Revolutionäre Propaganda (1887)

I.

Der Sozialismus ist unstreitig an und für sich eine durch und durch revolutionäre Idee, d.h. solange derselbe consequent und unverfälscht vertreten wird. Seine Verwirklichung bedingt eine totale Umgestaltung der bestehenden sozialen Einrichtungen, indem er der Gesellschaft eine neue Basis gibt, auf welcher sich nothwendigerweise alle sozialen Beziehungen der Menschen untereinander verändern werden.

Die Basis der bestehenden Gesellschaft besteht aus Autorität und Privateigenthum, welche Unterdrückung und Ausbeutung zur Folge haben und die Menschen der Natur entfremden müssen. Die Basis der sozialistischen Gesellschaft ist das Gemeineigenthum und die Solidarität aller Menschen, welche logischerweise die vollste Unabhängigkeit jedes Einzelnen von seinen Nebenmenschen bedingt.

Die Analyse der bestehenden Gesellschaft, die populäre Darstellung ihres Ursprungs, ihrer Entwickelung und ihrer Wirkung auf die Menschheit, wirkt auf die Massen — welche von den herrschenden Klassen wohlberechnet und systematisch darüber in tiefster Unwissenheit und Aberglauben erhalten wurden — mit unwiderstehlicher Gewalt revolutionär.

Wer sollte sich auch nicht revoltiren, sobald er erfährt, dass er sein ganzes Leben nicht nur um die Erstgeburt, sondern um sein Menschenthum betrogen wurde? — Wie es thatsächlich bei der grossen Masse der Menschheit der Fall ist.

Die negative Propaganda — die Kritik des Bestehenden — ist eine Zwillingsschwester der positiven Propaganda: was an Stelle des Bestehenden gesetzt werden soll.

Mit Recht wird der Sozialismus als die Quintessenz des gesammten menschlichen Forschens und Wissens betrachtet. Mit der Erkenntniss über das Wesen und die Gesetze der Natur erwachte unter den Denkern auch das Bewusstsein, dass sich die menschliche Gesellschaft resp. ihr organischer Bau im offenbarsten Widerspruche mit der Natur befindet und es entsprang die Idee, der Wunsch: die gesellschaftliche Organisation der Natur und ihren Gesetzen anzupassen. Mit der sich steigernden Erkenntniss der Letzteren klärten sich auch die Ideen über das "Wie." Mit der Erkenntniss über das Walten der Naturkräfte, ihrer Ursachen und Wirkungen, wurden die Götter mit sammt ihren Himmeln und Höllen gestürzt, welche der Unverstand und der daraus folgende Aberglauben aufgebaut, und damit stürzt auch die mächtigste Grundsäule der bestehenden Gesellschaft: die Autorität.

Ungleich langsamer brach sich die Erkenntniss über das Wesen der wirtschaftlichen Einrichtungen Bahn. Aber, einmal den "Alles lenkenden" Götterschwindel gebrochen, welcher die bestehenden wirtschaftlichen Ungerechtigkeiten als eine unabänderliche Fatalität erscheinen liess, war dem menschlichen Forschergeiste die Bahn geebnet, deren Ursprung, ihre Entwickelung und Tendenzen festzustellen.

Man fand, dass das "Privateigentumsrecht" an Grund und Boden, an den angesammelten Schätzen gesellschaftlicher Arbeit — materieller wie geistiger — eine verbrecherische Ursurpation und Vergewaltigung sei, und zu dem Zwecke erhalten wird: die grosse Masse der Menschen mit ihrer Existenz von einigen Wenigen in Knechtschaft zu erhalten.

Einmal zu der Erkenntniss gelangt, dass jeder Einzelne der menschlichen Spezies von der Natur und ihren Bewegungsgesetzen gleich abhängig; dass alle Schätze das Produkt der Arbeit der gesammten Menschheit seit ihrer Entstehung sind, musste sich auch an diese Erkenntniss die logische Folgerung knüpfen: dass kein Mensch ein besonderes Anrecht auf die Erde und die gesellschaftlichen Reichthümer, weder durch Geburt noch persönliche Vorzüge habe, sondern dass dieselben das Gemeingut aller Menschen sind.

Die einschlägigen Forschungen ergaben ferner, dass die individuellen Capacitäten (Fähigkeiten) gleichfalls das Resultat der gesammten menschlichen Culturarbeit sind, mithin die individuellen Vorzüge einen Theil des culturellen Gemeingutes, und kein Vorrecht über seine Nebenmenschen bilden.

Damit war die prinzipielle Basis für den Sozialismus gegeben, dessen consequente Vertreter die Anarchisten sind.

***

Wir haben bereits in unseren früheren Artikeln gezeigt[1] wie die Anstrengungen: in der bestehenden Gesellschaft sozialistische Ideen zu verwirklichen, vergebliche sind, weil die prinzipielle Basis des herrschenden Gesellschaftssystemes in diametralem Gegensätze zu der prinzipiellen Basis des Sozialismus steht. Diese beiden Gegensätze sind unvereinbar. Man kann die Wirkungen des bestehenden Systemes nicht ohne deren Ursachen beseitigen.

***

Ist die Propaganda der sozialistischen Ideen wie wir dieselben oben in Kürze dargestellt das "Gift," durch welches die Völker und widerstehlich in Rebellion gegen das Bestehende gebracht werden, so ist die Propaganda für die Reformirung des Bestehenden das "Gegengift," durch welches die revolutionäre Wirkung des Ersteren wieder gebrochen wird. Dasselbe gilt auch von jener Propaganda, die wohl das ganze herrschende System bekämpft das neue System jedoch auf der alten Basis der Autorität (Volksstaat etc.) mit den damit verbundenen Staatseigenthum aufzubauen erstrebt. Dieses Bestreben heisst — um uns eines bekannten Vergleiches zu bedienen — "neuen Wein in alte Schläuche füllen."

