Augustin Souchy - Wolfgang Harich, ein Theoretiker revolutionärer Ungeduld

Obwohl mit beiden Beinen auf dem schwankenden Boden des dialektischen Marxismus stehend, scheuen sich viele Linksrevolutionäre unserer Tage, sich Marxisten zu nennen, denn sie wollen nicht mit den Diktatoren des Ostens identifiziert werden, die lange vor ihnen den Marxismus monopolisiert haben. Auf der Suche nach einer Theorie, die ihrem unausgegorenen Wunschdenken als anziehendes Etikett dienen könnte, fanden sie im Anarchismus eine Gesellschaftsphilosophie, deren dogmenfreie pluralistische Vielseitigkeit ihnen wie gerufen kam. Das gab nun dem Fachdogmatiker Wolfgang Harich, der, selbst nach jahrelangem kommunistischen Karzer, an seinen marxistischen Wahnvorstellungen nicht irre geworden ist, willkommenen Anlaß, ein Buch mit dem Titel „Zur Kritik der revolutionären Ungeduld“, eine Abrechnung mit dem alten und dem neuen Anarchismus (edition etcetera, Basel, Schweiz) zu veröffentlichen.

Harichs dogmatische Engstirnigkeit kann auch durch seinen gewandten Stil nicht kaschiert werden. Sein geistiger Horizont ist nicht über den Glauben an die vor mehr als einem Jahrhundert von Karl Marx ausgedachten, inzwischen aber durch Tatsachen widerlegten Prophezeiungen hinausgekommen. Für ihn ist die Geschichte der Menschheit, wie für jeden Marxisten, die Geschichte von Klassenkämpfen, eine Interpretation, die nicht weniger subjektivistisch ist als die idealistische Geschichtsauffassung, als die von Eugen Dühring oder die von Arnold Toynbee. Nach der marxistischen Interpretation, die bei der europäischen Antique einsetzt, den fernen Osten aber und den neuen Kontinent außer Acht läßt, beginnt die Geschichte mit der Sklaverei des Altertums, durchläuft die Etappen des Feudalismus und des Kapitalismus und endet mit dem Siege des Sozialismus. Zwischen Kapitalismus und Sozialismus liegt aber, laut der Interpretation, eine angeblich proletarische Diktaturperiode, deren Dauer die marxistisch doktrinären Staatsmänner bestimmen, die selbst keineswegs das Leben von Proletariern führen, sondern machthungrige Bürokraten sind. Wer sich ihrem Diktum nicht unterwirft, ist ein von revolutionärer Ungeduld besessener Anarchist.

Das ist, kurz skizziert, die These, die Harich in seinem Buche mit einem nicht geringen Aufwand von Zitaten und mit mehr impertinenten als pertinenten Reflexionen vorträgt. Um sich eine günstige Diskussionsbasis zu sichern, konzediert Harich den Anarchisten, daß auch der Marxismus letzten Endes die Freiheit bzw. die Ordnung erstrebe, in welcher die Beherrschung von Menschen über Menschen nicht mehr existiert. Diese Behauptung ist, selbst wenn ihr Verteidiger daran glaubt, eine demagogische Finte. Marxismus und Anarchismus gehen nicht nur bei Wahl ihrer Strategie und Kampfmittel getrennte Wege, sie unterscheiden sich auch in ihren Fernzielen. Der Marxismus etabliert, wenn er zur Macht kommt, eine monoforme, formal geschlossene Wirtschaftsordnung; für den Anarchismus ist die Tendenz zur Verwirklichung von immer mehr Freiheiten und rascherem Fortschritt der Kardinalpunkt. Nach anarchistischer Auffassung sind multiforme Wirtschaftsgemeinschaften die Voraussetzung für gesellschaftliche und individuelle Freiheiten.

