaffnung der Bevölkerungen. Wir bekunden unser Recht, unser Leben und unsere Freiheiten zu verteidigen; und sind wir auch Antimilitaristen, feindlich gesinnt den stehenden Heeren, wie auch den Berufssoldaten, so sind wir doch niemals Propagandisten des passiven Widerstandes. Brauchen wir noch hinzuzufügen, dass somit auch die Taktik der direkten Aktion, wie auch der revolutionäre Syndikalismus uns sowohl vom theoretischen als auch praktischen Standpunkt interessieren? Und so auch alles übrige. Unsere kommunistischen und freiheitlichen Begriffe bilden in ihrem Gesamtbilde einen ökonomischen, politischen, moralischen etc. Standpunkt; und es ist nicht in ihrer verwickelten Kompliziertheit, dass wir — und darin sind wir die einzigen — über dieselben diskutieren und beschliessen.
Augenblicklich erscheint uns übrigens die französische, freiheitliche Bewegung als eine solche, die ihre individuellen Kräfte zum grössten Teil in einer Reihenfolge von Teil- und Detailbewegungen verzettelt. Ein Umstand, der uns wieder hoffen lässt, dass die französischen Genossen sich in stattlicher Anzahl auf dem Kongresse einfinden, sich ihren Kameraden anderer Länder beigesellen werden.
Es gibt ohne Zweifel ganz bestimmte Gründe, weshalb die Verständigung unter den kommunistischen und anarchistischen Gruppen in Frankreich weniger stark ist als anderswo. Von Seiten älterer französischer Kameraden, bekannten Kämpfern, versicherte man mir, dass sie sich seit zehn oder noch mehr Jahren keiner der freiheitlichen Gruppen angeschlossen haben. Dasselbe vernimmt man auch hauptsächlich von jenen Ländern, wo polizeiliche Umtriebe jede Gruppierung augenblicklich vielleicht unmöglich machen, wie zum Beispiel in Spanien und Italien.
Hoffen wir, dass die Schwierigkeiten, welche sie zu besiegen haben, die lokalen Unbequemlichkeiten, eine Verständigung unserer Genossen in südlichen Ländern nicht verhindern sollen, wie auch sich uns anzuschliessen und in einer oder der anderen Weise das notwendige Geld aufzubringen, um einige von ihnen als Delegaten entsenden zu können; und dies in solcher Weise, dass wenigstens die Gedanken der Kameraden jeder Region vernommen, die südlichen Länder, welche noch immer jede Scharte im Kampfe der freiheitlichen Ideen wett machten, würdig vertreten sein sollen.
Ich bin dessen gewiss, den Stimmungen aller Kameraden, welche sich damit beschäftigen, die Organisierung des Kongresses auf dem Laufenden zu erhalten, Ausdruck zu verleihen, wenn ich sage, dass wir uns nicht leicht glücklicher fühlen können, als wenn wir sie, die südländischen Genossen, zu Amsterdam im Laufe des Kongresses von 1907 zu sehen hoffen dürfen; mögen die südlichen Länder uns nochmals das gute Beispiel begeisterter Revolutionäre und Anarchisten geben in ihrer — der französischen, schweizer, spanischen, italienischen Genossen — Begegnung mit den deutschen englischen, belgischen, holländischen und tschechischen.
Sämtliche erfolgende Auskünfte über die bevorstehende Arbeit des Kongresses findet man in dem monatlichen, gratis versandten "Bulletin de l' Internationale Libertaire", dessen Adresse ist: Georges Thonar, rue Laixheau 97, Herstal, Liège, Belgien.
Lasst uns während der Wintermonate und des Frühlings, eine gute Vorbereitungspropaganda entfalten zugunsten des Amsterdamer Kongress!
Der internationale, anarchistische Kongress muss erfolgreich und brillant erfolgreich sein!
Aus: "Die Freie Generation. Dokumente der Weltanschauung des Anarchismus", 1. Jahrgang, Nr. 7, Jänner 1907. Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ae zu ä, That zu Tat usw.) von www.anarchismus.at.