Allein der Sozialismus hat, wie wir gezeigt eine weit revolutionärere Tendenz: er bedarf für seine neuen Ideen neuer Schläuche. Dies ist die logische Consequenz, welche sich nothwendigerweise aus der Kritik des Bestehenden von selbst ergibt.

Der Sozialismus einmal in dieser reinen unverfälschten Form von den Volksmassen erfasst, wird diese sich auch in unmittelbare Rebellion gegen das herrschende Gesellschaftssystem erheben und nicht eher ruhen, bis seine Basis: die Autorität und das Privateigenthum vernichtet ist, an deren Stelle sie die Solidarität und das Gemeineigenthum setzen werden.

Dabei macht die Menschheit keine "Sprünge," wie man uns von gewisser Seite immer dagegen einzuwenden versucht; denn es ist nichts als eine reife Frucht der menschlichen Erkenntniss, zu deren Entwickelung es bereits langer Jahrtausende menschlicher Culturarbeit, furchtbarster Kämpfe und unendlicher Erfahrungen bedurfte.

Somit sind wir bei der Frage angelangt: wie und auf welche Weise die Idee des Sozialismus am besten in die Volksmassen getragen werden kann? welche Frage wir in unserem nächsten Artikel beantworten werden.

II.

Sehr häufig wird uns Anarchisten von den "Glacéhandschuh-"Sozialisten und den wissenschaftlichen Pomade-Revolutionären der Vorwurf gemacht: wir seien zu "hastig," zu ungeduldig, wir wollten die Revolution "machen," bevor sich die Revolution vollziehe, müsse sich dieselbe erst faktisch in den Köpfen, d.h. in den Ideen der Menschen vollzogen haben.

Kein Vorwurf trifft uns ungerechter und unbegründeter als gerade dieser. Denn gerade wir Anarchisten suchen mit allen uns zu Gebote stehenden Kräften und Mitteln diese "geistige Revolution" zu befördern. Nachdem wir aus der Analyse der bestehenden Gesellschaft erkannt, dass künstlich gepflegte Vorurtheile und Unverstand der Völker die mächtigsten Factoren zur Erhaltung der herrschenden Ungerechtigkeiten sind, haben wir es als unsere (und jeden aufrichtigen Sozialisten) vornehmste Pflicht gehalten, dieselben in Wort und That zu bekämpfen. Gerade wir Anarchisten sind es, welche fort und fort darauf hingewiesen, dass das Heil der Menschheit nicht in einem Formenwechsel der bestehenden Gesellschaft gefunden werden kann, dass die Völker die Nothwendigkeit einer gründlichen Vernichtung des bestehenden Gesellschaftssystemes erkannt haben müssen, um zur wahren Freiheit und Gleichberechtigung aller Menschen gelangen zu können.

Indem wir unter den Enterbten und Geknechteten das Evangelium der Menschwerdung, der Freiheit predigen, suchen wir auch gleichzeitig den unversöhnlichsten Hass gegen die bestehende Gesellschaft, gegen alle Herrschaft in ihre Herzen zu pflanzen.

Wir suchen aber das herrschende System nicht nur durch die theoretische Negation, sondern, wo sich uns immer eine Gelegenheit bietet, nach Kräften mit aktivem Widerstand und Zerstörung zu bekämpfen, um so dem Volke die Mittel und Wege zu seiner Befreiung zu zeigen.

Würden bei den Menschen nicht die kleinlichen, engherzigen, selbstsüchtigen persönlichen Interessen eine so grosse Rolle spielen, so würde sich das bisher Gesagte ganz von selbst verstehen. Wer immer die bestehende Gesellschaft vom sozialistischen Standpunkte kritisirt, könnte keinen Augenblick den unzertrennlichen Zusammenhang des ganzen Systems vergessen und müsste daher stets zu der logischen Schlussfolgerung kommen: dass das einzige Mittel seine Wirkungen zu verhindern, oder doch abzuschwächen, in dessen vollständiger Vernichtung besteht.

Würde jeder Sozialst in seiner Propaganda nur diesen Standpunkt der Negation gegenüber dem Bestehenden consequent festhalten, so würde dies allein schon auf die Volksmassen einen unberechenbaren revolutionären Einfluss zur Folge haben. Die Macht der Thatsachen, welche sich in so empfindlicher Weise bei jedem Einzelnen im Volke fühlbar machen, würde täglich, stündlich die Richtigkeit der sozialistischen Lehren bekräftigen und sozusagen greifbar bestätigen.

Diese Propaganda der Negation erfordert jedoch einen hohen Grad von Energie und Selbstverläugnung, wenn sie, wie gesagt, consequent betrieben werden soll. Weder Schmeicheleien noch Drohungen, weder Conzessionen noch Repressionen, kurz alle Verführungs- und Gewaltmittel der herrschenden Klassen dürfen den wahren Sozialisten nicht von seinem Standpunkte der Negation abbringen. Er muss auf alle Eventualitäten vorbereitet, unentwegt und unerschrocken die ihm entgegen gestellten Hindernisse zu überwinden suchen. Wo immer die herrschende Klasse das Volk für Palliativen oder "Reformen" zu gewinnen sucht, haben die Sozialisten die Pflicht, dem Volke deren Nichtigkeit zu beweisen. Die grosse Masse wird vielleicht — oder sehr wahrscheinlich — Anfangs den Sozialisten nicht glauben; in ihren Vorurtheilen fanatisirt, dieselben verhöhnen, zurückstossen, wie es die englischen Arbeiter noch vor 4 bis 5 Jahren mit den sozialistischen Agitatoren machten; aber immer wird sie sich nach kurzer Zeit der Enttäuschung der Worte ihrer verkannten Freunde erinnern, bis sie durch die Macht der Thatsachen von der Unverbesserlichkeit der bestehenden Gesellschaft selbst überzeugt wird.