Harich sieht in der Propaganda der Tat (oder durch die Tat) den typischen Ausdruck anarchistischer Revolutionsungeduld. Er ist aber nicht so ignorant, um nicht zu wissen, daß das anarchistische Weltbild von Godwin über Kropotkin bis zu Tolstoi und Gustav Landauer mit Gewaltanwendung nichts zu tun hat. Er weiß auch, daß Attentäter, die im Namen des Anarchismus Gewalthandlungen verübten oder verüben, ebenso wenig als anarchistische Theoretiker betrachtet werden können wie sozialdemokratische oder kommunistische Wähler, die ihren Stimmzettel für eine marxistische Partei abgeben, marxistische Ideologien zu sein brauchen.

Der größte Revolutionär des vorigen Jahrhunderts, Michael Bakunin, der bei seiner revolutionären Aktivität nicht an bloße Propaganda dachte, sondern die soziale Transformation ins Auge faßte, bekannte sich zu einem freien Sozialismus auf der Grundlage selbständiger Kollektivwirtschaften und autonomer miteinander föderierter Gemeinden. Als Gegner des Staatskommunismus verwarf er die Idee der Errichtung eines kommunistischen Parteistaates, in dem er nichts anderes als ein Unterdrückungsinstrument sah. Die Geschichte hat ihm recht gegeben.

Jean Grave, den Harich als Kronzeuge der Propaganda durch die Tat des alten Anarchismus anführt, war kein Schöpfer einer anarchistischen "Ungeduldstheorie", die es gar nicht gibt. Wenn Grave gelegentlich gegen dilatorische Vertröstungen heuchlerischer Calotins oder eigennütziger Politikaster zu direkten Aktionen aufrief, dann dachte er nicht im entferntesten an eine revolutionäre Ungeduldsstrategie, wie ich mich bei meinen Gesprächen mit ihm vor fünfzig Jahren überzeugen konnte. Wenn aber die Aktivität Cohn Bendits bei den Pariser Studentenunruhen 1968 Herrn Harich als Beweis für die revolutionäre Ungeduld des neuen Anarchismus herhalten soll, dann müßte Daniel Cohn Bendit sich selbst zunächst zum Anarchismus bekennen, was er bekanntlich nicht getan hat. Stützt Harich seine These der revolutionären Ungeduld auf Ignoranz, dann hätte er besser schweigen sollen. Treibt ihn aber der Stachel dogmatischer Rechthaberei zu unfairer Polemik und leichtfertigen Behauptungen, dann darf er keinen Anspruch auf Glaubwürdigkeit erheben.

Das Problem hat aber noch einen anderen Aspekt, den Harich wohlweislich mit Schweigen übergeht: sein den Anarchisten gemachter Vorwurf revolutionärer Ungeduld trifft in viel größerem Maße die russischen Bolschewisten, vor allem Lenin selbst, wenn man ihn unter dem Gesichtspunkt der marxistischen These von der proletarischen Revolution als Folge der kapitalistischen Konzentration bzw. Akkumulation betrachtet. Marxistisch gesehen hatte das zaristisch agrarische Rußland 1917 noch nicht die für die soziale Revolution erforderliche Reife erreicht. Nach der marxistischen Theorie sollte doch die vorhergesagte Revolution in den höchst entwickelten kapitalistischen Ländern zuerst ausbrechen. Auf diesen Widerspruch hatte bereits 1919 Karl Kautzky hingewiesen. Die russischen Anarchisten brauchten mit ihren Sozialrevolutionären Verwirklichungen nicht zu warten, da sie sich nicht zur marxistischen Lehre bekannten. Lenin dagegen handelte im Widerspruch zur marxistischen Ideologie, ihm hätte Harich revolutionäre Ungeduld vorwerfen sollen. Sein Vorwurf fällt, wie ein Bumerang, auf den bolschewistischen Flügel der Marxisten zurück. In der Polemik gegen den Anarchismus ist seine Theorie eine stumpfe Waffe.

Originaltext: Zeitgeist Nr. 14/1971 (13. Jahrgang). Digitalisiert von www.anarchismus.at


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