Programm- und Parteikultus (1886)
Seit der grossen französischen Revolution ist die Geschichte der Revolutionen, wie viele andere Zweige des menschlichen Wissens, eine sogenannte „populäre Wissenschaft“ geworden. Die herrlichsten Züge der Hochherzigkeit und Grossmuth, der heroischen Aufopferung für die hehrsten Ideale der Menschheit, welche in den Massen der Völker leben; und bei allen revolutionären Epochen in so markanter Weise zum Ausdruck gelangen, können durch alle Schmähungen reaktionärer Soldknechte in dem Andenken der Völker nicht mehr verdunkelt werden. Ebensowenig, wie die Thatsache, dass die Fluth dieses Massengeistes, all' die engherzigen Parteiprogramme mit den faulen Einrichtungen der alten Gesellschaft hinweggeschwemmt, hat, um Platz für die Ideen der Gesammtheit zu machen.
Es sind dies Momente, welche jeden wahren Menschenfreund mit Wonne entzücken; Momente, in welchen sich die so lang und viel verachteten Volksmassen ungefesselt in ihrer wahren Grösse zeigen; Momente, welche wie Sonnenstrahlen in der dunklen Geschichte der Menschheit glänzen! Aber diese Momente waren kurz; sie dauerten nicht länger, als bis sich an Stelle der alten eine neue Herrschaft etablirt hatte. Denn kaum, dass die alte Herrschaft gebrochen, drängt sich irgend eine Klique oder Partei in den Vordergrund, um dem Volke plausibel zu machen, dass es zum „Schutze“ seiner Freiheit einer Leitung, Regierung etc. bedürfe. So wurde die Freiheit der Völker „beschützt“ bis auf den heutigen Tag, wo der Mensch kaum mehr seine Nothdurft ohne polizeiliche Erlaubniss verrichten darf, wo Zuchthäuser und Kasernen die hervoragendsten Monumente der modernen Civilisation bilden! —
Abermals stehen die Völker am Vorabend einer Revolution und abermals suchen sich sogenannte revolutionäre Parteien in den Vordergrund zu drängen; um nach dem Sturze der alten Herrschaft und deren unzertrennlichen Begleiterin der Knechtschaft, die Freiheit der Völker durch ihre Herrschaft zu „beschützen“. Da zeigt sich wie wenig die Geschichte der Revolutionen „populär“[1] ist. Sonst müssten die Völker längst begriffen haben, dass Herrschaft mit Freiheit unvereinbar und die Freiheit durch keine Herrschaft — sei sie auch eine sozialistische — geschützt werden kann.
Die Freiheit ist nur in der Herrschaftslosigkeit, in der Anarchie möglich. Wer volle und ganze Freiheit für alle Menschen will, darf sich auch nicht in die enge abgesonderte Isolirschschtel einer Parteiorganisation begeben, sondern er muss ein Glied der Gesammtheit sein, mit und in dieser athmen und fühlen, handeln und agitiren. Jede, von der Masse abgesonderte Parteiorganisation entfremdet deren Mitglieder von der Gesammtheit, erzeugt Sonderinteressen und ist eine Brutstätte der Autorität und Knechtschaft.
Man werfe einmal einen unbefangenen Blick auf all’ die sozialistischen Parteiorganisationen und deren Früchte, welche sie gezeitigt haben. Persönlicher Neid. Herrschsucht, Hass, Zwietracht etc. sind die gewöhnlichsten Erscheinungen, welche sich da breit machen. Die Menge, welche sich wirklich aus selbstloser Absicht, nur der Sache willen anschliesst, und im autonomen Wirken Grosses zu leisten im Stande wäre, reibt im kleinlichen, gehässigen Parteikriege ihre Kräfte auf: Tausende werden dadurch entmuthigt, Pessimisten, und Alles auf Kosten der Sache der Revolution, der Befreiung der Völker! Man war bis heute selbst in socialistischen Kreisen gewohnt die Ursachen in den einzelnen Personen zu suchen, gerade wie der flachköpfige Politiker die „schlechten Zeiten“ in dieser oder jener Regierungsform, in diesen oder jenen Ministern sucht, anstatt dieselben im Systeme der Organisation zu suchen. Umsomehr als es noch keine einzige Parteiorganisation gegeben, welche nicht an denselben Gebrechen gelitten hätte.