Einmal diese Ueberzeugung gewonnen, entspringt der Wunsch nach Beseitigung des Bestehenden, und mit diesem der aktive Widerstand gegen dasselbe ganz von selbst. Die anarchistische Bewegung zeigt dies zur Genüge. Zu Anfang, als die Anarchisten noch schwach an Zahl, vereinzelt in den verschiedenen Organisationen standen, bestand ihre Propaganda ausschliesslich in der theoretischen Negation des Bestehenden. Sobald ihre Ideen jedoch in den Massen feste Wurzeln gefasst, wurden sie unwillkürlich durch die, ihrer theoretischen Propaganda von den herrschenden Klassen entgegengesetzten Schwierigkeiten zum aktiven Widerstande gedrängt. Es ist dies eine unter den bestehenden Verhältnissen nothwendige Entwickelung der Dinge.

Im Verhältniss wie die Ueberzeugung von der Unverbesserlichkeit des Bestehenden im Menschen reift, fühlt sich auch jeder Einzelne mehr oder weniger zum aktiven Widerstande gegen dasselbe aufgereizt und dieser Widerstand kommt, je nach Umständen, individuell oder collektiv zum Ausdruck. Die herrschende Klasse fühlt dabei instinktiv den Todfeind ihrer Parasitenexistenz und setzt alle ihre Machtmittel in Bewegung, denselben zu vernichten. Der Zersetzungsprozess wird damit nur beschleunigt. Verstärkter Druck erzeugt verstärkten Gegendruck, bis die Catastrophe erfolgt.

Wir haben also vor den reaktionären Massregeln der herrschenden Klassen nicht zurückzuschrecken. In der That dienen dieselben schliesslich — ungewollt — nur der Sache der Revolution. Die wahren Revolutionäre haben sogar die Pflicht, unbekümmert um das Gezeter des politischen Demagogenthums, die herrschende Klasse zum nackten brutalen Despotismus zu zwingen, um ihr so die heuchlerische Maske herabzureissen und sie dem Volke in ihrer ganzen Scheusslichkeit — ihrer wahren Gestalt — zu zeigen. Es werden dabei viele Opfer fallen, sie sind aber unvermeidlich, denn solange die Volksmassen nicht mit Gewalt die ganze Ungeheuerlichkeit der bestehenden Gesellschaftsordnung erkannt, macht es keine Anstrengungen dieselbe zu beseitigen. Es lässt sich so lange immer und immer wieder täuschen.

Es werden viele Schwachherzige und Feiglinge der Sache untreu werden, aber die Revolutionen werden nicht von Feiglingen geschlagen.

Die Demagogen werden über "Handlanger der Reaktion etc." jammern, allein ihr Gezeter vermag die brausende Fluth der Revolution nicht mehr zu beschwichtigen.

"Das Alte stürzt und neues Leben blüht aus den Ruinen!"

III.

Die grössten Hindernisse für die wahrhaft revolutionäre Propaganda bilden die verschiedenen — einschliesslich der sogenannten revolutionären — Organisationen selbst, weil sie in der Regel einseitig sind.

Das Bewusstsein der Unhaltbarkeit der bestehenden Zustände ist bereits im Volke ein allgemeines. Allein der Mangel an Einsicht über den Zusammenhang des gesammten Gesellschaftsystemes, sowie auch die corrupte Meinungsmacherei der herrschenden Klassen führen in der Regel zu einseitigen Schlussfolgerungen. Die Einen finden das Hauptübel in dem grossen Einflüsse der Pfaffen; Andere in verfehlter Wirtschaftspolitik, und wieder Andere — und das ist die grosse Mehrheit der Unzufriedenen — in der schlechten Regierungsform. Alle die diversen Meinungen laufen darauf hinaus: durch eine Veränderung der Regierungsform die gesellschaftlichen Uebelstände zu beseitigen. So bilden sich auch die Organisationen mit der ausgeprägten Tendenz, ihre speziellen Ansichten zum herrschenden Prinzipe zu machen, d.h. jede dieser Organisationen sucht sich der Regierung, der Herrschaft zu bemächtigen, um ihre speziellen Wunderkuren an dem kranken sozialen Körper zu erproben.

Damit wird der revolutionäre Geist der unzufriedenen Volksmassen in eine vollständig falsche Bahn gelenkt, und zwar, weil sich 1) die Tendenz nach der Herrschaft, die mannigfaltigen, nur durch untergeordnete Differenzen temporär von einander getrennten, revolutionären Elemente in fortwährender eifersüchtiger feindlicher Reibung befinden, wodurch es den herrschenden Klassen leicht gemacht wird, mittelst Kunstkniffen (Protektion, Verhetzung etc.) die verschiedenen Organisationen im Schach, in Ohnmacht zu erhalten; 2) sind die Wirkungen des bestehenden Gesellschaftssystemes als Ursachen zur Unzufriedenheit und der Meinungen über die Ziele, Mittel und Wege zu mannigfaltige, als dass alle Unzufriedenen jemals in eine einheitliche Organisation gebracht werden könnten, und endlich 3) muss eine jede derartige Organisation naturgemäss zur Unterdrückung der individuellen Willens- und Aktionsfreiheit ihrer Mitglieder führen — ist also freiheitsfeindlich — weil ihre Existenz selbst schon die Anerkennung einer Autorität beweist. Ob diese Autorität in einem Generalrathe, oder einem Federations-Conseil, in Congressbeschlüssen oder sonstigen Urabstimmungsentscheidungen besteht, bleibt sich ganz gleich, es sind dies eben nur verschiedene Formen eines und desselben Prinzipes: die Unterordnung des Individuums unter eine Autorität. Welche Form man auch immer wählen mag, so gibt dieselbe fürs Erste den Einzelnen Gelegenheit, der Gesammtheit ihren persönlichen Willen aufzuoktroiren, und fürs Zweite wird dieselbe zum Erwürger der individuellen Initiative und Selbstständigkeit — der beiden wichtigsten Vorbedingungen der siegreichen sozialen Revolution.

Und ohne eine solche Autorität ist eine sogenannte "einheitliche Organisation" der revolutionären Volkselemente einfach undenkbar.

Die Zerstörung der alten Gesellschaft in allen ihren Grundfesten, Erhaltungs- und Vertheidigungsmitteln, erfordert ein so gewaltiges Aufgebot von Kämpfern und Kampfesmitteln, dass dieselben ganz unmöglich unter dem Hute einer Parteiorganisation Platz haben können. Wer nur einigermassen die tausendfältigen Situationen und Umstände bedenkt, in welchen die einzelnen Individuen, wie ganze Volksmassen, dem herrschenden Systeme unheilbare Wunden zu schlagen vermögen, wird von selbst zu der Einsicht kommen, dass eine einheitliche Organisation nur hinderlich, zumindest überflüssig ist.

Und, fragen wir, welche Organisation würde alle revolutionären Akte einzelner Individuen oder auch ganzer Massen verantworten wollen? — Haben wir nicht noch immer das feige Abschütteln revolutionärer Handlungen von allen bisherigen sogenannten revolutionären Organisationen gesehen, sobald sie für dieselben von den herrschenden Klassen verantwortlich gemacht worden? Und doch werden — und müssen oft — im revolutionären Kampfe Handlungen begangen werden, welche den alten moralischen Adam, selbst unter den Revolutionären, in’s Bockshorn jagen. Schon dadurch werden von einer solchen Organisation ihre kampfesmuthigsten und energischsten Mitglieder desavouirt. Dazu kommt aber noch, dass eine solche Organisation mit Rücksicht auf die "Justiz"-Gewalt der herrschenden Klassen solche Akte aus taktischen Gründen oder Klugheitsrücksichten wohl oder übel genöthigt ist zu verurtheilen oder doch zu mindest zu desavouiren. Die Folgen davon sind, dass sich der oder die betreffenden Thäter von seinen eigenen Genossen und Organisationsmitgliedern verläugnet und verrathen sieht, an sich selbst und der Sache verzweifelt; und viele Andere, anstatt zur Aktion ermuthigt, entmuthigt werden.

Nein, und tausendmal nein! nicht durch "einheitliche Organisation" wird revolutionäre Propaganda gemacht. Wir haben das Volk mit allen uns zu Gebote stehenden Kräften davor zu warnen.

Mit der Aufreizung zum Hass gegen das ganze bestehende Gesellschafssystem haben wir gleichzeitig die Selbstständigkeit und vollste individuelle Unabhängigkeit, mit einem Wort die Autonomie, zu pflegen und zu üben. Die alte Welt wird nicht auf Beschluss oder Commando zerstört und in eine neue, freie verwandelt werden; sondern das kann nur das Werk der Volksmassen mit ihren tausendfältigen Kraftmitteln individueller Initiative sein.

Wo gleiche Interessen vorhanden sind, wo der Hass gegen die Knechtschaft, die Herrschaft und Ausbeutung die Gefühle des Volkes beherrscht, da finden sich die Menschen, sobald sich irgend eine Gelegenheit zum gemeinsamen Handeln bietet, ganz von selbst in Massen zusammen. Da bedarf es keiner "einheitlichen Organisation," um sie zusammenzuführen. Und wo dieser gemeinsame Hass, das gemeinsame Ziel fehlt, werden, trotz aller Gelegenheiten und "einheitlichen Organisation,’’ die Massen nicht gemeinsam handeln.

Ebensowenig wird es an Verbindungen der revolutionären Elemente untereinander fehlen. Soweit und sobald das Bedürfniss vorhanden, mit Gruppen oder Individuen in Fühlung zu treten, wird eine solche auch gefunden.

Der Hass gegen die Herrschaft, die Liebe zur vollsten unbeschränktesten Freiheit! Das sind die beiden Pole, um welche sich die wahrhaft revolutionäre Propaganda drehen muss. Das sind Bande, welche die Menschen fester zusammenhalten werden als alle "einheitlichen Organisationen" der Welt; und es ist keine Gefahr, dass an Stelle der alten eine neue Herrschaft entsteht.

IV.

Aus unseren bisherigen Betrachtungen über die bestehende Gesellschaft, sowie die sozialistische Arbeiterbewegung im allgemeinen[2] dürfte bereits soviel klar geworden sein, dass erstens jede Anstrengung, die bestehende Gesellschaftsorganisation durch friedliche Reformen in eine gerechte, der Menschheit würdige zu verwandeln, nicht nur vergebens ist, sondern den faktischen Umwandlungsprozess verhindert. Den Völkern steht nur der einzige Weg — der gewaltsamen Revolution zu ihrer endlichen und definitiven Befreiung offen! Zweitens: dass die Völker bei diesem Umwandlungsprozess mit den alten Prinzipien der gesellschaftlichen Organisation vollständig zu brechen und an deren Stelle neue Prinzipien, welche mit der Natur und ihren Gesetzen im Einklänge stehen, zu setzen haben. Das Urprinzip der alten Gesellschaft ist die Autorität — Privateigenthum, Staat und Religion etc. sind eben nur verschiedene Formen, unter welchen sich das Autoritätsprinzip geltend macht — das Urprinzip der neuen Gesellschaft ist die Autonomie des Individuums. Damit ist dem revolutionären Theile der Völker heute schon die prinzipielle Basis für ihre Beziehungen unter einander gegeben, nämlich: vollste individuelle Freiheit in der Propaganda für die neuen Ideen, sowie im Kampfe gegen die alte Gesellschaft.