Die Erklärung hiefür ist sehr einfach:
Der erste Schritt einer sich bildenden Partei ist die Abfassung eines Programmes, Plattform u.s.w., wie das Ding genannt wird. Darin werden nun die Gegenwarts- und Zukunftsideen von einigen Personen formulirt. Die Verfassung oder das Parteigrundgesetz ist fertig. Alles, was nach Freiheit und Gleichheit strebt soll darauf schwören. Alle Hebel werden in Bewegung gesetzt, dieses Machwerk als die Ausgeburt aller menschlicher Weisheit, als eine „Offenbarung“ zu preisen und nicht lange dauert es, so wird das Ding ein Dogma für die Parteigenossen. Der Entwicklungsgang ist ganz genau derselbe wie bei allen „Verfassungen“. Jeder legt sich dieselbe aus, wie es ihm am besten passt oder gefällt. Allmählig entwickeln sich einige „hervorragende“ Vertreter dieses Programmes, welche dann die Parteiorakel bilden. Selbstverständlich muss eine jede Partei ihr „Parteiorgan“ besitzen, in welchem die Prominenten ihre Prälatenweisheit auskramen und unwillkürlich hat sich eine Parteiherrschaft entwickelt, welche wie Bleikolben auf den Bewegungen der Masse der Partei lastet. Wehe dem, der an diesen Institutionen dann zu rütteln wagt oder auch nur sich eine ernste Kritik dieser Organisation erlaubt, er wird gleich den heutigen „Staatsverbrechern“ des Hochverraths an der Partei angeklagt und in Ermangelung von Parteikerkern mit Schimpf und Schande ausgestossen! Kurz diese Parteiorganisationen sind der getreue Miniaturabdruck des herrschenden Staatssystemes, mit allen seinen Ursachen und Wirkungen. Man tritt dabei die erste Vorbedingung der Freiheit, die Bewegunsfreiheit des Individuums, mit Füssen; man schlägt der Gleichheit mit einem Todtschläger ins Gesicht, weil jedes Mitglied nur das thun soll, was von einigen Hohenpriestern der Partei für gut befunden wird. Durch eine gewisse Monopolisirung der Parteipresse ist man sogar im Stande eine Gedankencensur auszuüben, wie sie im Mittelalter nicht schlimmer war. Man beachte nur das jedesmalige Gezeter am Parteicapitol, sobald irgendwo die Anhänger einer Partei ein Blatt herausgeben, welche nicht vorher von dort den päpstlichen Segen empfangen hatte.
Wir sind durchaus keine Gegner von Organisation. Wir betrachten es vielmehr als eine gute und selbstverständliche Sache, wenn Menschen mit gleichen Zielen und gleichen Gesinnungen sich enger aneinander schliessen, sich durch ihre gegenseitige Fühlung moralisch ermuthigen, immer und überall, wo ihre Ueberzeugung, ihr freier Wille, ein gemeinsames, geschlossenes Hand in Handgehen erheischt, als ein geschlossenes Ganzes in Aktion treten. Wir sind jedoch der Meinung, dass es hiezu keiner geschlossenen Parteiorganisation mit gebundener Marschroute bedarf, sondern dass dies Alles auf der Basis der autonomen Gruppierung, unter Gleichgesinnten und Gesinnungsverwandten ganz von selbst geschieht.
In der autonomen Gruppierung ist für ehrgeizige Parteistreber kein Raum mehr vorhanden, die Individuen wie die Gruppen selbst werden durch die Macht der Umstände gezwungen im steten Contakte mit den Volksmassen selbst zu bleiben und nicht wie in den Parteiorganisationen, von denselben abgesondert werden; sie werden dadurch selbstständig im Denken und Handeln und, durch die Wechselwirkung von und auf den Geist der Massen, stets ein getreues Spiegelbild der Volksmassen und ihrer Ideen in all' deren Mannigfaltigkeit bilden. Endlich werden sie sich die für die Harmonie einer freien Gesellschaft so nothwendige Respectirung anderer Meinungen bei ehrlichem Wollen aneignen, und jene für die Sache des Volkes so furchtbaren Parteikriege innerhalb des nach Freiheit ringenden Volkes werden zu Ende sein.
Das Prinzip der Freiheit kann niemals in die Zwangsjacke einer Parteiorganisation gepresst werden; es umfasst die gesammte Menschheit und nicht den kleinen Bruchtheil einer Partei! Wir kämpfen auch nicht für eine Partei, sondern für alle unterdrückten Menschen, damit jeder Einzelne frei und ungehindert von den Früchten einer freien Gesellschaft geniessen könne.
Darum fort mit allen Brutstätten der Autorität! Fort mit allem Partei- und Programmkultus!
Anmerkung:
[1] Allgemein verständlich.
Aus: Autonomie. Anarchistisch-communistisches Organ. Nr.3, 1. Jahrgang, 4. Dezember 1886
Originaltext: http://anarchistischebibliothek.org/library/programm-und-parteikultus