Man wirft uns Anarchisten häufig vor: "wir rechnen nicht mit den Menschen wie sie sind, sondern wie sie sein sollten." Auch dieser Vorwurf ist ebenso falsch wie ungerecht.

Gerade weil wir Anarchisten die Menschen nehmen "wie sie sind," haben wir die innerste Ueberzeugung, dass die, seit Jahrhunderten bevormundeten und versklavten Völker nicht über Nacht, auch nicht in wenigen Wochen, ihre vollste Selbstständigkeit im Denken und Handeln erlangen, dass sie hierfür langer praktischer Uebung bedürfen. Und gerade deshalb perhoresziren und bekämpfen wir heute schon jede Organisation, in welcher die Individuen, angeblich zur besseren Beförderung der revolutionären Sache, bevormundet werden.

Soll nach der Zertrümmerung der alten, eine wirklich freie Gesellschaft erstehen, so ist — wie wir schon so häufig betont — die erste Vorbedingung, dass zu mindest der aktivrevolutionäre Theil der Volksmassen selbstständig zu denken und zu handeln fähig sei. Diese Vorbedingung ist für die Bildung einer anarchistischen Gesellschaft von höchster Bedeutung, noch mehr würde sie es, nebenbei bemerkt, für eine autoritär-sozialistische sein. Denn gerade weil die Menschen aus der alten Gesellschaft eine Menge Laster mitnehmen, von welchen Ehrgeiz, Hab- und Herrschsucht die der Freiheit gefährlichsten sind, wäre den Völkern absolut keine Garantie geboten, ob die sozialistischen "Volksstaats-Beamten" — oder wie die neuen Herrscher dann heissen sollen — ihre Stellungen, Macht und Einfluss nicht ebenso zum Verderben der Völker missbrauchen, als wie die heutigen "Staatsbeamten" aller Regierangsformen! — Kurz, die Prinzipien der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit sind kein Mana, welches vom Himmel fällt und nur genossen zu werden braucht; sie müssen von jedem Einzelnen praktisch ausgeübt werden, und diese praktische Uebung kann und muss schon heute während des Kampfes gegen das Bestehende stattfinden.

Man betrachte sich nur wirklich die Menschen wie sie sind. Ist nicht die Gewohnheit geleithammelt zu werden, das heisst, der Mangel an Selbstständigkeit, das grösste Hinderniss der revolutionären Propaganda? Begegnen wir nicht immer und immer dem alten Einwande: Es müsse Leute geben, welche die Gesellschaft leiten? — Das ist das Resultat der Jahrtausende alten Knechtschaft, der immer mächtigeren und intensiveren Bevormundung der Volksmassen, die Macht der Gewohnheit, Andere für sich denken und handeln zu lassen; wofür die Völker denn auch stets und immer die Betrogenen sind. Diese Gewohnheit macht es den zungen- und federgewandten Volksbetrügern möglich, die Masse durch schöne Worte und Versprechungen zu bethören und sich so der Herrschaft über dieselbe zu bemächtigen. Ist diese Gewohnheit aber einmal gebrochen, ist auch nur ein Theil der Masse — was nur die energischsten, thatkräftigsten sein können — im Denken und Handeln selbstständig geworden, so ist den Heuchlern und Betrügern das Handwerk bald gelegt. Dieser Theil ergreift überall die Initiative zur thatsächlichen Umgestaltung der alten Gesellschaft, die grosse Menge mit sich fortreissend, ohne erst auf die Beschlüsse und Dekrete repräsentativer Körperschaften zu warten. Es ist dies die Entfesselung der revolutionären Volkskraft, welche in den Massen schlummert, der die Menschheit allein alle ihre wahrhaft culturellen Errungenschaften zu danken hat, welche in ihrer tausendfältigen Aeusserung niemals disciplinirt oder organisirt werden kann. Von den jeweiligen momentanen, örtlichen, eigenthümlichen Verhältnissen und Umständen bedingt, ist ihre Aeusserung überall eine spontane (unvorbereitete, plötzliche), diesen speziellen örtlichen Verhältnissen angepasste. Es vollzieht sich so gewissermassen ganz von selbst, das, was in seiner Totalität kein Einzelner, noch irgend eine Repräsentativ-Körperschaft zu fassen vermag, selbst wenn dieselbe aus den Besten der revolutionären Geister zusammengesetzt wäre.

"Oh," wird man uns einwenden, "das wird ein Chaos werden." — Gewiss! aber ein wunderbar herrliches Chaos, in welchem sich die Völker endlich frei, ihrer Kraft und Würde bewusst, ihre soziale Zusammengehörigkeit fühlen werden. Die geistigen und materiellen Bedürfnisse in Harmonie mit den guten sozialen Sitten werden die Menschen mit Banden der Liebe und Brüderlichkeit verknüpfen, welche von Jedem frei und ungehindert wieder gelöst und erneuert werden, bis sie sich aus diesem Chaos zu einem Gebilde der sozialen Harmonie entwickelt haben.

Wir glauben nach dem bisher Ausgeführten nicht nöthig zu haben, uns speziell mit der so oft aufgeworfenen Dictaturfrage zu beschäftigen. Die Dictatur ist nichts als die äusserste Condensation (Verdichtung) des Autoritätsprinzipes und steht somit im diametral feindlichen Gegensätze zum Freiheits- und Gleichheitsprinzipe. Sie ist das non plus ultra der centralistischen Organisation. Wir werden in der nächsten Artikel-Serie: "Die soziale Revolution," noch Gelegenheit haben, auf die sogenannte "praktische Seite" dieser Frage zu sprechen zu kommen.

Eine wichtigere Discussionsfrage sind die revolutionären Kampfesmittel oder die sogenannte "Propaganda der That," welches Thema wir in nächster Nummer behandeln werden.

V.

Wer die Arbeiterbewegung der letzten Jahre mit einiger Aufmerksamkeit beobachtet hat, dem wird unwillkürlich die sich überall steigernde Neigung zur Gewalt und der Benützung von Gewaltmitteln im Kampfe gegen die bestehende Gesellschaft aufgefallen sein. Die Dynamit-Attentate in Anzin und Lyon, die Attentate und Krawalle in Wien und Brünn, die Attentate in Deutschland, die Aufstände in Belgien, Decazeville, England, die Kämpfe in Amerika mit dem schliesslichen Bomben-Attentat in Chicago; sie alle bilden ja nur eine einzige Kette ausgebrochener Conflikte zwischen Unterdrückern und Unterdrückten. Ob einzelne Individuen gegen die Vergewaltigungen der herrschenden Klassen rebellirten, wie Stellmacher, Kammerer, Reinsdorf, Lieske u.s.w.; oder ob diese Konflikte von der Arbeitermasse selbst, wie in Decazeville, Belgien, London etc. ausgingen; ob die Arbeiter in der Offensive oder Defensive waren, ist hier Nebensache. Hauptsache ist für uns die einfache Thatsache, dass alle diese Akte, Akte der Selbsthilfe, der Nothwehr gegenüber der bestialischen Gewaltherrschaft der herrschenden Klassen waren. Endlich, dass sich diese gewaltsamen Conflikte zwischen Arbeitern und Ausbeutern in allen Ländern ohne Unterschied der Regierungsform vollzogen und in den sogenannten "politisch freien" Ländern am heftigsten auftraten. Diese Konflikte resumiren die ganze Philosophie unserer sozialpolitischen Zustände in drei einfachen Worten:

Gewalt gegen Gewalt!

In der That löst sich die taktische Tendenz des gewaltigen modernen Emanzipationskampfes in dieser einfachen Formel auf.

Das gesammte Wirthschafssystem, der gesammte politische und moralische Herrschafts-Apparat beruht, wie wir bereits in unseren vorhergehenden Kapiteln dargelegt haben, auf der rohen brutalen Gewalt. Durch Gewalt wird der Mensch, kaum dem Mutterleibe entbunden, einer Verdummungscorporative (Religion) eingereiht; mit Gewalt wird sein junger plastischer Geist in den Schulen verkrüppelt; mit Gewalt wird er in Noth und Entbehrung erhalten und unter das Thier degradirt; mit Gewalt wird er zum Menschenschlächter dressirt, um auf Commando Derer, welche ihm Alles, selbst seine Menschenwürde geraubt, Seinesgleichen mit kaltem Blute zu massacriren; und mit Gewalt wird er gleich einer wilden Bestie in dumpfe Käfige geschlossen, gehezt und verfolgt, oder gemordet, sobald er es wagt, seine Menschenrechte geltend zu machen, sich gegen diese "Ordnung" aufzulehnen!

Wir haben gezeigt, dass die sogenannten "Rechte" und "Freiheiten" der Völker trügerische Chimären sind; solange gut, als sich das Volk dabei geduldig zur Schlachtbank des Kapitals oder des "Vaterlandes" führen und das Mark aus den Knochen, die Haut über die Ohren ziehen lässt; hinter all den glänzenden Schildern, wie Civilisation, Freiheit und Gerechtigkeit etc. versteckt sich die roheste, brutalste Gewalt!

Seht die glänzendsten Blüthen dieser Civilisation. — Millionen Menschenmordwerkzeuge jeden Augenblick bereit in den Eingeweiden der Völker zu wühlen; eine Legion roher blutdürstiger Schergen zur Aufrechthaltung dieser "Ordnung" jeden Augenblick das Leben, die Existenz, die Freiheit der rechtschaffenen und Gerechtigkeit liebenden Menschen bedrohend; die Kasernen, Zuchthäuser und die Bagnos des Kapitals; und über Allen thront eine sittlich und moralisch verfaulte Parasitenklasse, welche in den zu Gold und Purpur geschmolzenen Mark und Knochen des arbeitsamen Volkes glänzt!

Das ist die Civilisation und Kultur dieser Gesellschaft, welche mit schönen Worten von Freiheit und Gerechtigkeit oder wie die kindischen Schwärmer zu sagen lieben: mit "geistigen Waffen" bekämpft und vernichtet werden soll? — ! — Wahrlich! nur Idioten oder Schelme können so dem Volke rathen. Angesichts solcher grausamer Gewaltherrschaft ist die Gewalt das einzige, wirksame Mittel! Das hat das Volk in seiner einfachen Logik erkannt, darum jene Gewaltakte der Selbsthilfe, der Nothwehr.

***

Freilich schlagen die herrschenden Klassen und Solche, die es werden wollen, jedesmal, so oft das Volk zu Gewaltmitteln greift, ein entsetzliches Wuthgeheul an; schreien: "Mord," "Raub," ‘‘Verbrechen," welche durch Volkesblut gesühnt werden müssen! Alle Hebel werden in Bewegung gesetzt; Presse und Katheder, Pfaffen in Kutte, Frack und Bluse suchen dem Volke plausibel zu machen, dass die Gewaltanwendung sein Verderben, dass Kultur und Civilisation dadurch vernichtet werden und der einzige Weg der der "ruhigen und friedlichen Entwickelung" sei. "Die Zeit der Barbarei ist vorüber," rufen die "Ordnungs"-Apostel, "wir leben nicht mehr in der Zeit des Faustrechtes. Aufklärung und Wissenschaft, das sind die Waffen, mit welchen ein freies Kulturvolk seine Rechte vertritt!" Das ist der heuchlerische Refrain der modernen Bourgeoispolitik, welcher von allen politischen Gauklern dem nach Gerechtigkeit ringenden Volke vorgeleiert wird.

Währenddem packen die Schergen der herrschenden Klassen das Volk mit brutaler Faust bei der Kehle, erwürgen es, schleppen es auf die Schafotte oder in die Kerker, oder brennen seine Hütten nieder u.s.w. Das kampfesmuthige Volk beugt seinen Nacken wieder geduldig unter das alte Joch, bis ihm, die Geduld abermals reisst und es wieder zur Gewalt seine Zuflucht nimmt.

Und wer diese Zustände einmal erkannt hat, der kann und muss jedes Mittel gut heissen, welches dem herrschenden System, oder seinen Trägern eine Wunde schlägt; dem muss jedesmal das Herz vor Freude hüpfen, so oft die herrschende Klasse über einen Gewaltakt des Volkes, oder der Revolutionäre, vor "moralischer Entrüstung" tobt, weil ihm das beweist, dass sie eine solche Wunde erhalten hat.

***

Die Arbeiterbewegung hat längst aufgehört, ein Kampf um die Herrschaft eines neuen (des vierten) Standes zu sein. Sie ist zu einem Klassenkampf im vollsten und reinsten Sinne des Wortes geworden, zu einem Kampf zwischen Besitzenden und Nichtbesitzenden, zwischen Unterdrückern und Unterdrückten! Und wo immer diese Gegensätze in einen gewaltsamen Konflikt kommen — ob individuell oder collectiv — so ist dies ein Ausdruck des Klassenkampfes.

Allein hierbei ist unser Standpunkt wiederum wesentlich verschieden von dem der autoritären (Volksstaats-)Sozialisten. Dieselben vertreten noch den Standpunkt, dass das Proletariat, als vierter Stand, sich der Herrschaft zu bemächtigen habe, um durch diese Herrschaft die Reorganisation der Gesellschaft zu vollziehen; während wir Anarchisten die Umwandlung des bestehenden Gesellschaftssystemes unmittelbar durch das Volk vollzogen wissen wollen. Während die autoritären Sozialisten z.B. die Verwandlung des Privateigentums in Gemein- oder Nationaleigenthum erst durch eine vorher vom Volke gewählte Regierung vornehmen und durch dieselbe die wirthschaftlichen Beziehungen regeln wollen, stehen wir Anarchisten auf dem Standpunkte, dass das Volk überall und sofort im Kampfe von allen in seinem Bereiche liegenden Gütern Besitz ergreife, die zum freien Genüsse Aller gestellt werden.

Diese Verschiedenheit des Standpunktes über den Umwandlungsprozess der alten in eine neue Gesellschaft — worauf wir übrigens später eingehender zu sprechen kommen werden — bedingt auch eine wesentliche Verschiedenheit in der gegenwärtigen Propaganda. Die autoritären Sozialisten bestreiten dem Individuum oder den einzelnen Gruppen das Recht, heute schon eine Expropriation (Enteignung) der besitzenden Klassen vorzunehmen, sie bezeichnen dies, gleich den herrschenden Klassen, als "Diebstahl" etc., während wir Anarchisten dieses Recht, sowie überhaupt das Recht der individuellen Selbsthilfe vertheidigen.

Wir werden diesen Punkt in unserem nächsten Artikel besprechen.

VI.

"Jeder einzelne Sklave, jeder einzelne Leibeigene hat so gut als ein ganzes in Sklaverei oder Leibeigenschaft gehaltenes Volk das Recht, die Fesseln zu brechen, in welchen fluchwürdige Gewalthaber ihn halten. Die einzelnen Menschen wie ganze Völker haben dazu nicht bloss ein Recht, sie haben die Pflicht, ein Joch, welches ihre Entwickelung hemmt, oft ganz unmöglich macht, abzuschütteln.“[3]

Diese von gesunder Logik zeugende These schrieb Struve in seiner Weltgeschichte über die Bauernkriege, und Struve kann gewiss nicht als ein "fanatischer Anarchist" bezeichnet werden. Ueberhaupt wurde das Recht des Einzelnen : gegen ein drückendes Sklavenjoch zu rebelliren, zu allen Zeiten und bei allen Völkern anerkannt. Erst unserer "Civilisation," besonders unserer Bourgeois-"Kultur" blieb es Vorbehalten, dasselbe streitig zu machen; und charakteristisch genug : die Vertreter des autoritären Sozialismus stehen in dieser, wie in vielen anderen Fragen, auf demselben Standpunkte. Auch sie bestreiten dem einzelnen Individuum das Recht, gegen die bestehende Ordnung zu rebelliren, dem erdrückenden Sklavenjoche Gewaltmittel entgegenzusetzen. Getreu den Maximen der Bourgeoispolitik suchen sie in ihren Lehren und Organisationen die Individualität des Menschen, die individuelle Thatkraft, die individuellen Rechte aufzuheben, der Collektivität unterzuordnen, welche in den jeweiligen Majoritäts-Entscheidungen ihren Ausdruck finden soll. Das ist eine rechtliche Ungeheuerlichkeit! — Wir wollen dies durch ein Beispiel illustriren:

In einer Gemeinde (einerlei ob gross oder klein) ist es einem Individuum oder einer Anzahl Individuen gelungen, durch Lüge, Heuchelei und List die Gemeinde um ihre heiligsten Rechte zu betrügen; die Majorität glaubt, es geschähe alles zum allgemeinen Besten und steht auf der Seite ihrer eigenen Verderber. Ein oder zwei Mitglieder durchschauen die Betrüger, sie sind aber ohnmächtig, die Majorität davon zu überzeugen. Sollen sich, fragen wir nun, diese ein oder zwei Mitglieder geduldig unter den blinden Willen der Majorität beugen und mit stoischer Ergebenheit ihr eigenes, sowie der Gemeinde Verderben ertragen; oder haben sie das Recht, oder die Pflicht, die Betrüger, wenn es sein muss durch deren gewaltsame Tödtung, unschädlich zu machen, um die Gemeinde vor dem Verderben zu retten? — Wer kann die Stirne haben, dieses Recht streitig zu machen? — Gewiss nur derjenige, der sich die Hoffnung macht, oder die Absicht hat, die Rolle des Betrügers zu übernehmen!

In der gleichen Lage befindet sich die heutige Gesellschaft. Einigen Wenigen ist es gelungen, durch List, Lüge und Gewalt die Majorität der Gemeinde um ihre heiligsten Rechte zu betrügen, die Majorität sieht in ihrer Blindheit nicht den Abgrund, welchem sie zugeführt wird, und die Wenigen, welche die Gefahr erkannt, sind ohnmächtig, die Majorität davon zu überzeugen. Diese Wenigen befinden sich im Falle der Nothwehr, der Selbstverteidigung. Jeder Einzelne davon hat daher seiner Selbsterhaltung willen das unbestreitbare Recht und im Interesse der Gemeinde die Pflicht, die Verderber zu vernichten, oder mit allen Mitteln zu deren Unschädlichmachung und Vernichtung beizutragen.

Das der Menschheit verderblichste und erdrückendste Joch ist das ökonomische. Der grossen Masse wurden von einigen Räubern alle sozialen Güter, die Früchte ihrer eigenen Arbeit geraubt. Diese Güter werden obendrein von den Räubern dazu benützt, die Völker auch in politischer und sozialer Sklaverei zu erhalten. Einzelne Individuen oder Gruppen sind daher ebenso berechtigt, die Räuber zu Gunsten der Gesammtheit zu expropriiren, wie ganze Gemeinden oder Majoritäten. Dieses Recht ist ein natürliches, dem Menschen unveräusserliches, wie das Recht auf Luft und Licht, welches weder an herrschende Klassen noch an Majoritäten veräussert oder abgetreten werden kann.

Ist das Individuum, dem eine gewissenlose Ausbeuterklasse alle gesellschaftlichen Genüsse geraubt, berechtigt, sich die Mittel zur Erhaltung seiner Existenz selbst mittelst Gewalt zu nehmen, wieviel berechtigter ist mithin der Revolutionär, in gleicher Weise die Mittel für den Emanzipationskampf der in schmachvollster Knechtschaft schmachtenden Völker zu beschaffen! — Deshalb mögen die Pfaffen der herrschenden Bourgeoismoral darüber noch so viel Zeter und Mordio schreien; mögen die Pfaffen des "wissenschaftlichen" Sozialismus darüber aus "sittlicher Entrüstung" bersten, wir werden stets auf der Seite derer stehen, welche, einzeln oder in Massen, durch die That die Sklavenketten zu brechen suchen. Wir applaudiren jeder Rebellenthat gegen das herrschende System, ob dieselbe gegen die ökonomische oder politische Knechtschaft, gegen das System oder seine Träger und Vertheidiger gerichtet war; ob dieselbe von Gesinnungsgenossen oder aus der grossen Masse der uns noch fernstehenden Kreise ausging. Wir fordern das Volk zur Empörung, zum gewaltsamen Kampfe gegen die bestehende Sklaverei auf, weil dies der einzige Weg zu seiner Befreiung und gleichzeitig die beste Schule zur Selbstständigkeit ist.

Diese einzelnen Kämpfe sollen aber nicht nur ein Ausdruck des aktiven Widerstandes gegen das herrschende Sklavenjoch, sondern auch gleichzeitig eine Vorbereitung für den kommenden grossen Entscheidungskampf sein, durch welchen sich die Völker von aller Knechtschaft befreien und die Basis für eine wahrhaft freie Gesellschaft zu gründen haben. Deshalb ist es unsere Pflicht, die Völker auf die nothwendigsten und wichtigsten Massregeln: die Expropriation und die Vermeidung aller autoritären Institutionen, aufmerksam zu machen, wo immer es zu Conflikten zwischen Unterdrückten kommt, sollen sie das Gepräge der neuen Welt im Kampfe mit der alten tragen. Das ist es, was wir unter der "Propaganda der That" verstehen.

Den unversöhnlichsten Hass gegen die bestehende Ausbeutung und Herrschaft des Menschen durch den Menschen in die Herzen der Völker zu pflanzen; dieselben zum rücksichtslosen Kampfe gegen die Tyrannei, gegen das Privateigenthum, gegen deren Träger und Schergen aufzumuntern und zu begeistern; die vollste individuelle Autonomie und Selbstständigkeit zur höchstmöglichsten Entfaltung zu bringen; das ist es, was wir unter revolutionärer Propaganda verstehen.

Anmerkungen:
[1] Siehe die Artikel " Anarchie und praktischer Sozialismus," Nr. 6 bis 12.
[2] Siehe Nrn. 6 bis 14 dieses Blattes.
[3] Struve’s "Weltgeschichte," Band VII., § 7, Seite 48.

Aus: Insgesamt sechsteilige Artikelserie aus: Die Autonomie. Anarchistisch-communistisches Organ. No. 13-18 2. Jahrgang, 1887

Originaltext: http://anarchistischebibliothek.org/library/revolutionare-propaganda


Creative Commons - Infos zu den hier veröffentlichten Texten / Diese Seite ausdrucken: Drucken



Email